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6

Katafa hatte während der Nacht kaum geschlafen. Taori ging von ihr. Er ging nicht weit, auch nicht für lange Zeit, aber immerhin war er doch auf das große Meer hinausgefahren. Für den Bewohner einer Koralleninsel ist das Riff die Grenze der Welt. Was jenseits liegt, ist unbestimmt, unsicher und von Gefahren erfüllt. Die verhältnismäßig große Ruhe und Stille der Lagune läßt das äußere Meer bedrohlich erscheinen, und selbst eine kurze Fahrt aus dem Hafen ist ein Unternehmen, das nur mit größter Vorsicht ausgeführt werden darf.

Aber selbst wenn es ein offensichtlich gefährliches Wagnis gewesen wäre, hätte Katafa nicht die Hand ausgestreckt, um Taori zu hindern. Das war eine Angelegenheit für Männer, mit der Frauen nichts zu tun hatten. So verzehrte sie sich in Gram und Kummer die ganze Nacht hindurch. Als das Schiff dann abfuhr, stand sie am Ufer und winkte. Sie beobachtete, wie die Kermadec die Lagune verließ, auf das Meer hinaussegelte und den Bug nach Norden wandte.

Das Schiff wurde kleiner und kleiner, so klein wie eine Seemöwe, die verloren über den unendlichen Wassermassen schwebte. Ebenso wie für Le Moan Karolin im Meer versank, so verschwand für Katafa allmählich der Schiffsrumpf. Eine düstere Ahnung kommenden Unheils stieg in ihr auf. Schiffbruch, Unfälle und quälender Durst mochten dem Geliebten drohen. An Le Moan dachte sie nicht.

Der Morgen ging hin, aber Katafa stand noch immer auf ihrem Korallenfelsen und schaute dem Schoner nach. Solange sie ihn sehen konnte, hielt er denselben Kurs. »Bald wird das Schiff wenden und zurückkehren«, sagte sie sich, als die Entfernung immer größer wurde und die Segel kleiner und kleiner aussahen. Schließlich verschwand die Kermadec unter dem Horizont, und Katafa strengte ihre Augen an. Nur kurze Zeit, dann würden die Segel wieder auftauchen, breiter und größer werden, und Taori würde zurückkommen, müde von der weiten Fahrt und erfüllt von Sehnsucht nach Katafa.

Aber die Segel tauchten nicht wieder auf. Die See hatte den Schoner mit seinen hohen Masten und Rahen verschlungen, das Meer hatte ihr Taori genommen und mit ihm ihr großes, vielleicht allzu großes Glück.

Katafas Herz wurde schwer. Wer konnte wissen, was die Götter ihm auf dem verlassenen Meer, unter dem schweigenden Himmel antaten?

Die Wogen, die von unendlicher Ferne her ans Ufer rollten, kümmerten sich nicht um ihren Gram. Sie hörte die Stimme des Schicksals aus der Brandung; der Himmel selbst schien ausgestorben, nur die eintönigen Schreie der Möwen waren zu hören.

Jemand näherte sich ihr. Es war Kanoa.

Katafa war gegen jedermann freundlich, und so war sie es auch zu Kanoa. Sie hatte ihn beobachtet, als er fern von den anderen saß, sie hatte gesehen, daß er melancholisch war, und ihn gefragt, warum er so traurig wäre.

»Ich denke an meine Heimat in Vana Vana«, log der junge Mann, »an alle die Bäume, an das Dorf und das Korallenriff. Und ich denke auch an die Tage meiner Jugend und an mein Volk.« Er sprach von den Tagen seiner Jugend und war doch fast noch ein Knabe!

»Du wirst wieder nach Vana Vana zurückkehren«, erwiderte Katafa.

»Ich will nicht mehr dorthin gehen. Ich bin wie jemand, der auf dem Meer verschollen ist, wie ein Geist, der nie wieder seinen Fuß in ein Kanu setzt, dessen Hand nie wieder ein Ruder hält.«

Nun wußte Katafa, daß er liebeskrank war. Aber wen er liebte, konnte sie nicht sagen. Auch hatte sie keine Zeit gehabt, ihn zu beobachten und das herauszubringen.

Als er jetzt näher kam, wandte sie sich zu ihm, und einen Augenblick vergaß sie in ihrem Zorn beinahe Dick und sein Schiff.

»Kanoa, wo hast du dich versteckt? Sie sind ohne dich aufs Meer hinausgefahren. Sie riefen nach dir, aber du kamst nicht, und sie konnten nicht länger warten. Du solltest ihnen helfen beim Segelspannen und bei der Arbeit an den Tauen. Wo hast du dich denn versteckt?«

»Ich war auf dem Fischfang.«

»Und wo sind die gefangenen Fische?«

»Ach, Katafa, ich habe mich versteckt, weil ich Le Moan nicht verlassen konnte. Sie ist die Sonne, die mein Leben erhellt, sie ist mein Herz und der Schmerz in meinem Herzen, sie ist mein Auge, und sie ist auch die Dunkelheit, die mich deckt, wenn ich sie nicht sehen kann. Ich will sie jetzt suchen und ihr sagen, was ich noch niemals gesagt habe. Und wenn sie ihr Gesicht von mir abwendet, will ich sterben.«

»Und wie willst du sie finden?« fragte Katafa. »Hast du denn Flügel wie eine Seemöwe? Weißt du nicht, daß sie mit den anderen auf dem großen Schiff fortgefahren ist?«

»Sie ist mit den anderen fortgefahren!«

Kanoa schien in sich zusammenzusinken. Sein Gesicht wurde grau, als er das Meer mit den Blicken absuchte. Auch er hatte beobachtet, wie das große Segelschiff langsam unter dem Horizont verschwand; sein Herz hatte frohlockt, daß Taori fern war, daß der Weg zu der Liebsten frei war. Und nun war Le Moan fortgefahren – mit Taori!

Er wandte sich ab, legte sich auf den Boden und vergrub das Gesicht in die Arme. Katafas Ärger verwandelte sich in Mitleid, als sie seinen Schmerz sah. Sie kam zu ihm und setzte sich neben ihm nieder.

»Sie wird zurückkehren, Kanoa, sie werden beide wieder zurückkommen. Taori, den ich liebe, und sie, die du liebst. Sie machen nur eine kurze Fahrt. Weil wir sie und das Schiff jetzt nicht mehr sehen können, trauern wir um sie. Aioma sagte, daß sie nicht weit fahren würden – ach, mein Herz zerbricht fast, während ich spreche, Kanoa, und meine Brust ist von Schmerz zerrissen. Sie sind von uns gegangen, und alles ist Dunkelheit. Ich werde ihn nicht wiedersehen – ich werde ihn nicht wiedersehen!«

Wie in der Nacht, in der Carlin ermordet wurde, erwachte der Mann in dem Knaben Kanoa, und er wuchs über sich selbst hinaus. Er sagte kein Wort von seinem heimlichen Verdacht, daß Le Moan Taori leidenschaftlich liebte, und wandte sich zu der heftig schluchzenden Katafa, um sie zu trösten.

»Sie werden wiederkehren, Aioma ist bei ihnen, es kann ihnen nichts geschehen. Sie werden zurückkehren, bevor die Sonne zur See niedersinkt, oder vielleicht sehen wir sie, wenn sie morgen in der Frühe im Osten aufgeht. Sei ruhig, Katafa. Wir wollen sie erwarten, du und ich. Geh jetzt und schlafe. Ich will hier wachen, und wenn ich sie sehe, laufe ich eilig zu dir. Und wenn ich schlafe, kannst du Wache halten, und so wollen wir sie mit unseren Blicken zu uns zurückziehen.«

Katafa weinte nicht mehr. Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf, hielt aber die Augen gesenkt. Sie war müde, weil sie die Nacht nicht geschlafen hatte, und sie lauschte den Worten Kanoas wie ein Kind, das sich trösten läßt. Ohne noch einmal aufs Meer zu sehen, ging sie zu den Bäumen.

Kanoa blieb am Ufer zurück und schaute sehnsuchtsvoll über die weite Wasserfläche.


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