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9

Als Rantan in das Fischerkanu gelegt wurde, konnte er nur die rohbehauenen Innenseiten des Bootes sehen, an denen ab und zu eine Fischschuppe in der Sonne glänzte, die Stangen, die zum Ausleger führten, den blauen Himmel und die Köpfe der Menge, die sich am Ufer versammelt hatte.

Hätte er sich etwas aufgerichtet, so hätte er die beiden toten Kinder bemerken können, die an das Gestänge des Auslegers gebunden waren. Aber er konnte sich nicht rühren, und er hatte auch nicht den Wunsch, es zu tun.

Er kannte die Südseeinseln; er hatte gehört und verstanden, was Aioma mit den beiden Frauen gesprochen hatte, als sie ihn von dem Boot ins Kanu trugen, und er hatte gesehen, wie sie die toten Kinder an das Gestänge banden. Welches Geschick ihn unter den Händen von Ona und Nanu erwartete, wußte er nicht, und er versuchte auch nicht, es sich auszudenken.

Als alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde das Kanu vom Ufer ins Wasser geschoben, und die beiden Frauen kletterten hinein. Nanu saß im hinteren Teil und Ona vorne an der Spitze. Sie war rücksichtslos mit ihren nackten Füßen auf Rantan getreten, als sie dorthin ging. Die Ruder klatschten im Wasser; der Schaum der brandenden Wellen spritzte ins Boot und traf Rantans Gesicht, aber das war ihm gleichgültig. Er kümmerte sich auch nicht um die sengenden Strahlen der immer höher steigenden Sonne, ebensowenig um Ona, als sie das Ruder einen Augenblick niederlegte und das Segel hochzog.

Manchmal schloß er die Augen, um Nanu nicht sehen zu müssen, die hinten mit ihrem Ruder steuerte und das Segel beobachtete.

Plötzlich hörte er den Schrei einer Seemöwe, die dicht über ihnen schwebte und die toten Kinder beäugte, bis Nanus blitzendes Ruder und ihre Rufe sie vertrieben.

Als die Glut der Sonne immer stärker niederstrahlte, stieg ein Verwesungsgeruch auf; die Brise wehte ihn fort, aber er kehrte wieder. Das Rauschen der Wogen an der Nordküste erstarb allmählich, und die Brandung am südlichen Ufer wurde lauter und lauter.

Hier wollten die beiden Rache an ihm nehmen. Als sie näher kamen, konnten sie die verlassenen Hütten sehen, die lange Linie der einsamen Küste und die Kokosnußpalmen, die in einzelnen Gruppen beieinander standen. Und nun schien sich Nanu plötzlich auf Rantan zu besinnen. Sie betrachtete ihn, lachte, hob ab und zu das Steuerruder, zeigte auf den Gefesselten und sprach zu Ona. Auch diese lachte laut hinter ihm auf. Es klang schrill und abgerissen.

Rantan wünschte jetzt, daß er Peterson in Levua nicht ermordet hätte. Bitter bereute er die Tollkühnheit, die ihn dazu getrieben hatte, in die Lagune von Karolin einzufahren und zu versuchen, die Bevölkerung zu erschießen.

An dem Gesichtsausdruck Nanus und dem Schreien Onas erkannte er, daß sie sich dem Ufer näherten. Ona gab ihm ab und zu einen Tritt, um noch mehr zu betonen, was sie zu der anderen sagte. Er verstand es nicht, aber er fühlte die unheimliche Drohung, die in ihren Worten lag.

Nanu hatte sich halb aufgerichtet, und Ona holte das Segel ein. Die Ruder blitzten in der Sonne, als das Boot auf die sandige Küste auffuhr. Die beiden Frauen sprangen hinaus, packten den Rand des Kanus und den Ausleger und zogen das Fahrzeug auf das trockene Ufer.

Dann packten sie Rantan an Füßen und Schultern, hoben ihn aus dem Kanu und schleppten ihn auf den Sand. Als sie ihn losließen, fiel er aufs Gesicht. Sie drehten ihn auf den Rücken, ließen ihn liegen, liefen bald hierhin, bald dorthin und bereiteten ihr Rachewerk vor.

Die Flut hatte ihren Höhepunkt überschritten; der Wind war nach Westen umgeschlagen und bewegte die Wipfel der Kokospalmen. Es roch nach Seetang und ausgetrockneten Pfützen.

Rantan hatte bis dahin mit geschlossenen Augen im Sande gelegen. Jetzt öffnete er sie und beobachtete die Frauen, während er den Kopf leicht zur Seite schob. Nanu sammelte Holzstücke für ein Feuer, und Ona suchte am Strand Austernmuscheln. Aber sie nahm nur die flachen und prüfte vorher die Schärfe an ihrem Daumen.

Rantan wußte, was das zu bedeuten hatte, und ein Schauder überlief ihn. Nanu entzündete ein Feuer, und Ona schichtete dort die Muscheln zu kleinen Haufen.

Ein großer, schwarzer Raubvogel mit gebogenem Schnabel und gierigen, glänzenden Augen kreiste über ihm und wollte auf das Kanu herunterstoßen. Ona bemerkte es, sprang zum Boot, ergriff ein Ruder und verscheuchte ihn. Erst wenn ihre Rache gekühlt war, würden sie die toten Kinder den Haifischen ausliefern. In Karolin gab es keine Gräber und keinen Friedhof. Die Toten verschwanden in den Rachen der Haie.

Als alle Vorbereitungen getroffen waren, eilten die Frauen zu ihrem Opfer.

Rantan lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und den Mund geöffnet. Er atmete nicht, hatte ein aschfahles Gesicht und glich vollständig einem Toten.

Ona kniete mit einem Aufschrei neben ihm nieder, drehte ihn auf die Seite und wandte ihn wieder zurück. Nanu sprang auf, holte ein brennendes Holzscheit vom Feuer und hielt das glühende Ende an den Fuß des Mannes. Er rührte sich nicht.

Die beiden waren bestürzt und enttäuscht. Ihre wilden Rufe übertönten das Schreien der Möwen. Nanu und Ona hatten nur noch einen Gedanken, sie mußten ihn wieder zum Leben erwecken. Sie rieben ihn, kneteten ihn, lösten seine Fesseln aus Kokosnußfasern und das Bettuch, mit dem ihn Poni und die anderen gebunden hatten. Nun lag er vollkommen nackt in der Sonne. Aber während sie sich noch mit ihm abmühten, sprang er plötzlich mit einem Schrei auf, packte ein Ruder und stürzte sich auf Nanu. Er führte einen Schlag gegen sie und traf sie am Hals, so daß sie umsank. Dann jagte er Ona nach, die wie eine geängstigte Ente vor ihm herlief.

Nur wenige Leute hatten Rantans Charakter durchschaut. Der schweigende, ruhige, sonnenverbrannte Seemann, für den man ihn hielt, war in Wirklichkeit nicht Rantan. Jetzt zeigte er sein wahres Gesicht: wahnsinnig vor Haß und Wut, rachgierig, von Mordlust besessen.

Die verfluchten Kanakas hatten ihm die Perlenlagune geraubt, das Schiff, die Aussicht auf Reichtum, Wohlleben, Wein und Frauen. Sie hatten ihn gefesselt und in ein Kanu gestoßen, und dann hatten ihn zwei Kanakafrauen – Frauen, Frauen! – hierhergefahren, waren auf ihm herumgetrampelt und wollten ihn nun hier langsam zu Tode quälen, ihm mit den scharfen Muscheln das Fleisch in Fetzen von den Gliedern reißen und die Wunden mit glühenden Holzscheiten ausbrennen.

Jetzt zeigte sich der wirkliche Rantan. Sein Haß und das Bewußtsein, einem grauenvollen Martertod entronnen zu sein, verliehen ihm übermenschliche Kräfte.

Ona lief zu dem Kanu. Vielleicht wollte sie das andere Ruder holen, um sich damit zu verteidigen. Aber sie war nicht schnell genug, und Rantan schnitt ihr den Weg ab. Nun versuchte sie, auf das Riff hinauszueilen, aber auch daran hinderte er sie. Er hätte sie schon verschiedene Male einholen und ihr mit einem Ruderschlag den Schädel zertrümmern können, aber das wäre ein zu schnelles Ende gewesen. Er jagte sie weiter, um seine Wut zu kühlen. Am liebsten hätte er sie dauernd vor sich hergetrieben und sie tausendmal mit dem Ruder umgebracht. Aber er spürte, daß seine Kräfte nachließen, und schließlich schlug er mit dem Ruder zu. Sie stürzte kopfüber zu Boden, und er versetzte ihr noch einen krachenden Hieb über den Schädel. Dann stand er still und keuchte. Sein Rachedurst war befriedigt.

Aber nur wenige Sekunden stand er still. Der Anblick Nanus brachte ihn wieder in Bewegung. Sie war in der Nähe des Muschelhaufens niedergefallen. Das Feuer brannte noch; das Holzscheit, das sie an seinen Fuß gehalten hatte, lag dicht neben ihr. Sie hatte das Bewußtsein wiedererlangt, und als sie nun die Augen öffnete, sah sie, wie er mit erhobenem Ruder vor ihr stand. Das war das letzte, was sie erkannte.

Er ging dicht an das Ufer, hockte sich nieder und legte das Ruder neben sich. In der fernen Bucht lag die Kermadec, die sich mit der abfließenden Flut zum Tor des Morgens drehte. Aus dieser Entfernung sah sie nicht größer aus wie die kleinen Schiffsmodelle, mit denen Dick früher gespielt hatte.

Rantan war für den Augenblick frei, aber noch am Ufer der Lagune gefangen.

Frei, aber vollkommen nackt. Nicht einmal Schuhe hatte er an den Füßen.

Erinnerungen an seine letzten Abenteuer stiegen in ihm auf, manche klar und scharf, manche undeutlich und verschwommen. Dick stand wieder vor ihm, der so anders war als die Eingeborenen. Rantans wütender Haß gegen sie konzentrierte sich auf diesen Mann.

Unter allen Umständen mußte er von hier fortkommen. Mit dem Kanu konnte er wegrudern, bevor die Kanakas vom anderen Ufer mit den Booten herüberkamen. Ihre Kanus hatte er zertrümmert, aber sie hatten noch den Vierruderer und das schwarze Boot der Kermadec, und wenn sie ihn hier faßten, war es sein Tod. Er mußte diese verdammten Kinderleichen von dem Gestänge lösen.

Als er zum Kanu ging, erschrak er plötzlich.

Der lebhafte Westwind hatte ein Segel der Kermadec gelöst, das bei der Ankunft nur oberflächlich von den Kanakas zusammengeschnürt worden war. Es wurde größer und größer und blähte sich immer mehr auf. Was sollte das bedeuten? Machten die Kanakas das Schiff zur Abfahrt fertig?

Er wandte sich um und lief zu den Bäumen. Als Seemann war er gewandt, und rasch erkletterte er eine Kokospalme. Er pflückte, was er an Nüssen erreichen konnte, und warf sie hinab. Dann stieg er hinunter und sammelte auch noch Früchte von den Pandanuspalmen. Eine Matte lag in der Nähe der verlassenen Hütten. Er faltete sie zusammen und machte einen Korb daraus. Dauernd eilte er damit zwischen den Bäumen und dem Kanu hin und her und war so eifrig tätig, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann. Er hatte keine Zeit, die Kermadec zu beobachten; er wurde nur von dem einen Gedanken beherrscht, möglichst viele Vorräte für die Fahrt aufs offene Meer zusammenzutragen. Bald hatte er genügend gesammelt. Bevor er aber mit dem Kanu abstieß, warf er sich neben dem kleinen, klaren Teich nieder und trank und trank. Nur wenn er atmen mußte, machte er kurze Pausen.

Als er dann bei dem Kanu stand, schaute er wieder zu dem Schoner hinüber. Der Wind hatte sich nun in dem Segel gefangen und es vollkommen aufgebläht. Wäre Rantan normal und ruhig gewesen, so hätte er sofort gesehen, daß das nur die Folge nachlässiger Arbeit war. Aber er geriet außer sich vor Schrecken und Furcht und packte das Kanu, um es ins Wasser zu schieben.

Bei der fallenden Flut lag es jetzt ganz im Trocknen. Der Ausleger hinderte ihn und bohrte sich in den Sand. Es gelang Rantan nicht, das Kanu ins Wasser zu bringen und dabei den Ausleger so hoch zu halten, daß er nicht störte. Deshalb mußte er von einer Seite auf die andere laufen. Schließlich kam ihm der gute Gedanke, die Matte auf dem Boden auszubreiten und den Ausleger darüber gleiten zu lassen. Das erleichterte ihm die Aufgabe. In seiner großen Erregung erkannte er erst jetzt, daß vor allem die beiden Kinderleichen ihm das Arbeiten erschwerten. Er wollte sie losbinden und in die Lagune werfen, aber Nanu und Ona hatten ihre Sache so gut gemacht, daß es ihm nicht gelang. Außerdem hatten Feuchtigkeit und Sonne die Kokosfaserstricke einlaufen lassen, und die Knoten waren unheimlich fest. Er hatte kein Messer, seine Hände zitterten, und seine Finger waren kraftlos. Die Möwen stießen nach unten und flogen dicht über ihm, als ob sie ihm helfen wollten, aber er schlug mit den Fäusten nach ihnen. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus, und seine Knie schlugen zusammen.

Die Flut fiel immer noch, und wenn er sich nicht beeilte, lag das Boot bald wieder auf dem Trockenen. Als er sich das klarmachte, ließ er die Kinderleichen, wo sie waren, packte das Kanu und schob es ins Wasser. Dann ruderte er heftig, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite, und steuerte direkt auf das Tor des Morgens zu. Das lose Segel hing über ihm.

Als er weiter aufs Wasser hinauskam, drehte er so, daß das Segel vom Wind gefaßt wurde, der es zu der Ausfahrt trieb. Nun war er frei! Niemand konnte ihn zurückhalten. Wind und Flut waren mit ihm, ebenso die Haifische, die Beute witterten, und die Seemöwen, die die Beute schon sahen. Die schneeweißen Vögel bildeten ein stattliches Gefolge.

Jetzt erreichte sein Boot die Öffnung in dem Korallenriff, und er fuhr mit dem Winde im Rücken auf das weite Meer hinaus.

Nach und nach blieben die Möwen zurück und gaben die Jagd auf. Sie überließen Rantan und das Kanu den blauen Wogen der See und dem Winde.

Rantan steuerte. Er war gewohnt, ein Kanu zu handhaben, und er wußte, daß er nichts anderes tun konnte, als das kleine Boot vor dem Wind zu halten. Er mußte fahren, wohin ihn der Wind trieb.

Noch einmal machte er den verzweifelten Versuch, die Kinderleichen loszubinden. Dazu mußte er sich ziemlich weit aus dem Kanu lehnen, und beinahe wäre es umgekippt. Er gab den Plan auf und steuerte vor dem Wind, der jetzt eine andere Richtung hatte und von Norden wehte.

Als die Sonne unterging, hatte sich die Brise noch nicht geändert. Sie blies die ganze Nacht hindurch, bis der Morgen graute und Rantan eine kleine Insel vor sich liegen sah. Spitzen von Palmbäumen ragten über den Horizont, und einige Zeit später konnte er auch die weiße Brandung am Ufer erkennen.

Die Einfahrt lag im Norden, und der Wind trieb ihn direkt darauf zu. Bald darauf passierte er sie und kam in eine Lagune, die kaum eine Meile breit war.

Er sprang an das sandige Ufer und sah sich entsetzt um. Nirgends konnte er Spuren von Häusern oder Hütten erkennen; nichts rührte sich auf dieser Insel. Nur die Bäume wiegten ihre herrlichen Kronen im Wind und spiegelten sich in der klaren Lagune, über die sich ein wolkenloser Himmel spannte. Das Blau des Seewassers, das Dunkelgrün der Bäume und das schneeige Weiß des Ufersandes gaben der Koralleninsel im Licht des jungen Morgens paradiesische Schönheit.

Als sich Rantan umgesehen hatte, ging er zu den Bäumen und warf sich in ihrem Schatten nieder. Um das Kanu kümmerte er sich nicht weiter. Es war ihm gleichgültig, ob es am Ufer blieb oder vom Wasser fortgetrieben wurde. Er war so sehr übermüdet, daß er sofort in tiefen Schlaf fiel.

Im Augenblick war er gerettet und sicher vor den Einwohnern von Karolin. Zwanzig Stunden war er mit ungefähr fünf Knoten Geschwindigkeit gesegelt. In dieser Entfernung lag Karolin jenseits des Horizonts im Nordnordwesten.


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