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2

Die Kermadec hatte zwei Boote – den Vierruderer und ein kleines, schwarz angestrichenes Fahrzeug, das durch häufigen Gebrauch schon etwas unansehnlich geworden, sonst aber noch vollkommen intakt war. Später am Tage brachte Aioma die beiden Boote an die Küste, um sie zu reinigen und zu säubern.

Inzwischen waren die Überreste der vier toten Kanakas zur Zeit der niedrigsten Ebbe von den Frauen an die Meeresküste getragen worden. Nur die zertrümmerten Kanus und das stolze, große Schiff, das sich an der Ankerkette je nach Ebbe und Flut bewegte, erinnerten noch an die Tragödie, die sich auf der Lagune abgespielt hatte.

Es war spät am Nachmittag, und die Männer der Schiffsbesatzung, die von ihren Frauen für einige Zeit in Ruhe gelassen wurden, lagerten um Aioma, der an den Booten arbeitete. Auch Le Moan hatte sich in der Nähe niedergelassen, aber sie saß abgesondert von den übrigen, unter denen besonders Kanoas schlanke Gestalt auffiel.

Immer wieder kehrten seine Blicke zu Le Moan zurück, die den Worten Aiomas lauschte. Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß der hübsche, junge Mensch sie dauernd anstarrte. Poni, der Größte und Stärkste der Mannschaft, unterhielt sich mit dem alten Kanubauer; die beiden verstanden sich ganz gut, da Ponis Dialekt dem der Einwohner von Karolin sehr nahekam.

Aioma hatte Le Moan am Nachmittag mitgenommen, als er das zweite Boot holte. Aber es war nicht der Hauptzweck der Fahrt, das Boot zu holen. Vor allem wollte er allein mit dem Mädchen an Bord gehen, um von ihr alle Geheimnisse des Steuers und andere Dinge zu erfahren. Dann konnte er Taori darin unterweisen. An Land war er nicht eifersüchtig auf ihn, sondern unterstützte ihn in jeder Weise. Aber sobald es sich um Schiffahrt und Konstruktionsgeheimnisse handelte, kam es ihn sehr hart an, daß er, der alte, erfahrene Aioma, weniger wissen sollte als Taori oder daß er zugleich mit ihm erst alles von dem Mädchen hören sollte.

Deshalb machte er sich heimlich aus dem Staube, wenigstens weckte er Taori nicht, während die Bewohner des Dorfes in der frühen Nachmittagshitze schliefen. Er fuhr mit Le Moan und Kanoa fort, der ja nicht verheiratet war und in der Nähe schläfrig unter einem Baum gesessen hatte.

Kanoa ließ er zur Beaufsichtigung des Bootes zurück und stieg dann mit Le Moan an Bord.

Und nun erklärte sie ihm das Geheimnis des Kompasses, in dem die weißen Männer einen Geist eingesperrt hatten, und alle anderen Geheimnisse des Schiffes, auch den Zweck der Winde, mit der der Anker eingeholt wurde. Sie erzählte ihm, wie sie allein imstande gewesen war, den Schoner zu steuern, und sie zeigte ihm die rotierende Kompaßscheibe, deren Speer immer nach einer Richtung wies, ganz gleich, wie das Schiff lag.

Sie wußte zwar nicht, wie die weißen Männer daraus erkennen konnten, wohin sie steuern mußten; aber sie glaubte, der Gott müßte der Insel Karolin freundlich gesinnt sein, da er immer von ihr fortzeigte. Wenn sie ihm gehorcht hätten, wären sie auch nicht getötet worden, die Kinder von Nanu und Ona wären nicht gestorben, und Nanti wäre nicht verwundet worden. Er war der Junge, den Carlin zuerst getroffen und den Taori dann auf den Rücken in den Schutz der Bäume getragen hatte.

»Es ist nicht so gefährlich«, hatte Aioma noch an demselben Morgen gesagt. »Kinder sind eben Kinder, und Nanti wird die Sache bald überstehen. Er läuft schon wieder herum, und das Loch in der Hüfte wird sich wieder mit Fleisch füllen.« Aber seine Achtung vor dem Geist in dem Kompaßgehäuse stieg dauernd, und er folgte der Pfeilspitze mit den Augen. Sie zeigte ja unentwegt nach Marua, dem Land der Palmbäume! Dort wohnten doch die schlechten Männer, die nach Taoris Worten Karolin eines Tages überfallen würden.

Er beschloß, darüber später noch nachzudenken und wandte sich nun dem letzten Geheimnis zu – dem Gewehr, das noch an dem Aufbau des Deckfensters lehnte, wo Dick es am Morgen zurückgelassen hatte. Le Moan konnte ihm auch das erklären. Sie hatte einmal gesehen, wie Peterson einige Flaschen zerschoß, die er ins Meer geworfen hatte. Mit ihren scharfen Augen hatte sie genau beobachtet, wie die Patronen aus der Schachtel genommen und in die Kammer geladen wurden, wie man das Gewehr abschoß und die Patronenhülse herausnahm.

Sie ging zu dem Kücheneingang, wo Carlin die Reservemunition niedergelegt hatte, um sie gleich zur Hand zu haben, und kehrte mit einer halbvollen Patronenschachtel zurück. Aioma gebrauchte nun das Gewehr, wie Peterson es gebraucht hatte. Durch den Rückstoß erhielt er eine Beule an der Schulter, und die Explosion betäubte ihn fast. Aber er war unverletzt, und die Bewohner des Dorfes hatten auf die weite Entfernung hin nichts gehört. Nur ein paar Möwen erhoben sich vom Ufer. Aber es war großartig, daß er nun auch ein Gewehr abfeuern konnte. Der laute Knall und der Geruch des Schießpulvers entzückten ihn. Sie ließen das Gewehr an Deck, kehrten zum Ufer zurück und nahmen dabei das zweite Boot ins Schlepptau.

Und nun sprach Aioma, während er eifrig arbeitete, und sagte Poni und den anderen, daß der Aufenthalt und das Leben auf Karolin nicht nur in Müßiggang bestünde. Sie hätten vor allem die Pflicht, mitzuhelfen und mitzuarbeiten, da sie doch Frauen genommen hätten. Sie sollten die kleinen Purakafelder bestellen, Fische fangen und wieder als Besatzung des Schoners dienen. »Denn es gibt Dinge, die wir tun müssen jenseits des Riffs, in jener Gegend.« Einen Augenblick richtete er sich auf, wischte den Schweiß von der Stirn und zeigte in die Richtung. »Dort liegt Marua, die Insel der Palmbäume, auf der böse Männer wohnen. Vielleicht fahren sie mit ihren Kanus herüber – aber darauf kommt es jetzt nicht an. Diese Frage können wir nicht entscheiden, weder du noch ich. Nur Taori kann es tun.«

»Was du uns befiehlst, werden wir machen«, entgegnete Poni. »Wir sind keine Seekrabben, die davonlaufen, sondern Männer, Aioma. Was sagst du dazu, Kanoa?«

Der junge Mann lachte und sah zu Le Moan hinüber, dann schweifte sein Blick über die Lagune hin.

»Ich will auf den Purakafeldern arbeiten und Fische fangen, aber am liebsten wäre es mir, wenn ich meine Kräfte mit diesen bösen Männern messen könnte, von denen du eben erzählt hast, Aioma. Das ist Arbeit für einen Mann.«

Während er noch sprach, erzitterte plötzlich das ganz Riff, und die Luft hallte von langem Donnerrollen wider. Es war ein unbestimmter, unheimlicher Klang, der das Herz in der Brust erbeben ließ, denn er schien nicht aus der Luft zu kommen, sondern aus der Erde unter ihnen und dem Meer, dessen Wogen gegen die Küste brandeten.

Gegen Mittag hatte sich der Wind vollkommen gelegt; das Meer draußen war ruhig, und die Lagune glatt wie ein Spiegel. Die kleinen Wellen am Ufer plätscherten kaum merklich; die Flut war gerade zur Hälfte gestiegen.

Aioma schaute um sich; die anderen waren aufgesprungen. Poni lief zu einer höheren Stelle und sah auf das Meer hinaus.

Durch die Windstille tönten die schrillen Schreie der aufgestörten Möwen. Dann folgte ein unheimliches, grauenvolles Schweigen. Die Brandung am äußeren Rand des Riffs war fast verstummt.

»Das Meer weicht zurück«, schrie Poni erregt. »Es verläßt uns, es stirbt – es hat aufgehört zu sprechen!«

Als sie das hörten, sahen sie auch, wie das Wasser am Tor des Morgens nach außen strömte. Noch nie hatten sie erlebt, daß zur Zeit der halben Flut plötzlich Ebbe eintrat.

Aioma führte sie auf höher gelegene Stellen. Und dort standen sie und starrten auf das Meer hinaus.

Die große, blaue Wasserfläche glitzerte und glänzte unruhig und aufgewühlt, ohne daß sich ein Windhauch regte. Der gleichmäßige Rhythmus der Wogen war unterbrochen. Eine Welle schlug in die andere, und an der großen Karakabank schäumte der Gischt hoch empor. An der Küste konnte man sehen, wie weit das Meer zurückgewichen war. Im Osten bildeten sich weiße Schaumkämme auf dem sonst so fleckenlos blauen Wasser. Eine Flutwelle war nach Norden geströmt und traf dort auf Widerstand, so daß sie angehalten wurde.

Die Einwohner des Dorfes kamen entsetzt aus den Bäumen heraus. Die Frauen hatten ihre Kinder auf die Hüfte genommen, und die Knaben und Jünglinge trugen Speere und Bogen. Sie sahen nach links und nach rechts; eine Frau schrie plötzlich auf, dann trat wieder tödliche Stille ein. Alle Augen richteten sich auf Aioma.

Er stand reglos auf einer höheren Stelle des Riffs, als ob er aus Stein gemeißelt sei, und starrte auf die wilden Meeresfluten. Taori mochte wohl ihr Häuptling sein, aber sie kannten alle die Weisheit Aiomas von alters her. Da sie sahen, daß er ruhig blieb, waren auch sie zuversichtlich und warteten ab.

»Das Meer kommt zurück!« rief Poni plötzlich.

Und wirklich, das Wasser stieg wieder. Der Ausfluß am Tor des Morgens staute sich, und eine Welle brach sich an der äußeren Korallenküste. Die weißen Schaumkronen verschwanden, und an der Karakabank spritzte der Gischt nicht mehr zum Himmel auf.

Zusehends stieg das Meer wieder, der Rhythmus der brandenden Wogen ertönte aufs neue, und die Flut strömte weiter in die Lagune hinein. Die Leute beruhigten sich und atmeten erleichtert auf.

Es war vorüber.

Aber Aioma rührte sich nicht.

Dick, der mit den anderen aus den Bäumen herausgetreten war, stand neben Katafa. Er sah, daß der Schoner wieder seine alte Lage einnahm, und daß das Meer sein gewöhnliches Aussehen wiedergewonnen hatte. Alles war wieder in Ordnung.

Und trotzdem rührte sich Aioma nicht. Sein Blick war immer noch starr nach Norden gerichtet. Plötzlich wandte er sich um und sprang von den Korallenfelsen herunter.

»Auf die Bäume – auf die Bäume!« befahl er. Er glich jetzt nicht mehr einem Menschen, er glich einem Wirbelwind. Mit ausgebreiteten Armen jagte und trieb er die Leute zu den riesigen Stämmen.

»Auf die Bäume – auf die Bäume!«

Hunderte von Stimmen wiederholten den Ruf, der überall widerhallte. Gleich darauf waren das Ufer und das Riff leer. Die Bewohner von Karolin hatten sich gleichmäßig auf den Bäumen verteilt. Einige hatten sofort die nächsten genommen, andere waren weitergelaufen und hatten die großen Stämme erreicht, aus denen die Kriegskanus gebaut wurden.

Sie kletterten nicht nach unserer Art. Diese Leute können wie die Einwohner von Tahiti buchstäblich mit gebeugtem Körper einen Baum hinaufgehen. Sie halten sich mit den Händen am Stamm an und gehen mit den Füßen an der Rinde empor.

Auch Katafa verstand das ausgezeichnet. Dick war weniger darin erfahren, aber er war ein guter Kletterer. Er ließ sie zuerst hinaufsteigen, dann faßte er noch ein Kind und setzte es auf seinen Nacken, bevor er ihr folgte. Der kleine Junge schrie und lachte vor Vergnügen.

In etwa achtzehn bis zwanzig Meter Höhe klammerten sie sich an und hielten Umschau.

Von Osten nach Westen, von einem Horizont zum anderen erstreckte sich quer über das Meer eine weiße Schaumwelle, schön, seltsam und unendlich.

Unaufhaltsam drängte sie vorwärts und näherte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit.

»Amiana! – amiana! – Die Welle – die Welle!« schrien die Leute plötzlich von Baum zu Baum.

Jetzt hatte sie den Karakafelsen erreicht, und ungeheure, gespenstisch weiße Gischtmassen spritzten zur Sonne empor. Kurz darauf ertönte ein donnerähnliches Geräusch. Die Möwen erhoben sich in Wolken und Spiralen. Die gigantische Woge ließ die Karakabank hinter sich, schloß sich von neuem und schoß direkt auf die Insel zu. Als sie sich näherte, wich das Wasser wieder vom Ufer zurück, und dann brach sie wie ein Orkan über das Riff, fegte die Häuser weg und überflutete die Lagune.

Die Bäume blieben stehen, obgleich die Woge über zehn Meter hoch an den Stämmen emporschlug. Aioma war unerschrocken. Er dachte nur an den Schoner und atmete erlöst auf, als er sah, daß dem Schiff nichts geschehen war. Die große Gewalt der Welle war durch das Riff gebrochen worden und hatte ihm nichts anhaben können. Aber wieder tönten die Rufe von Baumkrone zu Baumkrone: »Amiana! – amiana! – Die Welle! – die Welle!« Eine zweite Woge folgte der ersten. In langer Linie lief sie über das Meer hin. Wieder kam der große, grüne Wasserberg näher, saugte die Wellen von der Küste weg, sog sie auf und brach sich dann an dem langen Riff.

Die Balken der zerstörten Häuser schlugen krachend gegen die Bäume. Dann stürzte ein großer Matamatastamm zusammen. Er war als Zufluchtsort nicht so sicher wie die schlanken Kokosnußpalmen. Die Leute, die sich darauf geflüchtet hatten, waren unversehrt geblieben und kletterten darauf entlang zur Küste zurück, als von neuem der Verzweiflungsruf erschallte:

»Amiana! – amiana! – Die Welle! – die Welle!« Die dritte große Wasserwoge wälzte sich heran. Sie glänzte, leuchtete und sprühte wie Kristall, und sie nahte mit derselben unheimlichen Geschwindigkeit wie die anderen.

Aber nun warteten die Leute nicht länger ruhig auf die Gefahr. Der Anblick dieses dritten großen Wasserberges brach ihren Mut. Welchen Frevel hatten sie gegen das Meer begangen, daß es ihnen das antun konnte? Ihre Häuser waren zerstört, die Bäume begannen zu stürzen; sie würden vernichtet werden, und dann würde ihnen auch das Riff in die Tiefe folgen. Denn was konnte der Macht des Meeres oder den düsteren Gewalten widerstehen, die diese großen, glänzenden Wogen gegen die Insel sandten, eine mächtiger als die andere? Wie viele Wogen würden noch kommen?

Als sich das Wasser beim Herannahen der dritten Welle zurückzog, übertönten die erschütternden Klagerufe der Bewohner von Karolin die angstvollen Schreie der Möwen. Kinder, Frauen, Jünglinge und Männer, alle jammerten laut. Nur Le Moan, Katafa, Dick und Aioma waren still. Der alte Mann war getröstet über das Schicksal des großen Schoners und fand weder Zeit noch Worte, um die Schwächeren zu beruhigen, als sich die Wassermassen zum drittenmal donnernd und gewaltig über dem Riff brachen. Wieder rauschte das Wasser über die Küste, aber die Bäume blieben ungebrochen. Dann wurde es still, so daß alle Aiomas Stimme hören konnten.

Er schimpfte seine Landsleute mit gemeinen Worten aus, die man nicht wiederholen kann, und dadurch brachte er sie wieder zu sich. Er rief ihnen zu, daß das Schlimmste vorüber wäre. Sie sollten auf das Meer hinaussehen.

Und er hatte recht. Keine vierte Linie zeigte sich auf der blauen, weiten Meeresfläche. Nur war das Wasser noch unruhig, und die weißen Wogenkämme brachen sich mit größerer Kraft an dem langen Riff.


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