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3

Die Kermadec trieb in der Windstille auf dem Wasser, und ihre großen Segel spiegelten sich in der glatten Flut. Manchmal wurde die gläserne Oberfläche gestört, wenn eine schlafende Schildkröte plötzlich untertauchte. Und wenn man über die Reling sah, konnte man im Schatten des Schiffes Seesterne und Quallen viele Faden tief mit dem Schiff treiben sehen. Sonst regte sich nichts.

Im Westen sank die Sonne in einer goldenen Glut leuchtender Strahlen, dann kam die Nacht, und die Masten hoben sich schwarz von dem hellen Himmel ab.

Dick war noch vor Sonnenuntergang an Deck gekommen und stand mit Aioma auf dem Hinterschiff an der Reling. Er schien die Fassung wiedergewonnen zu haben, hatte aber an dem Tag noch nichts gegessen. Der alte Mann war darüber beunruhigt. Er selbst hatte die düsteren Gedanken beiseitegeschoben und sich fatalistisch in sein Geschick ergeben. Er lebte, und sie hatten für lange Zeit Nahrungsmittel und Wasser an Bord des Schiffes. Früher oder später mochte der Wind wieder aufleben, oder die Strömung – er fühlte eine Strömung – würde sie irgendwohin tragen. Er empfand auch Befriedigung darüber, daß sein Fluch Le Juans Mund geschlossen hatte. Außerdem hatte er gut gegessen und sich den Magen mit Schiffsnahrung und Bananen gefüllt. Er war nicht länger deprimiert.

»Was nützt ein Mann, der keine Nahrung zu sich genommen hat?« sagte er. »Ein Mann hat nur Kraft und Stärke, wenn er Puraka ißt und Fisch. Also geh, Taori, und iß, denn ohne Speise ist ein Mann kein richtiger Mensch.«

»Ich werde morgen essen«, entgegnete Taori. »Heute habe ich keine Lust dazu.«

Le Moan hatte sich auf ihren alten Platz zurückgezogen. Sie konnte Taori und Aioma im schwachen Licht der Sterne sehen. Sie konnte auch die Stimmen von Poni und den anderen hören, die auf dem Vorderdeck miteinander sprachen. Auch sie hatte an diesem Tag noch nichts gegessen.

Sie hatte ihre Arbeit getan und die Belohnung dafür erhalten. Sie hatte Taori umarmt und ihre Lippen auf seinen Hals gedrückt, sie hatte ihn getrunken, wie ein Verdurstender in langen, köstlichen Zügen an einem vergifteten Brunnen trinken mag. Denn nicht in leidenschaftlicher Liebe hatte er sich zu ihr gewandt, sondern in seinem Elend und seiner Verzweiflung. Als Trösterin hatte sie ihn halten dürfen, nicht als Liebende. Und sie wußte, daß er ihr niemals näherkommen würde.

Diese Erkenntnis durchzuckte sie, als sie seinen Körper fühlte, als er die Arme um ihren Nacken schlang. Ihm selbst unbewußt, hatte er ihr durch seine Haltung mehr gesagt, als er jemals in Worten hätte ausdrücken können. Er gehörte Katafa!

Für immer war er ihr entzogen, das sagte ihr ein sicherer, untrüglicher Instinkt. Aber er war ihr wenigstens nahe, und sie konnte ihn sehen – sie waren beisammen.

Kurz vor Sonnenuntergang hatte Aioma zu ihr gesagt: »Le Moan, nachdem der Wind aufgehört hat, zu wehen, ist der Zauber Uta Matus vielleicht nicht mehr wirksam. Schließe deine Augen, drehe dich im Kreis und sieh zu, ob du nicht wieder sehen kannst, in welcher Richtung Karolin liegt. Ist der Richtungssinn noch von dir genommen?«

»Er ist mir noch genommen«, hatte sie ihm geantwortet. »Und selbst wenn ich wieder wüßte, wo Karolin liegt, welchen Zweck hätte es, solange der Wind nicht weht?«

Sie log nicht aus kleinlicher Eifersucht. Sie war nicht neidisch auf Katafa, die das Geschick an Taori gebunden hatte, lange bevor sie ihn gesehen hatte. Er hatte Katafa nicht ihr vorgezogen, vielleicht war sie deshalb der anderen nicht mißgünstig gesinnt. Aber trotzdem konnte sie das Schiff nicht nach Karolin steuern und ihn in die Arme Katafas zurückführen. Das ging über ihre Kraft.

Sie hätte sofort ihr Leben gelassen, wenn sie ihn dadurch hätte retten können, aber ihn wieder der Liebe und der Freude zu geben, war ihr unmöglich.

So ging die Nacht vorüber, und die Sonne kündete einen neuen Tag an. Die verschiedenen Strömungen, die in diesem Meeresteil herrschten, trieben den Schoner manchmal zurück, manchmal führten sie ihn ein wenig weiter nach Süden. Es war tatsächlich eine große, langandauernde Windstille, wie Aioma vorausgesagt hatte, und sie legte sich wie die Hand des Todes ebenso auf Taori wie auf das Meer. Er aß kaum, sprach kaum und fiel zusammen. Seine Gedanken schienen in weiter Ferne zu weilen.

Leute, die noch niemals eine ansteckende Krankheit hatten, fallen bei einer Infektion leicht einer Seuche zum Opfer und sterben, während andere nur vorübergehend schwach und krank werden. Und Taori, der Kummer und Trauer nicht gekannt hatte, wandte sein Gesicht nach der Ausdrucksweise Aiomas von der Sonne ab.

Auf Karolin waren oft Menschen auf solche Art gestorben, nicht durch Krankheit, sondern wegen einer Beleidigung oder einer Frau, manchmal wegen irgendeiner belanglos erscheinenden Kleinigkeit. Diese Kraft, aus dem Leben zu scheiden, wenn es ihnen unerträglich, zu schwer oder zu widerwärtig, wird, ist eine der merkwürdigsten Gaben der Kanakas.

*

»Er hat sein Gesicht von der Sonne abgewandt«, sagte Aioma am vierten Morgen der Windstille zu Poni. Le Moan war in der Nähe und hörte die Worte.

Aber kurz darauf sprang die Brise wieder auf. Sie kam von Norden und wurde allmählich stärker. Und fast gleichzeitig rief der Mann im Mastkorb:

»Land!«

Es waren nur ein paar Palmenwipfel im Südosten zu sehen. Sie standen auf einer winzigen Koralleninsel, die so klein war, daß ihre Lagune keinen Schein an den Himmel warf. Aioma kletterte nach oben, um besser sehen zu können, und kam wieder an Deck, während Poni das Steuerrad ergriff und südöstlichen Kurs setzte.

Bald konnten sie die Palmenwipfel auch vom Deck aus erkennen. Taori hatte nur einen Blick auf die fernen Bäume geworfen; er blieb gleichgültig. Er hatte sein Gesicht von der Sonne abgewandt.


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