Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Dick war der erste, der von den Bäumen herunterkletterte. Katafa folgte ihm. Er wäre beinahe auf das Rückgrat eines großen Fisches getreten und betrachtete ihn erstaunt, denn er hatte noch nie ein Tier dieser Art gesehen. Der Fisch war größer als ein ausgewachsener Mann und hatte sich in dem Buschwerk verfangen.

Unheimliche Verwüstung zeigte sich überall. Die großen Kanuhäuser waren fortgespült; die Palmblätter, mit denen sie gedeckt waren, und die Sparren trieben auf der Lagune umher. Auch die Hütten des Dorfes waren dem Erdboden gleichgemacht. Fort waren die einfachen Einrichtungsgegenstände, die Matten, die Schalen und die seitlichen Ständer, die Messer und Gerätschaften, aller geschnitzte Zierat an den Windbrettern der Dächer. Weggefegt waren auch die kleinen Schiffsmodelle und alle Dinge, die Dick und Katafa von der Insel der Palmbäume mitgebracht hatten. Und der gute Gott Nan grinste nicht mehr wie früher von seinem Pfosten herunter.

Die drei großen Wogen hatten auch das stolze Haus von Uta Matu fortgespült; nichts hatte ihnen standhalten können. Alle sichtbaren Spuren der Ansiedlung auf Karolin waren verschwunden. Aber die Leute murrten nicht. Sie lebten, und die Bäume waren gerettet. Die Trümmer der Häuser konnten sie wieder aus der Lagune fischen und neue Hütten damit bauen. Bis Sonnenuntergang hatten sie noch drei Stunden Zeit, und unter Führung Aiomas begannen sie sofort, alles aufzusammeln, was in der Nähe zu finden war. Messer und Geräte entdeckte man in den Ritzen der Korallenfelsen, Matten hatten sich um die Baumstämme geschlungen. Die Regenzeit war noch weit entfernt, und bei dem trockenen, heißen Wetter war ein Aufenthalt im Freien ohne Dach nichts Unangenehmes. In wenigen Wochen würden sie die Häuser wieder aufgebaut haben. Der einzige Schlag, der sie schwer traf, war die Zerstörung der Purakafelder. Sie waren vollkommen ausgewaschen. Aber am südlichen Ufer wuchsen Purakapflanzen wild, so daß sie die Felder wieder anlegen konnten. Und dann hatten sie ja auch den großen Fisch, den ihnen das Meer als Geschenk zurückgelassen hatte.

Nicht einer von ihnen fragte, warum das alles geschehen war. Nur Dick sprach mit Aioma darüber.

»Ich weiß es nicht«, sagte der alte Mann. »Aber als ich dort auf dem Korallenfelsen stand, fühlte ich im Innersten, daß das Meer nicht aufgehört hatte zu sprechen. Ich sah die fernen Wellen und rief den Leuten zu, daß sie auf die Bäume klettern sollten.« Von den kleinen Schiffsmodellen fand sich keine Spur mehr. Sie waren für immer verschwunden. Dick wurde von diesem Verlust schwer getroffen, denn sie waren ein Teil seines Lebens gewesen. Er ließ Aioma allein, setzte sich unter einen Baumstamm und brütete vor sich hin, während die Dunkelheit hereinbrach.

Die Hitze hatte die Feuchtigkeit bald wieder getrocknet. Die Schlafmatten waren nicht mehr naß und wurden an die Stelle gelegt, wo Uta Matus Haus gestanden hatte. Aber Dick fühlte nicht den Wunsch, zu schlafen.

Die Sterne tauchten am Himmel auf und erstrahlten allmählich in immer hellerem Licht.

Le Moan hatte keine Schlafmatte haben wollen. Sie hatte sich fortgeschlichen in den Schatten der Bäume und lehnte nun mit dem Rücken an einem Stamm. Von dort aus konnte sie aufs Meer hinausschauen, und vor allem konnte sie Taori sehen, der noch immer düster brütend vor sich hinstarrte. Sie sah auch Katafa, die auf ihrer Matte lag und auf ihn wartete.

Die Worte der Cassiblumen lebten in Le Moans Seele, dieser Seele, die so zart und unergründlich und doch so stark und kraftvoll war. Seit jener Nacht war eine seltsame Ruhe und Sicherheit über Le Moan gekommen, so daß sie der Gedanke an Katafa nicht einmal eifersüchtig machte. Ihre tiefe, leidenschaftliche Liebe konnte nicht rechten und Vernunftgründe anführen, sie konnte nur sagen: »Er ist mein, neben mir verblassen alle anderen Dinge – ich muß nur warten, bis meine Zeit kommt.«

Katafas Liebe zu Taori hatte alle Träume Le Moans zerstört, aber aus den Trümmern erstand ein großer, starker Entschluß.

Kanoa lag zwischen den Bäumen. Er hatte sich auf den Ellbogen gestützt und beobachtete Le Moan. Ihr Kopf zeichnete sich deutlich als Schattenriß von dem hellen Meer ab.

Kanoas Gemüt war in wildem Aufruhr. Er kannte keine Ruhe und Sicherheit wie Le Moan. Obwohl er sie gerettet hatte, sagte ihm doch sein Herz, daß sie ihm fremd und fern war. Sie hatte keine Augen für ihn, und wenn sie ihm auch nicht gerade aus dem Weg ging, so hätte er doch ein Baum oder ein Fels sein können, so wenig Eindruck machte seine Anwesenheit auf sie. Wenn sie doch nur ein einzigesmal auf ihn schauen würde, wie sie auf Taori schaute, wenn sie nur ein einzigesmal merken lassen würde, daß sie ihn erkannte, dann würde seine Schwäche sich in Stärke verwandeln und seine Sehnsucht in glühende Leidenschaft.

Als der Mond höher stieg, sank Le Moans Kopf tiefer. Sie hatte sich niedergelegt. Auch Kanoa wandte sich nun zur Seite und schloß die Augen, aber er konnte keine Ruhe finden, denn der Kummer nagte an seinem Herzen.

Dick erhob sich, richtete sich auf, streckte die Arme empor und wollte zu Katafa gehen. Aber als er einen Schritt getan hatte, blieb er wieder stehen und schaute gebannt über das Meer nach Norden. Eine langgestreckte, drohende Wolke, unheimlich vom Mondlicht beschienen, durchschnitt den Himmel von Osten nach Westen.

Nein, es konnte keine Wolke sein, es hing zu tief. Es war etwas anderes – es breitete sich aus und zog sich zusammen, es hob sich in die Höhe und sank wieder in die Tiefe.

Dick rief Katafa zu sich; seine Stimme schreckte auch Kanoa auf, und dieser wiederum rief Poni. Eine Minute später starrten alle Bewohner von Karolin auf dieses neue Wunder. Niemand wußte es sich zu erklären, die Frauen sprachen aufgeregt miteinander, aber schließlich rief ein Mann so laut, daß er alle anderen übertönte:

»Möwen!«

Sie atmeten erleichtert auf.

Möwen, nur Möwen. Tausende und Abertausende flogen in einer großen Formation.

Aber was trieb denn die Seevögel hierher?

War es ein gewaltiger Sturm, der von Norden kam?

Nein, der Himmel war im Norden vollständig klar, und die Leute, die das kommende Wetter schmecken und fühlen konnten, merkten nichts von einem aufziehenden Unwetter.

»Seht doch!« rief Kanoa.

Die große Formation hatte sich geändert. In einem großen Bogen flogen die Möwen von Osten heran. Die weite, mondbeschienene Fläche auf dem Meer wurde kleiner und kleiner, bis man nur noch die große Wolke der Vögel sah, die direkt auf Karolin zusteuerten, mitten durch die Nacht, wie ein Pfeil auf die Scheibe.

Jetzt war auch ihr Schwingen und Flügelschlagen zu hören. Es klang wie das Pochen eines Pulses. Und nun erhoben sich plötzlich am ganzen Riff entlang die wilden Schreie der Möwen von Karolin. Herausfordernd warfen sie ihre Rufe den Neuankömmlingen entgegen, die jedoch stumm blieben und nur mit dem Rauschen ihrer Schwingen antworteten.

Die Möwen von Karolin wußten, was den Menschen verborgen war. Sie wußten, daß fern auf der See eine große Heimat für die Meervögel verschwunden, daß eine Insel in den Wellen untergegangen war, wie in vergangenen Zeiten die Kingsman- und die Dindsay-Insel im Meer versunken sind und wie in Zukunft der Stille Ozean wohl noch manches andere Opfer fordern wird. Sie wußten, daß dies ein feindliches Heer war, das einen Angriff auf ihr Heim machen wollte, um hier neue Lebensmöglichkeiten zu finden. Sie wußten, daß die Gewässer von Karolin und die Brutplätze für sie und die Fremden nicht ausreichten und daß der Augenblick der Entscheidung gekommen war, der einmal an alle Lebewesen, Menschen und Tiere, herantritt. Als ob ein Gehirn sie lenkte, erhoben sie sich in einer großen, ringförmigen Wolke und flogen nach Süden, um ihre Heimat zu verteidigen.

Währenddessen waren die fremden Möwen beinahe über der Klippe angekommen. Sie machten eine Schwenkung, wandten sich nach Westen und stiegen in einer Spiralkurve zu größeren Höhen. Auch sie stießen jetzt gellende Schreie aus, die von den Möwen im Süden erwidert wurden.

»Seht doch!« rief Aioma.

Die Möwen von Karolin kehrten zurück. Sie hatten sich zu größerer Höhe hinaufgeschraubt. Ein Windstoß schien sie träge über den Himmel zu treiben, und ein Windstoß schien die beiden feindlichen Scharen in Schlachtordnung zu bringen. Wie zwei große, wirbelnde Kreise schwebten sie einige Augenblicke über der Lagune, dann begann der Kampf. Sie trennten sich, stießen auf den Feind, sammelten sich wieder und stürzten von neuem aufeinander los. Tote und verwundete Möwen sanken wie Schneeflocken auf die Lagune nieder. Ihre heiseren Schreie gellten durch die Stille der Nacht und weckten von einem Riff bis zum anderen ein schauerliches Echo. Bald verdunkelten die Vögel den Mond wie schwarze Wolken, bald hingen sie am Himmel wie weißgrauer Rauch.

Manchmal näherte sich die Schlacht dem südlichen Ufer, aber nur, um mit erneuter Gewalt wieder nach Norden vorzubrechen.

Die beiden großen Scharen kämpften nicht wie eine Menge einzelner Vögel miteinander, sondern wie zwei Individuen, die die Kräfte der Gesamtheit in einen Willen konzentrierten.

Und dann brach der Kampf plötzlich ab, als ob eine Trompete das Signal gegeben hätte. Die Wolken teilten sich – die eine blieb über dem Riff, die andere entfernte sich nach Südosten.

Ob sie dort eine neue Heimat fanden? Ob sie ein Opfer der Wellen wurden? Niemand wußte es. Und niemand konnte sagen, ob die Möwen von Karolin gesiegt hatten oder die fremden Vögel, die von Norden gekommen waren.


 << zurück weiter >>