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5

Ohne sich umzusehen, steuerte Le Moan zu der südlichen Bucht. Links von ihr brach sich die Flut am Tor zum Meer und brauste um die Korallenbänke. Die Brise wirbelte die Seemöwen wie Schneeflocken umher. Rechts dehnte sich die Lagune bis in weite Ferne, und vor Le Moan lag die einsame Küste mit dem verfallenen Dorf und der Dschungel der Pandanusbäume.

Sie zog das leichte Kanu so weit zum Ufer, daß die Flut es nicht erreichen konnte, wandte sich dann nach rechts, ging an den Bäumen vorbei und kletterte auf das Korallenriff. Einen Augenblick sah sie nach Süden auf das weite Meer hinaus, dann drehte sie sich um und schaute über die Lagune hinweg zu der fernen Nordküste mit den großen Matamatabäumen.

Die Flut war beinahe auf ihrem Höhepunkt angelangt und die Lagune fast vollständig gefüllt. In einem wundervollen Farbenspiel von zartem Blau, Amethyst und Kobalt drängten die Wogen durch die Öffnung im Korallenriff. Le Moan hörte, wie die Wellen dagegen schlugen, sie hörte die Schreie der Möwen, und sie fühlte die große Stille des Meeres, die bis zu den fernen, weißen Wolken drang.

Sie war allein, aber das war nichts Neues für sie, denn sie war schon immer allein gewesen. Nie hatte sie sich den drei alten Männern oder den Frauen und Kindern angeschlossen, die von dem südlichen Stamm übriggeblieben waren. Zwar hatte sie mit ihnen gefischt, ihnen beim Kochen und Mattenflechten geholfen, auch mit ihnen gesprochen und bei ihnen gewohnt, aber in gewisser Weise sich von ihnen abgesondert und ferngehalten.

Es war vielleicht der Unterschied der Rasse, der sie einsam machte. Sie verließ sich auf niemand, nur auf sich, und sie besaß die Gabe, sich ganz in sich selbst zu versenken, wenn sie in das klare Wasser schaute. So war es auch an jenem Tag gewesen, an dem sie Dick zum erstenmal gesehen hatte. Auch wenn sie in weite Fernen blickte, konnte sie sich vollkommen vergessen und verlieren. Der wunderbare Orientierungssinn, den sie mit den Seemöwen gemeinsam hatte, war vielleicht weniger durch Instinkt als auch Erfahrung begründet, denn Le Moan stand dauernd in Berührung mit dem Meer, der Sonne und den Sternen. Sie sah Wind, kommende Stürme voraus und die Änderung der Meeresströmungen, die die großen Tigerhaie in die Lagune brachte, den Kurs der Seebarben änderte und die Palufische weit nach Norden abtrieb.

Eine Weile stand sie und schaute nach Norden, dann ging sie zu den verlassenen Häusern zurück und bereitete sich eine Mahlzeit. Nachher waren Leinen auszubessern und das Purakafeld zu säubern. Und dann ging die Sonne unter, die Sterne glänzten am Himmel auf, und die Welt versank in tiefen Schlaf.

Hätte Le Moan auf ihre Vergangenheit zurückgeblickt, so hätte sie eine Aufeinanderfolge schöner Tage gesehen, nur unterbrochen von Regenzeiten und Stürmen. In ihren nächtlichen Träumen war bisher nie eine menschliche Gestalt aufgetaucht; aber in dieser Nacht sah sie im Schlaf ein geisterhaftes Kanu, in dem ein Mann über die schimmernde Lagune zu ihr ruderte.

Als das Licht des letzten Sternes erlosch, verschwand die Vision. Le Moan erwachte plötzlich, und Furcht packte ihr Herz. Ihre Augen öffneten sich weit, obwohl sie noch schlaftrunken war.

Sie richtete sich auf. Die Morgendämmerung brach herein, und die Seemöwen flogen auf das Meer hinaus. Trotz der Brandung am äußeren Korallenriff hörte sie ihre Rufe und Schreie. Sonst vernahm sie kein Geräusch, obwohl sie angestrengt lauschte und den Blick auf den großen, hellen Streifen am östlichen Himmel richtete, wo die Seemöwen umherwirbelten wie welke Blätter, die vom Wind getrieben werden.

Nichts. Die Seebrise bewegte die Blätter der Brotfruchtbäume und die Wedel der Pandanuspalmen, dann ließ sie nach und legte sich ganz. Der Wind schlug um und wehte vom Lande her. Die am höchsten fliegenden Möwen wurden am Himmel sichtbar; die Lagune verlor das geisterhafte Aussehen und nahm Form und Farbe an.

Le Moan erhob sich und schaute über den weiten Seespiegel. Nichts. Sie wandte sich um und ging zwischen den Bäumen hindurch zu der äußeren Korallenküste. Und draußen auf dem gespenstischen Meer, das im fahlen Licht der Morgendämmerung vor ihr lag, sah sie ein Schiff.

Jahre vor ihrer Geburt war der große spanische Segler zerstört worden, aber sie hatte erlebt, daß ein Walfischfänger in die Lagune eingelaufen war. Die Leute hatten Holz gefällt und frisches Wasser an Bord genommen. Uta Matu, der Häuptling von Karolin, hatte sie angegriffen, aber wie durch ein Wunder waren sie auf das Meer entkommen.

Uta wollte das fremde Schiff ebenso versenken wie den Spanier, denn trotz all seiner Unwissenheit hatte er das instinktive Gefühl, daß der weiße Mann der Feind und Fluch des braunen Mannes ist und daß das Vordringen der Zivilisation den Tod für die Eingeborenen bedeutet.

Le Moan erinnerte sich noch dunkel an den Kampf und die Flucht des Walfischfängers. Und nun kam wieder ein Schiff. Es sah ganz anders aus als der Walfischfänger, aber es weckte in ihr sofort ein Gefühl von Feindschaft und Furcht.

Das Schiff, das sich während der Nacht der Insel genähert hatte, war ein Schoner, und als nun die große Sonne höher und höher stieg und ihr blendendes Licht über den Horizont sandte, beobachtete Le Moan mit klopfendem Herzen, wie es immer herrlicher in den brandroten Strahlen aufleuchtete. Ein Segel nach dem anderen tauchte in die feurige Flut, bis auf dem blauen Meer ein schlankes, goldenes Fahrzeug daherzukommen schien.

Als das Schiff den Kurs änderte, erschlafften die Segel, und ein Boot wurde niedergelassen. Die Männer richteten ein Segel darin auf, und Le Moan sah deutlich, daß es auf die Einfahrt im Osten zusteuerte. Sie lief zu den Bäumen zurück, blieb einen Augenblick dort stehen und preßte die Hand gegen die Stirne. Ihr Geist war in Aufruhr, aber ihre Gedanken drehten sich nur um den einen wichtigen Punkt – Taori.

Hier nahte Gefahr. Die Erinnerung an die früheren Ereignisse unterstützte ihren sicheren Instinkt, der ihr ohne Kompaß oder Sterne sagte, wo Norden und Süden lagen. Ihr Instinkt hatte sie auch am frühen Morgen geweckt und die Furcht in ihr Herz gesenkt.

Hier war Gefahr für Taori. Le Moan erinnerte sich nicht nur an Uta Matus Kampf gegen den Walfischfänger, sondern auch an die Worte, die Taori zu Aioma gesprochen hatte. Er hatte von den bösen Männern auf Marua erzählt und gesagt, daß man Kriegskanus bauen müßte und daß die jungen Männer von Karolin bald kräftig genug sein würden, den Speer zu schwingen.

Aber die Kanus waren noch nicht fertig und die jungen Leute nicht geübt. Und nun tauchte plötzlich aus dem Nichts dieses große Kanu auf mit Segeln, die sich bis zum Himmel türmten. Uta Matu, seine Krieger und seine Boote waren verschwunden, und Taori war nicht vorbereitet. Le Moan verglich das kleine Boot, das auf die Einfahrt in die Lagune zusteuerte, unwillkürlich mit dem Pilotfisch, dem Vorläufer der Tigerhaie. Es würde in die Lagune kommen, und wenn es dort lohnende Beute fand, würde der große Haifisch folgen.

Das Dorf an der nördlichen Küste war vom Tor des Morgens aus nicht zu sehen. Uta Matu hatte die Hütten geschickt zwischen die Bäume gebaut, so daß die Ansiedlung verborgen blieb. Daran erinnerte sie sich.

Ein großer Entschluß flammte in Le Moan auf. Sie wollte Taori retten.

Rasch trat sie aus den Bäumen, lief zu der inneren sandigen Küste und eilte auf das Tor des Morgens zu, um die Aufmerksamkeit der Leute im Boot auf sich zu lenken.

Wie ein Vogel einen Menschen von seinem Nest fortzulocken sucht, um das Liebste zu schützen, ganz gleich, was ihm selbst geschehen mag, so versuchte Le Moan, den Mann zu retten, den sie liebte. Sie fürchtete sich nicht mehr und stürzte sich in die Ungewißheit, die grauenvoller war als sicherer Tod.

Sie war kaum hundert Meter gelaufen, als das Boot durch das Tor des Morgens segelte. Seine Fahrt wurde beschleunigt durch die hereinströmende Flut. Le Moan warf die Arme in die Luft und beobachtete dann, wie es den Kurs änderte und direkt auf sie zusteuerte. Es war ein gewöhnliches, weißgestrichenes Schiffsboot mit einem Mast und einem Loggersegel.

Le Moan wartete wie gelähmt auf ihr Schicksal. Jetzt konnte sie unterscheiden, daß vier Leute in dem Fahrzeug saßen – drei Kanakas, deren nackte braune Schultern über dem Rand des Boots zu sehen waren, und ein großer Mann mit einem schwarzen Bart und einem breiten, weißen Strohhut. Sein dunkles Gesicht hob sich davon ab wie das Gesicht des Königs der Schrecken.

Sein Hemd stand am Hals offen, und er hatte die Ärmel aufgerollt, so daß sie seine weißen Arme sehen konnte, die jedoch von schwarzen Haaren bedeckt waren. Als das Boot ans Ufer stieß, sprangen die Kanakas heraus. Le Moan beachtete sie kaum. Ihr Blick ruhte auf dem großen Mann, der jetzt an der Küste stand. Es war Colin Peterson, einer der letzten Sandelholzhändler, Kapitän und zum Teil Eigentümer des Segelschoners Kermadec.

Der »schwarze Peterson« sah furchterweckend aus. Er schlug schnell zu, wenn der Zorn ihn packte, aber im Grunde seines Herzens war er gutmütig und aufrichtig.

Hätte die arme Le Moan es nur gewußt!

Er ließ den Blick über die leeren, halbverfallenen Häuser und über das verlassene Ufer gleiten, dann sah er das Mädchen an und sprach zu ihr mit Worten, die sie nicht verstand.

»Sru!« rief er schließlich.

Ein Kanaka trat vor, ein gelbbrauner Paumotu, der auch melanesisches Blut hatte. Das sah man an den scharfen Gesichtszügen und den kleingekräuselten Locken. Er trug eine Halskette aus kleinen Muscheln. Nachdem er kurz mit Peterson gesprochen hatte, wandte er sich an Le Moan, und als er sie anredete, verstand sie ihn. Die Sprache auf Karolin war die Sprache der Paumotus; in früherer Zeit hatten die Bewohner der ferner gelegenen Inseln Karolin überfallen und geplündert. Und in noch weiterer Vergangenheit waren die ersten Bewohner Karolins Paumotus gewesen. Aber weder Le Moan noch Sru wußten, daß dadurch eine Verständigung zwischen ihnen möglich wurde.

»Ich bin hier allein«, antwortete Le Moan. »Meine Leute sind alle fort – in einem Sturm sind sie umgekommen. Es ist niemand mehr hier.« Während sie das sagte, schaute sie zu dem fernen nördlichen Ufer. Sie fürchtete, daß Taori zum Fischfang ausfahren könnte. Wenn er sich den Leuten zeigte, war er verloren. Aber sie sah ihn nicht; in der Ferne waren nur die Bäume im hellen Sonnenschein zu erkennen.

Das Schiff auf dem Meer lag zu weit ab und wurde von dem südlichen Riff verborgen, so daß die Leute am Nordufer es nicht sehen konnten. Taori würde mit dem Bau der Kriegskanus beschäftigt sein. Aber die Sorge um ihn trieb Le Moan dazu, automatisch wie ein Papagei dauernd die Worte zu wiederholen: »Es ist niemand hier außer mir – die Leute von meinem Volk sind alle fort – ich bin hier allein.« Während sie sprach, beobachtete sie Peterson von der Seite. Zum erstenmal sah sie einen Mann mit einem lockigen, schwarzen Bart, der ihm fast bis zu den Augen reichte und ihm das Aussehen eines Ungeheuers gab.

Die Kanakas nahmen zwei große Wasserbehälter aus dem Boot und füllten sie langsam an der Quelle.

Colin Peterson schaute ihnen zu. Er hatte sich halb von Le Moan abgewandt und schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben. Dann sah er über die Lagune, aber er dachte weder an die Kanakas noch an die Lagune. Er verwünschte Le Moan.

Dieses Mädchen konnte er durchaus nicht gebrauchen. Um Wasser zu holen, war er an die Küste dieser Insel gekommen, die auf der Karte nicht verzeichnet war. Er hatte wohl damit gerechnet, daß er Eingeborene hier treffen würde, aber niemals, daß er vor solch eine Situation gestellt werden könnte. Es war unmöglich, dieses verlassene Geschöpf seinem Schicksal zu überlassen, aber was sollte er an Bord der Kermadec mit dem Mädchen tun? Wäre es ein Mann oder ein Junge gewesen, so hätte man die Frage einfach genug lösen können – aber ein Mädchen? Wenn er sie von hier mitnahm, mußte er irgendwo bei den Kanakas auf einer der nördlichen Inseln eine neue Heimat für sie suchen. Er wollte Amoa ansteuern, aber dieser Platz eignete sich nicht dazu; die Bewohner waren schlecht und böse.

Le Moan beobachtete den grauenerregenden Fremdling und glaubte, daß er nach Taori suchte.

Würde er ihre Geschichte glauben? Würde er sie umbringen? Alte Geschichten von den fürchterlichen Papalagi tauchten in ihrer Erinnerung auf und flatterten wie wirre Fledermäuse durch ihr Gehirn. Aber sie kümmerte sich nicht darum, ob er sie töten würde oder nicht. Wenn er nur glaubte, was sie sagte, und die Insel verließ, ohne Taori ein Leid zu tun.

Als das letzte Wasserfaß ins Boot geladen war, wandte sich Peterson plötzlich an Sru und rief ihm zu, daß er das Mädchen an Bord bringen sollte. Wenn Peterson bestützt war, schimpfte und fluchte er, und Sru folgte dann eilig den Befehlen seines Herrn. Nur zu gut wußte er, daß es sonst leicht Schläge mit einem Schiffstau gab.

Er packte Le Moan am Arm und schob sie zum Boot. Einen Augenblick setzte sie ihm Widerstand entgegen, dann ergab sie sich in ihr Schicksal und taumelte in das Fahrzeug. Vor dem Mast kauerte sie sich nieder und sah wie im Traume die muskulösen Schultern und Arme der Kanakas, die das Boot ins Wasser stießen. Die Männer kletterten an Bord, der Kiel löste sich vom Sand, und der Wind faßte das Segel über ihrem Kopf, so daß es sich hell leuchtend gegen den dunkelblauen Himmel blähte. Die südliche Küste entschwand Le Moans Blicken mehr und mehr, als sie auf das Tor des Morgens zusteuerten. Aber immer wieder wanderten ihre Augen zu der fleischigen, großen Hand Petersons, der hinten im Boot saß. Er hatte das Steuerruder in den Ellbogen geklemmt und schaute auf Le Moan und über sie hinweg.

Hätte Peterson Le Moan am Ufer getötet, so hätte sie ihr Los auf sich genommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und auch jetzt, als das Boot durch das Tor des Morgens steuerte und Karolin langsam ihren Blicken entglitt, blieb sie ruhig und klagte nicht. Es war ihr, als ob sie in eine neue Welt käme, die keine Beziehung zu ihr hatte. Als sie an der Seite des weißgestrichenen Schiffes anlegten, sah sie hinauf zur Reling. Die Leiter war heruntergelassen, und die großen Segel an den Masten zitterten im Wind. Oben standen braune Männer und sahen auf das Boot hinab. Le Moan sah Rantan, den Schiffsmaat, und Carlin, einen heruntergekommenen Europäer und Strandräuber, den der Kapitän in Sorna an Bord genommen hatte und der seine Fahrt nach Norden durch Arbeit abverdiente.

Kurze Zeit später stand Le Moan an Deck. Es erschien ihr so breit und so weiß wie die Küste. Die Neuartigkeit ihrer Umgebung wirkte belebend und nahm etwas von der Erstarrung, die über sie gekommen war. Wenige Minuten vorher war sie noch in dem kleinen Boot gefahren, und die weite See hatte alles bedeutet; aber hier galt die See nichts und das Schiff alles. Taori, Karolin, die Korallenküste, ja selbst der Ozean versanken in diesem Moment gegen den Anblick der mächtigen Kermadec.

Nach den ersten Worten, die Peterson zu dem Maat gesprochen hatte, kümmerte sich kein Mensch mehr um sie. Die Leute hatten alle Hände voll zu tun, um das Boot wieder einzuholen. Dann hörte das Klatschen der Segel auf, denn sie füllten sich mit Wind, und die Möwen begleiteten die Kermadec, als sie Kurs aufs weite Meer nahm.

Le Moan fühlte sich unbeachtet und trat vorsichtig an die Reling. Sie sah die Korallenküste und in der Ferne die Bäume von Karolin. Die Seemöwen, die dem Schiff das Geleit gegeben hatten, flogen jetzt nach Norden und nach Süden, als ob sie die Jagd aufgäben. Dann verschwand die Insel, und die flache Küstenlinie war in dem blendenden Sonnenlicht nicht mehr zu sehen. Das Rauschen der Brandung am Riff und die Schreie der Möwen wurden schwächer und erstarben allmählich, während die Wipfel der Bäume vergeblich gegen die ständig wachsende Entfernung ankämpften und schließlich auch vom Horizont verschlungen wurden.


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