Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel.

Als er den Wald erreicht, bevor er in das Dunkel tauchte, wandte Gerhard sich im Sattel, ob die Wagen ihm noch immer nicht folgten. Auch jetzt sah er sie nicht; wohl aber einen einzelnen Reiter, welcher denselben Weg, den er eben durchmessen, heranjagte: der Reiter konnte nur Zempin sein. Einen Moment überlegte er, ob er den Verfolger erwarten solle, dann gab er dem Braunen die Sporen und sprengte in den Wald.

Nicht, daß ihn Furcht fliehen machte! aber der Mann würde ihn zur Rede stellen wollen, und er selbst nicht imstande sein, die Beschuldigungen zurückzuweisen, die Anklagen zu entkräften; und so Beschuldigungen, Anklagen, Vorwürfe, Schmähungen über sich ergehen lassen müssen in widerwärtigem, unfruchtbarem Wortwechsel. Sprach doch der Schein so gegen ihn: die durch Juliens unkluges Benehmen vorgestern abend provozierte Szene; – ihr wahnwitziger nächtlicher Besuch, bewiesen durch die Schleife, die ihm Salchen gestohlen und ganz sicher an Zempin ausgeliefert hatte, als derselbe eben – vermutlich durch einen eifersüchtigen Verdacht getrieben – von Swinhöft nach Hause zurückkehrte – sein Haus leer fand und von der Verräterin erfuhr, wohin sich seine Frau gewandt. Bagdorf oder er – was galt dem Eifersüchtigen das! wen er fand, war der Schuldige! Konnte doch, wie er ihr ins Gesicht geschleudert, seine Frau haben, wer wollte! und das alles, alles in diesem Augenblicke, wo er eine Viertelmillion schwerwiegender Gründe hatte, sich nicht von ihr scheiden zu lassen! – und Deep, der ja zweifellos in Bagdorfs und Juliens Interesse war – wie mochte der Ränkevolle die Sache gedreht und gewendet haben, um den Verdacht des Wütenden ganz auf den verhaßten Gegner zu lenken! – und, großer Gott, wo war das Billett geblieben, das ihm Julie heute morgen geschrieben, und in dem sie in so zweideutigen Worten auf den nächtlichen Besuch angespielt? – er hatte das Blatt vernichten wollen; erinnerte sich aber nicht, daß dies wirklich geschehen, und dann konnte er es ebensogut haben liegen lassen; konnte es ebensogut wie die Schleife in Zempins Hände gefallen sein!

Diese Gedanken schossen durch Gerhards Seele, während er, vornüber gebeugt, den Braunen zu äußerster Schnelligkeit antrieb. Das Tier, dem er heute schon so viel zugemutet, hielt sich noch immer wacker – bei dem großen Vorsprung, den er hatte, schien es undenkbar, daß er eingeholt werden könne, und, von dieser Sorge befreit, war er im Geist bereits in Kosenow. Wann mochte das Feuer ausgebrochen sein? vielleicht schon, als Edith von der Försterei zurückkam, und das war der Grund, weshalb sie den Wagen nicht geschickt hatte. Was mochte brennen? nach dem Umfange und der Intensität des Feuerscheins mehrere Gebäude, vielleicht mittlerweile der ganze Hof. Auch das Herrenhaus? Und wenn das der Fall, wohin hatte sie den kranken Vater gerettet? war er gerettet? war Edith nicht in Gefahr gewesen? war sie beschädigt? verwundet? – großer Gott! und sie im besten Falle allein mit dem Kranken! und er noch immer tief im Walde, noch nicht einmal bis zu den Hünengräbern, welche die Hälfte des Weges von Retzow nach Kosenow bezeichneten! Und nun –

Der Braune, der in einer der tiefen Furchen, die den Weg durchzogen, einen Fehltritt getan, strauchelte, taumelte, raffte sich mit Hilfe seines Reiters wieder auf, versuchte, in die frühere Gangart zu fallen – vergebens!

Gerhard war abgestiegen, sobald er sich von dem Unglück überzeugt. Sollte er das Tier seinem Schicksal überlassen und zu Fuß weitereilen?

Er überlegte noch, als er hinter sich Hufschlag vernahm. Oder war es nur das Knacken und Rauschen der vom Winde geschüttelten Bäume?

Er lauschte; der Braune, der, am ganzen Leibe zitternd, dagestanden, richtete den Kopf auf: es war Hufschlag! Gerhard konnte nicht länger in Zweifel sein; und der Hufschlag kam in rasender Eile näher und näher.

Was sollte er tun?

Sich in die Büsche werfen? es wäre wohl das erstemal, daß ein Vacha vor seinem Feinde geflohen!

Er wandte den Braunen, so daß er die Front gegen den Verfolger hatte, und rief, als die schwarze Masse durch das Dunkel heranstürmte, ein lautes Hallo.

Der Verfolger parierte.

»Ich danke Ihnen«, rief Gerhard, »Sie hätten mich in der nächsten Sekunde samt meinem hinkenden Braunen überritten!«

»Das also verschafft mir das Vergnügen! nun, zu dem, was wir miteinander abzumachen haben, brauchen wir ja auch der Pferde nicht!«

Er hatte sich aus dem Sattel geschwungen; die beiden befreundeten Tiere schnoben einander an, froh, sich hier so plötzlich wieder vereinigt zu finden; die beiden Menschen, die einst Freunde gewesen, mühten sich, den fliegenden Atem zu bändigen, um bei all dem Haß und Zorn, der die Brust erfüllte, mit scheinbarer Ruhe sprechen zu können.

»Der Pferde nicht«, sagte Gerhard, »aber doch wohl der Zeugen! Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß ich Ihnen in jeder Weise zu Diensten stehe, in welcher Männer von Ehre ihre Händel miteinander abzumachen pflegen; ich habe gehofft und hoffe noch, daß dieser Appell an Ihre eigene Ehre nicht vergebens sein wird.«

Gerhard hörte das Knirschen der starken Zähne, dann kamen die zischenden Worte:

»Vielleicht verkürzt es Ihren Langmut in etwas, wenn ich Ihnen sage: Sie sind ein Schurke durch und durch.«

»Vielleicht täte es das, wenn ich nicht wüßte, wie wenig wählerisch Sie in den Mitteln sind, um Ihre Absichten durchzusetzen.«

»So tut es vielleicht das!«

Der Schlag, den er nach ihm geführt, sauste an Gerhards Gesicht vorbei; nur seine Schulter war eben noch gestreift. Er hatte, zurückspringend, den Zügel des Braunen, den er bis dahin festgehalten, losgelassen.

»Sie sind wahrlich ein Ehrloser!« rief er; »die Entscheidung der Waffen ist dem Überstarken natürlich zu prekär!«

»Dahin wollte ich Sie!« rief Zempin mit höhnischem Lachen. »Hier ist, wonach Sie ein solches Verlangen tragen. Ich fand sie auf Ihrem Tische. Sie selbst haben sie geladen; ich habe sie nicht weiter berührt, als um neue Zündhütchen aufzusetzen und sie in die Tasche zu stecken. Übrigens haben Sie die Wahl!«

Er hatte aus den Taschen seines Überziehers rechts und links die Pistolen herausgenommen und hielt, beide in einer Hand an den Läufen fassend, die Kolben Gerhard entgegen.

»Nun sind Sie mit Ihren Ausflüchten hoffentlich zu Ende! Da ist es hell genug!«

Gerhard hatte, von Zorn übermannt, eine der Waffen ergriffen und war Zempin auf den Platz der Hünengräber gefolgt. Eine Wolke, die über der Blöße stand, reflektierte machtvoll das von dem nahen Feuer ausstrahlende Licht; das ganze Rund war von einer seltsamen Dämmerung, die nicht Tag und nicht Nacht war, erfüllt; an den Hünengräbern konnte man die einzelnen Steine unterscheiden, vor allen den einen, dessen kahle Fläche mit furchtbarer Deutlichkeit heraustrat.

Gerhards schaudernder Blick war auf die Fläche gerichtet; er wußte jetzt, was da geschrieben stand! Und sollte sich dieser Stein noch einmal zum Zeugen bieten, wie Menschenblut in schnödem Mord vergossen ward? Was anders war dieser Kampf, mochte er nun töten oder getötet werden? und, so oder so, sollte der alte Fluch sich immer neu gebären? die alte Missetat neue Missetat erzeugen, weil die Schlechten es wollen, weil, die sich gut zu sein bemühen, machtlos sind den Bösen gegenüber?

»Ich werde mich nicht zu diesem Duell zwingen lassen, das keines ist!« rief er; »nur eine brutale Metzelei, kaum weniger brutal, als die, von der jene Steine dort erzählen.«

Zempin, der ein paar Schritte von ihm fort gemacht hatte, um Distanz zu gewinnen, wandte sich auf den Hacken und schrie:

»Die Steine! ich sollte meinen, die Rolle des Erzählers hätten Sie übernommen! Oder wem verdanke ich's, daß ich mir nur noch eben die Geschichte von Ihrer Mätresse vorrücken lassen mußte? Sie werden mir natürlich sagen: die habe es wieder von Salchen, und die habe es wieder aus Ihrem Gemunkel mit dem Grafen erlauscht! Was schert es mich, woher sie's hat! Soll ich euch beide in die Welt laufen lassen, damit es doch ja alle Welt erfährt? Nehmen Sie Ihre Stellung, Sie Allerweltsschwätzer! Ich zähle drei, wenn dann der Herr Baron von Vacha sein bißchen Mut noch nicht beisammen hat, schieße ich ihn nieder wie einen Hund. Eins –«

»Ersparen Sie sich das übrige!« sagte Gerhard mit fester Stimme. »Daß es mir nicht an Mut fehlt – Sie wissen es; daß ich eine Pistole zu gebrauchen verstehe, mindestens so gut wie Sie, wissen Sie ebenfalls; und dies ist der Gebrauch, den ich von dieser meiner Pistole mache, die ich für Sie, für Ihres Hauses Sicherheit und Ehre geladen hatte, als mir nicht einer, sondern fünfzig gegenüberstanden!«

Er hob die Pistole nach der feurigen Wolke ob ihren Häuptern und feuerte.

»Nun schießen Sie, wenn Sie den Mut haben!«

Er war ruhig, die gesenkte Pistole in der Hand, stehengeblieben.

»Und Sie denken, ich soll mich durch solche Großmutspossen äffen lassen? Sie irren sich!«

Er hatte es mit vor Wut und Haß heiserer Stimme geschrien und hob die Pistole fünf Schritte vor Gerhards Brust. Gerhard blickte in die stieren, zornfunkelnden Augen – ein scharfer Knall – der Riese taumelte vornüber und stürzte unmittelbar zu Gerhards Füßen – durch den gewaltigen Körper zuckte es ein paarmal, dann lag er regungslos – ein toter Mann.

Gerhard war neben dem Gefallenen niedergekniet. Hatte er sich selbst erschossen? Unmöglich! Er hatte bis zum letzten Moment die Mündung auf sich gerichtet gesehen; an der Pistole, die er aus der starrenden Hand nahm und schaudernd wieder in das Moos fallen ließ, war der Hahn noch gespannt, das Zündhütchen unversehrt. Er versuchte, die ungeheure Last aufzurichten, vergebens! Die zitternden Hände, die schreckengelähmten Arme versagten den Dienst. Ratlos, verzweifelt, betäubt von dem Furchtbaren, Unbegreiflichen, hilfeheischend, wo doch keine Hilfe sein konnte, blickte er um sich.

Der Förster stand neben ihm, die Büchse in den Händen.

»Sie! Sie!«

Gerhard war aufgesprungen, voller Entsetzen den Förster anstarrend, der jetzt neben der Leiche kniete, wie eben er, und sich dann wieder emporrichtete.

»Die Kugel ist ihm durchs Herz durch und durch geschlagen; es war kein leichter Schuß bei dem bösen Lichte, trotz der geringen Entfernung.«

Er deutete auf die Hünengräber.

»Ich war im Walde, die Schulten zu suchen, die hinter Ihnen hergelaufen und nicht wiederkam; sah das Feuer, wollte nach Kosenow, war bis dahin gelangt; mußte ein wenig verschnaufen nach dem Lauf durch dick und dünn. Dann kamen Sie; ich habe jedes Wort gehört; ich hatte die Wahl, ob ich Sie töten lassen wollte, oder noch einmal zum Mörder werden. Und nun eilen Sie nach Kosenow, und überlassen Sie mir den Toten; ich will besorgen, was zu besorgen ist. Ich höre, daß schon Hilfe kommt; es werden die Retzower Wagen sein, ich will einen anhalten.«

Von dem Wege her vernahm man dumpfes, verworrenes Geräusch – Ächzen und Knarren der Achsen, Hufschlag der Pferde, Rufen der Knechte, dazwischen eine helle, kommandierende Stimme; durch die Stämme blitzten Lichter auf, – näher und näher.

»Fliehen Sie! fliehen Sie!«

»Vor wem und wozu?« erwiderte der Förster. »Was ich getan habe, habe ich getan. Vor dem da droben will ich es verantworten: er wird mein Stoßgebet gehört haben – was kümmern mich die Menschen!«

Er hatte sich von Gerhard mit sanfter Gewalt losgemacht und ging mit starken Schritten dem Wege zu. Gerhard wollte ihm nacheilen, ihn zurückhalten; aber er taumelte wie ein Trunkener; es wurde ihm dunkel vor den Augen; er sank in die Knie, die Hände in das Moos stemmend, mit aller Kraft seiner Seele gegen die Ohnmacht, die ihn überfallen wollte, ankämpfend, sich wieder aufraffend, den Lichtern entgegenwankend, die auf ihn zukamen, und in deren grellem Schein er den Grafen erkannte, neben dem der Förster schritt, während die Baronin einem der Leute die Fackel aus der Hand riß und, vorauseilend, nach der Stelle lief, wo in dem dicken Moose, einem Baumstamme gleich, der dunkle Körper lag.

Sie hatten ihn auf den Rücken gelegt; der Schein der Fackeln fiel grell auf das starre Antlitz, das noch in den zusammengepreßten Lippen, über den schweren Brauen den wilden Grimm ahnen ließ, der im letzten Moment das leidenschaftliche, nun für immer gebändigte Herz erfüllte. Aus den Augen der Baronin tropfte Träne um Träne; sie mochte daran denken, wie sehr sie einst diesen Mann geliebt. Der Graf wandte unsichere Blicke bald auf den Toten, bald auf Gerhard, bald auf den Förster, der, neben ihm stehend, mit halblauter, aber für alle vernehmlichen Stimme, durch die auch nicht die leiseste Spur von Erregung zitterte, sprach:

»Sie sehen, Herr Graf, es verhält sich alles genau so, wie ich Ihnen sagte. Dort stand ich; hier, wo ich jetzt stehe, der Herr Baron; da, wo Karl Clas mit der Fackel steht, Herr Zempin; meine Kugel hat ihn in der linken Seite getroffen, ist durchs Herz gegangen und auf der entgegengesetzten Seite wieder heraus. Sein Tod muß augenblicklich erfolgt sein. Die Untersuchung wird die Richtigkeit meiner Angaben bestätigen. So darf ich denn wohl hoffen, daß dem Herrn Baron keinerlei Ungelegenheiten aus dieser Sache erwachsen. Ich habe ihm schon zu viele in seinem Leben gemacht, trotzdem ich von ihm nur Liebes und Gutes erfahren, weit, weit mehr, als mir irgend zukommt; und so auch von der Frau Baronin da, der ich verdanke, daß ich den Rest meines Lebens wenigstens keine Ketten getragen. – Und, was ich noch bemerken wollte, Herr Graf, die Gerichtsbehörden sind manchmal in ihren Urteilen etwas unsicher und haben Mühe, den Schußkanal einer Büchsenkugel von dem aus einer gezogenen Pistole zu unterscheiden. Verstatten Sie mir einen Moment!«

Er hatte von den beiden Pistolen, die zu Füßen des Grafen lagen, die eine aufgenommen und war ein paar Schritte zurückgetreten, wie jemand, der an einer geladenen Waffe etwas demonstrieren will.

»Die Kugel aus einer Pistole wie diese, wenn sie von links in die Brust schlüge, würde ungefähr diese Wirkung haben.«

Er winkte Gerhard mit den ernsten, stillen Augen – Gerhard sprang hinzu, noch eben schnell genug, den Zusammenbrechenden in seinen Armen aufzufangen.


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