Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Zehntes Kapitel.

Und wieder stand ein Gebirge grauer, sich übereinander türmender Gewitterwolken zu derselben späten Nachmittagsstunde wie gestern an derselben Stelle im Süden an dem heißen blauen Himmel, als Gerhard sein Pferd durch die Allee hoher alter Linden lenkte, die auf das Hoftor von Kosenow führte. Aus dem unendlichen Gewirr dicht verschlungener Zweige, deren Blätter kein Hauch bewegte, floß das Gesumm zahlloser Insekten zu einem ununterbrochenen tiefen, schwingenden Ton zusammen. Das grüne Dunkel und die geschäftige Stille harmonierten mit Gerhards Empfindung. Nach den leidenschaftlichen Übererregungen des gestrigen Tages lag es auf seiner Seele wie ein Schleier und wie ahnungsvolles Schweigen, in dem der Nachhall so vieler, einander widersprechender Stimmungen in einem einzigen bangen Gefühl verzitterte; und zwischendurch ein zuckender Gedanke des eingesponnenen Geistes, der den dumpfen Trübsinn abrütteln wollte. Das war gewesen wie jetzt, wenn der Huf des Braunen hellen Klanges an einen der Steine im Wege schlug; und dann kam wieder das atembeklemmende Schweigen der Erwartung auf das, was kommen würde und kommen mußte, wie es in dem Buche des Schicksals geschrieben stand; nur daß das trübe Auge die dunkle Schrift nicht zu lesen vermochte und kaum hätte lesen wollen, wäre sie zu lesen gewesen.

Und da war er am Tor. Unwillkürlich hielt er das Pferd an, wie jemand auf der Schwelle eines Hauses zögert, aus dem er sich eine Entscheidung holen will, die folgenschwer auf sein Leben einwirken, ja dessen Lauf notwendig für alle Zukunft hierhin oder dorthin lenken wird. Wie würde ihn der Vogelsteller empfangen? Hatte der menschenscheue Sonderling überhaupt schon von ihm gehört? oder bereits zu viel gehört? Unmöglich war das letztere keineswegs: es würde durchaus im Charakter und Geschmack der Baronin gewesen sein, wenn sie gestern bei der Rückkehr von Kantzow sich in wütenden Worten Luft gemacht hätte über den Frechen, der es gewagt, die Augen zu Maggie zu erheben! Ja, wozu bedurfte es der Baronin, um Maggies Vater mit etwas bekannt zu machen, was unzweifelhaft schon von wer weiß wie vielen geschäftigen Zungen durch die ganze Nachbarschaft getragen war? Und wie der Vogelsteller seine väterlichen Rechte verstand – Juliens Geschichte von dem armen Jungen, der seine Kühnheit mit dem Leben büßen mußte, hatte es bewiesen! Ach, der häßlichen Geschichte! ach, der bösen, bösen Zunge! Aber gewiß, gewiß! nur einen Blick in die holden Augen, ein Lächeln nur ihres süßen Mundes – dann würde der Schleier von seinem Auge sinken, dann würde das schwere Herz wieder mutig pochen, dann würde alles wieder gut, dann würde sie wieder seine Maggie sein!

Und war dies nicht wie die Erfüllung des Traumes, den er gestern in dem Tannenwäldchen geträumt, bevor sie kam? Geradeso hatte er zu Pferde vor einem altehrwürdigen Tor gehalten, von dessen zerbröckelnder Zinne der Efeu wucherte und in langen Strähnen herabhing auf das halbverlöschte Wappen über dem Bogen, während die schweren Pfeiler, die das Gesims trugen, in hoch aufgeschossenem Ginster und Schlehdorn versanken. Nun wohl! das wäre fürwahr kein rechter Ritter – ein jämmerlicher Feigling wär's, der seine Heldentaten nur träumt und vor den Dornen und zischelnden Schlangenzungen der Wirklichkeit feig zurückbebt! Dies ist, trotz seiner märchenhaften Staffage, ein ganz reelles Tor, und das da ein pommerscher Gutshof, wie andere auch!

Die letztere Voraussetzung traf nicht ganz zu. Zwar stimmten die Gebäude hinsichtlich der Zahl, Lage und Größe mit dem landesüblichen Schema, das Gerhard nun bereits so genau kannte; aber sie waren aus besserem Material errichtet, einige sogar durchweg aus Stein und mit Ziegeln gedeckt. Dieser Umstand allein würde dem Hofe, welcher überdies ringsum von einer hohen, hie und da von mächtigen Bäumen überschatteten Mauer gleichmäßig geschlossen war, ein bedeutenderes Ansehen gegeben haben, wenn nicht ein Blick auf das Herrenhaus sofort bewiesen hätte, daß hier ein älteres und vornehmeres Geschlecht gehaust haben müsse, als die Gutsbesitzer von gestern und die Pächter von heute, die sonst auf den Höfen des Landes ihr Wesen trieben und sich in ihren weitschichtigen, stillosen, oft mit Stroh gedeckten, meist einstöckigen Häusern behaglich genug fühlten. Dieses hier war, soweit es Gerhard durch das Laubgitter von vier mächtigen Linden, die davorstanden, erkennen konnte, zweistöckig, in der überladen zierlichen Architektur der späteren Rokokozeit mit großer Sorgfalt ausgeführt: die Eingangstür, zu der eine stattliche Rampe von beiden Seiten hinaufleitete, ein hohes, von Säulen getragenes Portal, über dem ein Balkon weit vorsprang; die Fenster von reich ornamentierten Sandsteinpilastern eingerahmt und mit verschnörkelten Wappen gekrönt. Vor dem nicht eben hohen Dach erhob sich ein stattlicher Giebel, der nicht recht zu dem übrigen passen wollte und nur eine Konzession an die Sitte des Landes oder durch praktische Hinsichten bedingt sein mochte, ein Zwang, für den sich der Baumeister durch eine Überzahl und Überlast aufgebauschter Vasen, Wappen und verrenkten Figuren aus Sandstein auf dem breiten, von dem Giebel nach den Enden laufenden Gesims reichlich entschädigt hatte.

Während so Hof und Haus denselben einheitlichen Charakter solider Nutzbarkeit und echter, nun freilich im Laufe der Jahre stark verblaßter Vornehmheit trugen, nahm sich um so wunderlicher ein Gebäude aus, das in der fernsten Ecke des Hofes errichtet war und dessen seltsame Konstruktion den Zweck, für den es bestimmt sein mochte, nicht erraten ließ. Oder eigentlich war es nicht ein Gebäude, sondern vielmehr ein Komplex von Baulichkeiten: hier ein schlanker, viereckiger Turm, unten aus Stein, in der Mitte aus Holz, mit einem Glashäuschen oben, wie die Laterne eines Leuchtturmes; daneben ein Etwas, das in dem Erdgeschoß wie ein amerikanisches Blockhaus aussah und im oberen wie ein einziger großer, auf der vorderen Seite mit Draht vergitterter Käfig; dann wieder ein anderer runder Bau, der plötzlich achteckig wurde, um ebenso plötzlich wieder rund zu werden und in einer aus Eisen und Glas hergestellten Kuppel zu endigen; und so noch ein paar andere Konstruktionen von unbestimmter Form – alles mit scheinbar völliger Willkür eines an das andere mehr geklebt, als gebaut, daß Gerhard an die architektonischen Fratzen des Prinzen Pallagonia bei Palermo erinnert wurde, von denen er in Goethes italienischer Reise gelesen hatte.

Indessen sollte er über die Bestimmung dieser seltsamen Anlage nicht lange im dunkeln bleiben. Als er, unwillkürlich sein Pferd darauf zulenkend, sich ihr noch etwas genähert, vernahm er ein verworrenes Geräusch durcheinanderschallender Vogelstimmen, das mit jedem Schritte lauter und vieltöniger wurde zu großer Verwunderung und Beunruhigung des Braunen, der die Ohren hinüber und herüber bog und sich nur noch sehr ungern auf den unheimlichen Ort zu bewegte. Aber Gerhard hatte jetzt in die Tür des Blockhauses einen Mann treten sehen, bei dem er sich nach dem Herrn und den Damen erkundigen wollte, und der seinerseits nach dem Fremden auszuschauen schien. Wenigstens stand er jetzt unbeweglich, die Augen gegen die grelle Abendsonne mit der Hand beschirmend, über welche zottiges, graues Haar von dem mächtigen Haupte, das keine Bedeckung trug, in wirren Strähnen herabhing, wie vorhin die Efeuranken über das alte Tor. Und wunderlicherweise erschien Gerhard diese seltsame Gestalt, deren mächtiger Leib in einen dunkelgrünen Rock geknüpft war, während die langen gespreizten Beine in erdfarbenen Gamaschen steckten, wie der richtige Hüter, ja wie die Personifikation des alten Tores. Aber das hatte ihn freundlich eingelassen; wie würde ihn dieser hier empfangen? denn unzweifelhaft war es Maggies Vater, der Vogelsteller.

Gerhard konnte sich doch in dem Moment, als ihm die Überzeugung kam, einer starken Beklommenheit nicht erwehren. Und diese Beklommenheit wurde wahrlich nicht verringert durch das Benehmen des Mannes, der jetzt, nachdem er selbst höflich grüßend seinen Namen genannt und gefragt, ob er die Ehre habe, Herrn Johann Zempin vor sich zu sehen? – ohne seine Stellung im geringsten zu verändern, fortfuhr, ihn mit der Hand über den Augen schweigend anzustarren. Es war beinahe wie bei der Begegnung mit dem Förster gestern am Rand des Wiesensees, und Gerhard machte sich bereits auf einen ähnlichen Ausbruch gefaßt. Um so erleichterter fühlte er sich, als nun der Mann aus der Tür heraus auf ihn zutrat und, freilich wiederum schweigend, ihm die Hand reichte, indem er dabei immerfort mit dem Ausdruck tiefster, aber keineswegs unfreundlicher Verwunderung zu ihm aufschaute, gerade wie jemand, der in einem Fremden plötzlich einen lieben Freund zu erkennen glaubt und nur noch seinen Augen nicht recht traut. Handelte es sich hier wirklich um ein Mißverständnis? Gerhard glaubte seinen Namen noch einmal nennen zu sollen.

Statt jeder weiteren Antwort nickte der Vogelsteller nur wiederholt und mit immer freundlicherem Ausdruck, drückte ihm noch einmal stärker als zuvor die Hand, um sie plötzlich loszulassen und, den gekrümmten Zeigefinger in den Mund steckend, so gellend zu pfeifen, daß der Braune sich auf den Hinterbeinen herumdrehte und Gerhard, der im Begriff war, abzusteigen, in ernstliche Gefahr geriet, in dem Bügel hängen zu bleiben und geschleift zu werden. Der Vogelsteller sprang herzu, griff dem geängsteten Tiere in die Zügel und riß es herunter. Gerhard sprang aus dem Sattel; der Vogelsteller klopfte dem Pferde auf die Schulter, besah und befühlte es von allen Seiten, schüttelte den Kopf, trat davor hin, und plötzlich, es mit beiden Armen an den Vorderbeinen umfassend und seine Brust gegen die Brust des Tieres stemmend, hob er es mit dem ganzen Vorderleibe hoch in die Höhe, wie andere etwa einen großen Hund aufheben. Der Braune hatte keinen Versuch gemacht, sich dieser sonderbaren Umarmung zu entziehen; ja er zitterte, wie er jetzt wieder auf allen Vieren stand, am ganzen Körper und ließ sich von dem herbeigepfiffenen Knecht wegführen, den Kopf sinken lassend, als schäme er sich in tiefster Seele. Der Vogelsteller blickte ihm lächelnd nach, wandte sich dann zu Gerhard, klopfte ihm auf die Schulter, gerade wie zuvor dem Pferde, schüttelte auch wieder das Haupt, aber nicht verächtlich wie vorhin, sondern mit demselben Ausdruck von Verwunderung, die nur noch freundlicher und herzlicher geworden war.

Gerhard hatte Ursache, mit dem Empfang zufrieden zu sein; ja er fühlte sich durchaus zu dem sonderbaren Manne hingezogen, mehr noch, als es Herrn Zempin gegenüber der Fall gewesen war, an den der Bruder in Erscheinung, Haltung, Mienen- und Gebärdenspiel vielfach erinnerte. Nur daß bei dem Kantzower alles ausgeprägter, durchgebildeter, formvoller erschien, während dieser Mann trotz seiner riesigen Gestalt, welche die des Bruders noch um Haupteslänge überragen mochte, und trotz des Beweises seiner herkulischen Kraft, die er noch eben abgelegt, die Formlosigkeit, das Linkische und Unsichere eines Jungen hatte, der allzu schnell emporgeschossen ist und nicht weiß, was er mit seinen Gliedern anfangen, welche Miene er dem Fremden machen soll, und aus Furcht, etwas Törichtes, Unpassendes zu sagen, lieber ganz schweigt.

Denn noch immer hatte Gerhard kein einziges Wort von den freundlich lächelnden, wie auch das übrige Gesicht, bartlosen Lippen gehört, und diese Schweigsamkeit mußte ihm um so mehr auffallen, als er nun völlig an den Redeüberschwang gewöhnt war, in dem der Kantzower seinem leidenschaftlichen Herzen Luft zu machen pflegte. Bedurfte es für den Vogelsteller eines solchen heilsamen Gegenmittels nicht? Das gelegentliche Flackern in den graublauen Augen, das blitzschnelle Zucken um den stummen, melancholischen Mund, die Zornesröte, die dem Manne jäh in die Stirne gestiegen war, als er vorhin dem Pferde in die Zügel fiel – alles bewies, daß hier ein Feuer unter der Asche glühte, um so heißer, je dichter die Decke war, um so verheerender, wenn sie die Decke durchbrach. – Möchte er doch nur zu sprechen anfangen, dachte Gerhard.

Sein Wunsch sollte erfüllt werden, wenn auch vorläufig in beschränktem Maße.

Er war dem Vogelsteller auf eine Bewegung hin, die einer einladenden Gebärde ungefähr glich, in das Blockhaus gefolgt, dessen Erdgeschoß aus einem einzigen großen Raume bestand, wo eine Unzahl von Geräten durch- und übereinander standen, hingen und lagen, wie sie ein regelrechter Finkler zu seinem Gewerbe braucht: schier zahllose größere und kleinere Bauer aus dünnen, weißen Holzstäben; Ruten, Netze, Sprenkel, Werkzeuge aller Art; eine Hobelbank, eine Drechslerbank, an der eben noch gearbeitet schien – in der einen Ecke ein offener Herd, auf welchem an einem schwelenden Feuer ein Topf brodelte – mit Leim, nach dem Geruch zu urteilen – in der anderen Ecke ein großer Schrank mit ausgestopften kleineren Vögeln, während größere auf dem Schranke placiert waren oder auch mit gespannten Flügeln von der nicht allzu hohen Decke herabschwebten – das Ganze ein grausester Wirrwarr, hier magisch verdämmernd in den fernen Ecken des weiten, niedrigen Raumes, dort grell gestreift von der roten Abendsonne durch die nur angelehnte Tür.

Und hier – an seinem häuslichen Herde, dachte Gerhard – fand der Vogelsteller, wenn nicht die Sprache, so doch vorläufig die Stimme. Er brummte und summte behaglich, während Gerhard die praktische Einrichtung und solide Arbeit der Bauerchen, die noch dazu vermutlich eigenes Fabrikat wären, lobte; die Konstruktion der Sprenkel anders fand als in Thüringen, aber wie er glaubte, zweckdienlicher und haltbarer, und seine aufrichtige Bewunderung der Kunstfertigkeit und vollendeten Kenntnis aussprach, womit in den ausgestopften Vögeln die Natur bis in die feinsten Einzelheiten beobachtet und wiedergegeben sei. Die Finklerkunde, die Gerhard, als echter Thüringer – ›vom Walde‹ noch dazu – wirklich besaß, und die er so ohne allen Zwang und jegliche Zurschaustellung anbringen durfte, schien den pommerschen Vogelsteller zu entzücken. Die graublauen Augen glänzten durch das Halbdunkel, das Summen und Brummen wurde immer behaglicher und lauter; und nun kamen Worte – sehr abgerissen erst und schwer verständlich – doppelt schwer für Gerhard, weil sie im entschiedensten Platt waren – dann zusammenhängender, deutlicher – Worte, die Zufriedenheit und Verwunderung ausdrückten und endlich in einen Satz zusammengefaßt wurden, den er erst ebenfalls im Platt sagte und dann sofort ins Hochdeutsche übersetzte, indem er Gerhard die beiden riesigen Hände auf die Schultern legte: »Sie mag ich leiden! Sie mag ich sehr gern leiden!«

Er hatte beide Male das ›Sie‹ stark hervorgehoben, als ob er den Mann da vor ihm in schärfstem Gegensatz bringen wollte zu anderen Menschen, die er durchaus nicht leiden könne. Dabei lag in dem Ton der überaus weichen Stimme eine so große Herzlichkeit, ja eine wirkliche Begeisterung, daß Gerhard sich aufs innigste gerührt fühlte. Aber zu einem Danke, für den er in seiner Bewegung nicht gleich den schicklichen Ausdruck fand, ließ ihm der seltsame Mann keine Zeit: er hatte ihn alsbald, noch an den Schultern, zu einer Tür geschoben, hinter der eine sehr schmale und steile Treppe in den oberen Raum leitete.

Hier umfing den Nachkletternden sofort Geschwirr, Zirpen und Singen von Hunderten von Vögeln, die in dem Riesenkäfig, der nur an der einen Seite mit einem Drahtgitter versehen war, frei herumflatterten: von einem der hier aufgerichteten Bäumchen und baumähnlichen Gestelle nach dem anderen, von den Futter- und Trinknäpfen am Boden zu den Nestern in den obersten Zweigen und an der Decke. Es schienen ausländische zumeist, nebst einheimischen, die sich zur Gesellschaft schickten, viele von den schönsten roten und grünen, in dem Abendscheine, der durch das Drahtgitter fiel, doppelt prächtig leuchtenden Farben.

Und Gerhard sah zu seiner Verwunderung, daß die zierlichen Geschöpfe, die ihm scheu auswichen, nicht die mindeste Furcht vor dem Vogelsteller hatten. Sie umschwärmten ihn, sobald er eingetreten; sie setzten sich auf sein struppiges Haupt, auf die breiten Schultern; sie pickten ihm das Futter aus den gewaltigen Händen. Er mußte die Zudringlichen erst verscheuchen, als er jetzt seinen Gast durch eine sehr schmale Tür auf eine, die Innenseite des Turmes, den man nun betrat, umkreisende Wendeltreppe schob. Aus dem Grunde des Turmes wuchs eine schlanke Fichte, deren Krone sich oben in der Laterne ausbreiten durfte. Dem schlanken Stamme waren zu den natürlichen künstliche Äste angefügt, die man auf starken Brettern von der Wendeltreppe aus an einzelnen Stellen, wo sich Nester befanden, erreichen konnte. Da durch vergitterte Öffnungen Licht und Luft von allen Seiten hereindrang und die Laterne oben wiederum nur aus einem Drahtgeflechte bestand, war es Gerhard begreiflich, wie der Baum, der an dem Orte gewachsen, sich in dieser Einkapselung nun bereits zehn Jahre völlig frisch erhalten. Wenigstens glaubte Gerhard den Vogelsteller so verstanden zu haben – es war fast unmöglich, ein Menschenwort deutlich zu vernehmen bei dem betäubenden Kreischen und Schreien der Dohlen, Elstern, Häher, Spechte und des übrigen Gesindels, das hier sein lärmendes Wesen trieb. Ein mächtiger Rabe, der wohl sonst das Regiment führen mochte, kam aus der Krone herabgeflogen auf die Schulter des Vogelstellers und schien, nach manchen gravitätischen Verbeugungen stillsitzend, den Kopf mit drolliger Verdrehung vorwärts neigend, ehrfurchtsvoll zu erwarten, ob der Herr vom Hause Befehle für ihn habe. Der aber begnügte sich damit, dem Getreuen das glänzende Gefieder zu streicheln und entließ ihn dann, worauf der Vogel sich wieder nach oben schwang, während jener, mit Gerhard hinter sich, die Wendeltreppe hinabstieg, bis zu dem Grunde des Turmes, wo man durch eine Tür in einen dritten Raum gelangte. Aus diesem ging es treppauf in einen vierten, aus dem vierten treppab in einen fünften, und so treppauf, treppab noch durch eine ganze Reihe von Räumlichkeiten, die sich nur darin glichen, daß sie sämtlich von frei fliegenden Vögeln durchschwärmt waren. Aber nirgends hielt man sich längere Zeit auf; es schien dem Vogelsteller einzig darum zu tun, dem Gaste seine Schätze zu zeigen, wie ein Sammler hastig Kasten um Kasten öffnet und wieder verschließt, nachdem der neugierige Besucher kaum einen Blick auf die Herrlichkeiten geworfen.

Gerhard war es zufrieden. Das beängstigende Geschwirre und Geflatter, das unaufhörliche Zirpen, Zwitschern, Singen der kleinen, das Rufen, Schreien, Kreischen der großen Vögel, das fortwährende Hinauf- und Hinabklettern auf den schmalen, steilen Treppchen, der penetrante Dunst, der trotz der sorgfältigen Lüftung in all diesen zum Teil sehr engen Räumen herrschte – das alles hatte ihn zuletzt ganz verwirrt, betäubt; und er atmete hoch auf, als der Vogelsteller endlich eine Tür öffnete, die aus dem wunderlichen Labyrinth ins Freie führte.

Wie wenig auch die Umstände bis jetzt eine wirkliche Unterhaltung begünstigt hatten, es war doch zwischen den beiden schon manches Wort gewechselt – nach Gerhards Empfindung weit über die angeborene oder angewohnte Schweigsamkeit des Vogelstellers hinaus. Er konnte nicht mehr darüber im Zweifel sein, daß der wunderliche Mann, aus welchem Grunde immer, ihm seine volle Gunst zugewandt habe. Schon mehr als einmal hatte er die großen, phantastischen Augen unter den buschigen Brauen mit einem überaus freundlichen, fast zärtlichen Ausdruck auf sich gerichtet gesehen, und es überraschte ihn kaum noch, als der riesige Mann, indem sie jetzt auf das Herrenhaus zuschritten, ihm den Arm vertraulich auf die Schultern legte, wie ein Vater seinem Sohne, mit dem er zufrieden ist. Die Versuchung, seines Herzens große Angelegenheit zur Sprache zu bringen und alles auf einmal zu entscheiden, lag nahe. Aber Maggie hatte ihn mit solcher Inständigkeit gebeten, vorderhand zu schweigen – durfte er die Verantwortung des kühnen Schrittes übernehmen, auf die Gefahr hin, daß er mißlang? das eben erst in unerklärbarer Weise ihm zugewandte Wohlwollen des Vaters sich in ein furchtbares Gegenteil verwandelte? Was war denn der unberechenbaren Laune eines Mannes unmöglich, der, abseits von den Pfaden der Menschen, seit so vielen Jahren sein Sonderlingsdasein geführt und sein Sonderlingswesen offenbar zu nicht minder wunderlichen Formen aufgetrieben und aufgebauscht hatte, wie der Künstler die Sandsteingötter da oben auf dem Dache des Hauses!

Über dem Dache, mit den obersten, unheimlich gleißenden Spitzen fast in dem Zenit gipfelnd, stand die Gewitterwand im Süden. Gerhard hatte von dem Kantzower nicht ohne Mühe die Erlaubnis erhalten, den Vogelsteller um Abtretung der Retzower Gespanne für einige Tage zu bitten. – »Es hilft Ihnen ja doch nichts«, hatte der Kantzower gesagt, und Gerhard erwidert: »So lassen Sie mich's wenigstens versuchen!« Der Augenblick schien günstig. Als ob er von dem Zwist der Brüder nichts wisse und es sich nur um eine alltägliche Gefälligkeit handle, die der Nachbar dem Nachbar, geschweige denn der Bruder dem Bruder gern gewährt, trug er sein Gesuch vor, das denn auch sofort, nun doch zu seiner Überraschung, bewilligt wurde, wenn auch mit dem Zusatze: Weil Sie es sind! Die Wendung war zu schmeichelhaft-verführerisch, um nicht den zweiten Teil seiner Mission auf dieselbe Bahn zu lenken. Weshalb sollte der Gedanke des Waldfestes, anstatt in Frau Juliens Kopf, nicht in seinem eigenen entstanden? weshalb nicht er um das Zustandekommen desselben ängstlich besorgt sein? Und daß zu diesem Zustandekommen die Einwilligung womöglich persönliche Beteiligung des zweiten Besitzers des Waldes gehöre, war ja selbstverständlich, abgesehen von der Freude der beiden jungen Damen, einmal wieder unter dem Schutze ihres Vaters in der Gesellschaft zu erscheinen. Es stehe dann nur noch die Erlaubnis des Oberförsters, oder besser: des Landrats aus, die, wie ihm der Förster Garloff gesagt, bei der Lage der Dinge erforderlich sei, aber nach seiner eigenen Ansicht, gerade wegen der Unentschiedenheit des Rechtshandels, gar nicht verweigert werden könne.

Gerhard sollte es sofort bereuen, sich ganz gegen seine Natur und Gewohnheit zu solchen diplomatischen Winkelzügen herbeigelassen zu haben. Schon den wunderlichen Mann sich ›in der Gesellschaft‹ vorzustellen, wollte ihm in keiner Weise gelingen; und nun hatte er kaum den Namen des Försters ausgesprochen, als jener, ihn loslassend und mit den langen Armen in der Luft umherfahrend, in Worten, die der Zorn anfangs für Gerhard fast unverständlich machte, auf den Förster, den Oberförster, den Landrat, die Herren von der Regierung zu toben begann. Besonders aber schien der Förster, auf den er immer wieder zurückkam, seine Wut zu entflammen. – »Der alte Schleicher«, donnerte er, »der tückische Hund, der immer hinter mir her ist, und dem ich den Schädel einschlage, wenn er mir noch einmal in den Weg tritt, so wahr ich Johann Zempin heiße! Den sollte ich um Erlaubnis bitten! ich! ich! ich! Und das mutet mir mein Moritz-Bruder zu! das! das! das!«

Gerhard gelang es, hier endlich zu Worte zu kommen und den Wütenden zu versichern, daß im Gegenteil der Bruder in Kantzow durchaus keine Neigung habe, die Autorität der Behörde anzuerkennen. Aber Frau Zempin und die anderen Damen und ebenso seines Wissens die Herren fürchteten, es könnten, wenn auch das Fest selbst nicht weiter gestört und gehindert würde, den Brüdern nachträglich aus ihrer Renitenz ernste Ungelegenheiten erwachsen.

»Sie dürfen mir nicht zürnen«, fügte er hinzu, »wenn ich, der Fremde, eine Angelegenheit, die ich nicht übersehen kann, mit den übrigen, die sie doch besser kennen sollten, falsch beurteile.«

»Ihnen bin ich nicht bös!« schrie der Vogelsteller, »Ihnen gar nicht! Sie hab' ich lieb! aber Christian Sallentin und Wilhelm Stut und Karl Bollmann und wer immer behauptet, mein Moritz-Bruder und ich dürften nicht auf unserem Grund und Boden tun, was wir wollten – der ist ein Schurke und lügt es in seinen Hals hinein! Was? die uns stören? die uns hindern? laß sie man kommen! ich bin dabei, ich und mein Moritz-Bruder! – laß sie man kommen! laß sie man kommen!«

Wenn der Mann in seiner tobenden Wut einem feuersprühenden Vulkan geglichen, so war es jetzt, nachdem der Ausbruch vorüber, von den hinausgeschleuderten, lohenden Worten wie Aschenregen auf ihn zurückgesunken. Das sonst bleiche Gesicht, das im Zorn furchtbar aufgeglüht, war plötzlich erdfahl geworden; die eben noch Blitze sprühenden Augen starrten gläsern aus den vertieften Höhlen; und als er seines Gastes Schultern wieder umfaßte, war es ihm offenbar um eine Stütze zu tun: der Arm lag schwer auf, und die Knie des langsam Schreitenden knickten wiederholt zusammen, bis sie das Haus erreichten. Hier ließ sich der Wankende in dem Portale auf eine Bank fallen und versank, den Kopf in die Hand stützend, in gänzliche Apathie. Wenigstens antwortete er auf Gerhards wiederholte Fragen nicht, und dieser war schon im Begriff, in das Haus zu gehen und Hilfe herbeizurufen, als zu seinem Trost eine alte Dienerin erschien, bei der er sich nach den Damen erkundigte, indem er zugleich bedeutsam auf den Herrn wies. Die unfreundliche Alte mochte an dergleichen Zustände bei dem Herrn gewöhnt sein: sie zuckte nur eben die Achseln, ein paar Worte murmelnd, aus denen Gerhard zu verstehen glaubte, daß er sich mit ihr entfernen möge und bereits von den Damen erwartet werde.

Das Innere des Hauses entsprach völlig dem Äußeren: ein hoher, achteckiger Flur mit gewölbter Decke – Wände und Decke vergoldet und bemalt, doch war die Vergoldung verblichen und die Malerei halb verwischt. Und so von verblichener und vermischter Pracht zeugte jedes der hohen Zimmer, durch welche die Alte Gerhard führte, nachdem sie an einer Tür im Flur vergeblich mehrmals gepocht. Die gewirkten Tapeten, die Dekorationen der Decken, die verschnörkelten Kamine, die Möbel: hochlehnige Stühle, gestickte Lehnsessel, geschweifte Kommoden, reichgeschnitzte Schränke – alles hatte einstmals bessere Tage gesehen; selbst in der Luft schwebte ein seltsam abgestandener Duft, der nirgends als in alten unbewohnten Schlössern vorkommt. Auch schien keiner dieser Räume bewohnt zu sein, man hätte denn die prachtvollen Papageien und Kakadus, von denen jedes Zimmer mindestens einen in einem mächtigen, blinkenden Messingbauer enthielt, und von denen manche bei Gerhards Anblick ein tobendes Geschrei erhoben, für Bewohner halten müssen.

Die voranschlurfende Alte hatte wiederum eine der vergoldeten Flügeltüren geöffnet und Gerhard in einem Gemach allein gelassen, das sich sofort als das Wohnzimmer der Damen ankündigte, obgleich die Ausstattung in dem schönen und besonders reich dekorierten Raume derjenigen in den anderen Räumen wesentlich glich. Aber die Möbel, für die man offenbar nur die prachtvollsten und am besten erhaltenen gewählt hatte, klebten nicht in steifstelliger Würde an den Wänden, sondern waren zu bequemem Gebrauch an schicklichen Stellen placiert. In der Mitte des, wie der Flur, achteckigen Raumes prangte sogar ein Stutzflügel aus der Rokokozeit, von besonders schöner Arbeit; die Klappe war hochgestellt, auf dem Pulte und dem davorstehenden gestickten Sessel lagen Noten, als sei eben erst gespielt worden; die beiden nischenartig vertieften Fensterplätze waren mit frischen Blumen geschmückt, die hohe Tür, durch die man über einen mit Orangebäumen bestellten Perron in den sonnigen Garten blickte, stand weit offen. Auch fehlten hier glücklicherweise jene entsetzlichen bunten Schreihälse; nur ein kleiner grauer Papagei kletterte schweigend an seiner Stange in einer Wandnische. Es war so still in dem hohen, kühlen Raume – Gerhard glaubte fast das Schlagen seines Herzens zu hören, wie er so, ohne sich zu regen, in der Nähe der Tür erwartungsvoll lauschend stand.

Das Knistern eines leichten Fußes auf der Treppe des Perrons, das Rauschen eines Kleides, ein Schatten, der vor der Kommenden her auf die Schwelle fiel – und Edith trat mit raschen Schritten herein.


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