Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel.

»Ich versichere Sie, ich bin nicht krank; Ihr Trank hat mir gut getan; kehren Sie sich nicht an meinen Puls; es ist das Fieber der Ungewißheit, des Zweifels, ob Fräulein Edith wirklich noch immer nichts weiß. Sie schien mir so verändert; oder ist es nur meine Sorge, die mich ihre Miene, ihre Worte mißdeuten ließ?«

Gerhard saß in dem Urväterlehnstuhle, dem einzigen gepolsterten Möbel des sonst mit klösterlicher Einfachheit ausgestatteten Gemaches; der Förster rückte sich jetzt einen Sessel heran und erwiderte:

»Ich glaube Sie völlig beruhigen zu können. Von mir hat Fräulein Edith nichts erfahren und wird, ohne Ihren Wunsch und Willen, nie etwas erfahren; und das Erinnerungsvermögen des Vaters scheint doch im wesentlichen sich nicht gehoben zu haben, wenn er auch allerdings, wie mir Fräulein Edith erzählt, auf einen neuen Punkt gefallen ist, dessen er früher niemals Erwähnung getan. Bis gestern abend hat er auch nur immer so still vor sich hin brütend dagelegen. Nun aber hat, während Fräulein Edith in Kantzow war, nach Ihnen zu sehen, der Gendarm die Order gebracht, daß sich der Vater morgen zur Antretung seiner Haft in Grünwald zu gestehen habe. Die Sara, die eine böse Person ist und, ich bin überzeugt, im Solde von Deep steht, hat nichts Eiligeres zu tun gehabt, als das Schreiben, von dessen Inhalt sie der Gendarm unterrichtet haben wird, zum Kranken zu bringen, den die Erschütterung über die leidige Nachricht – denn er fürchtet sich vor dem Gefängnisse wie ein Kind, das er ja in vieler Beziehung ist – sofort wieder in den alten Zustand versetzt. Als Fräulein Edith nach Hause kommt, hört sie ihn wieder seine französischen Phrasen vorbringen. Es sind die alten Phantasien; nur spricht er zwischendurch – und das ist eben der neue und wichtige Punkt – von einem Paket Papiere, das er durchaus an jemand abgeben muß und abzugeben verhindert wird, und das er dann versteckt und nun, wie sehr er auch danach sucht, nicht wiederfinden kann. Ich glaube mit Bestimmtheit, daß dies dieselben Papiere sind, die Ihr Großvater kurz vor der Abfahrt aufgesetzt hat und von denen im Briefe des Vicomte ausführlich die Rede ist.«

»Aber wie kommen Sie zu der Kenntnis dieses Briefes?« rief Gerhard erstaunt.

»Durch eine Abschrift«, erwiderte der Förster, »die Deep sich durch den Hausmeister des Grafen zu verschaffen gewußt hat unter dem Vorwande, er glaube der Sache auf der Spur zu sein und hoffe, dem Herrn Grafen durch seine Entdeckungen, wozu er aber notwendig den Brief brauche, eine unverhoffte Freude zu machen. Deep hat mir gestern abend die Abschrift zu lesen gegeben. Es hat sich gewiß im ganzen alles so verhalten und zugetragen, wie es der unglückliche Herr seiner Gemahlin geschrieben hat; und was dann kam – ich werde Ihnen auch da nicht mehr viel Neues erzählen können, und doch möchte ich Sie bitten, es mich erzählen zu lassen. Es ist eine Gnade, die Sie mir damit erweisen. Darf ich?«

Gerhard nickte zur Antwort. – Er hatte dies erwartet, als ihn der Förster zu bleiben bat; dennoch! es war ein furchtbarer Gedanke, daß jetzt der letzte Schleier fallen sollte. Das Herz bebte ihm; er lehnte sich in den Sessel zurück, die Augen mit der Hand bedeckend, damit der Förster seine Erregung nicht allzu deutlich bemerke.

Der aber holte tief Atem und begann mit leiser, unsicherer Stimme, die erst allmählich fester und lauter wurde.

»Der greuliche Plan ist in dem bösen Herzen Deeps ausgebrütet worden, und es hat lange gedauert, bevor er Zempin dafür gewinnen konnte, trotzdem die große Armut, mit der er beständig zu kämpfen hatte, und nun vollends gerade damals die Krankheit in seiner Familie – es war der Typhus in seiner entsetzlichsten Form – den heißblütigen, leidenschaftlichen und im Grunde seines Herzens ehrgeizigen und genußsüchtigen Mann zur Verzweiflung gebracht und zu jedwedem Verbrechen vorbereitet hatte. Aber wild und roh, wie er war, widerstrebte ihm der Meuchelmord; er hatte Deep erklärt, wenigstens unter seinem Dache könne er es nicht tun – vielleicht ginge es draußen unter dem freien Himmel. Er war, trotz seiner Riesenstärke und seines Löwenmutes, der unentschlossenste von uns dreien.

Von uns dreien! denn mich hatte Deep von Anfang an ins Vertrauen gezogen. Er kannte meinen wütenden Haß gegen die Franzosen. Ich war, als Jäger bei dem alten Baron Basselitz, dem Großvater von Baron Bogislaf, in Stralsund gewesen während der Belagerung. Ich hatte mit schanzen helfen und den Sturm und den Straßenkampf mitgekämpft; der Major Schill war an meiner Seite erschossen worden. Das war nun schon drei oder vier Jahre her, aber mein Blut kochte, wenn ich nur die Franzosen nennen hörte; Franzosen totzuschlagen, wo ich sie fände, erschien mir kein Verbrechen – im Gegenteil eine Tat, die der Patriot dem Vaterlande schuldig sei. Und ich hielt die Fremden samt und sonders für Franzosen; Vadder Deep hatte Zempin beredet, mir nicht zu sagen, daß ein Deutscher unter ihnen sei. Ich will nicht behaupten, es würde mich dieser Umstand zurückgeschreckt haben; ich erwähne ihn nur der Vollständigkeit wegen. Ich vermute sogar, der Franzosenfreund würde mir hassenswerter erschienen sein, wie der Landesfeind. Trotzdem weigerte ich mich, wie Zempin sich geweigert. Nun aber geschah es, daß sich infolge des Verrates, den das leichtsinnige Geschöpf, das ich liebte, an mir verübt, sich zu dem Wahnsinn des patriotischen Fanatismus die Raserei der Eifersucht gesellte. Ich lechzte nach dem Blute des Verführers; meine grenzenlose Wut riß auch den zaudernden Zempin mit fort. Die Ausführung wurde beschlossen und die Stunde festgesetzt.

Wir hatten den späten Abend herankommen lassen, einen sternenklaren Abend, den das Leuchten des in Unmasse gefallenen Schnees noch mehr erhellte, selbst in dem Walde, der damals viel dichter bestanden war als jetzt und sich ein paar tausend Schritte weiter nach Süden streckte. Sie fuhren auf einem großen Leiterschlitten; ich erwartete sie auf dem Wege an den Hünengräbern. Nach der Verabredung sollte dort, unter irgendeinem Vorwande, der Schlitten halten, damit ich Zeit gewönne, meinen Teil an der Greueltat zu tun. Der Schlitten kam heran und hielt; der Bolzen der Deichsel sollte verloren gegangen sein; man müsse ihn irgendwie ersetzen. Deep war mit Zempin abgestiegen; sie taten, als ob sie an der Deichsel arbeiteten; sie konnten nicht fertig werden; in der Tat kämpfte Zempin noch immer mit sich selbst, während Deep flüsternd zuredete. Mich hielt ein anderer Umstand. Ich vernahm plötzlich eine mir unbekannte Stimme deutsch reden; ich mußte glauben, es habe sich jemand zu den Fremden gesellt; denn wenn ich auch, als sie an mir, der ich hinter einer Tanne im Anschlage stand, vorüberkamen, nur fünf gezählt hatte – ich mochte mich verzählt haben, und jetzt waren sie sämtlich von dem Schlitten gestiegen, und der Schlitten und die Pferde verdeckten mir die Gestalten, so daß ich nicht zum Schuß kommen konnte, obgleich ausreichendes Büchsenlicht war. So wurde auch ich unsicher, und wer weiß, ob nicht alles ungeschehen geblieben wäre, wenn der eine – Ihr Großvater – sich nicht in seiner Ungeduld hätte verleiten lassen, Zempin für seine Ungeschicktheit und Widerspenstigkeit einen Streich zu versetzen. Mit einem Wutgeheul fuhr ihm Zempin an die Kehle. Erlassen Sie mir, das Furchtbare zu schildern. Es war alles das Werk weniger gräßlicher Minuten, vielleicht Sekunden; ich hatte bereits vorher infolge einer Wendung, die er gemacht, mein Opfer, den Verführer meiner Braut, auf dem Korn, und mein Schuß krachte in dem Moment, als Zempin mit seinem Gegner handgemein wurde. Deeps Dolchmesser war nicht minder schnell und sicher gewesen wie meine Büchse. Etwas länger währte der Kampf der beiden fast gleichstarken Männer, dann – aber ich wollte Sie ja mit den Einzelheiten verschonen; nur das darf ich wohl sagen: an meiner Hand klebt kein Tropfen von dem Blute Ihres Großvaters. Ich preise den Zufall, der es so gefügt; mein Verdienst ist es nicht.

Was demnächst geschehen mußte – es war alles vorbedacht und vorbereitet. Spaten, Schaufeln und Spitzäxte hatten unter dem Schnee versteckt gelegen; aber der Boden war so hart gefroren, daß unsere Arbeit zu langsam vonstatten ging. Deep, der für alles Rat wußte, machte den Vorschlag, das Erdreich durch Feuer aufzutauen. Wir konnten es ungefährdet tun; wer sollte uns stören in der Winternacht im tiefsten Forst? So schlug denn bald die Lohe, mit Klafterholz, das zur Hand war, reichlich genährt, hoch empor an dem Kopfstein des zweiten Hünengrabes, von dessen Fläche das dicke, schneebedeckte Moos in der Flamme verzehrt wurde und seltsamerweise nie wieder gewachsen ist. Das Ringen am Sonntag abend zwischen Zempin und uns hat genau an der Stelle stattgefunden, wo wir den Erschlagenen in dem aufgetauten Boden das Grab gruben, beim Scheine eines zweiten Feuers, das wir, nachdem jenes erste erloschen, entzündet hatten.

Der Moment, wo wir unsere Opfer von dem Wege, wo sie lagen, herbeischleppten und so unsere Gestalten und unser gräßliches Tun von dem Feuer taghell beleuchtet war, muß derjenige gewesen sein, in dem der unglückliche Knabe sah und begriff, was da Entsetzliches geschehen war und geschah. Wir sind nie auf den Gedanken gekommen, daß er uns beobachtet haben könnte; haben immer nur angenommen, daß die Antipathie, die er gegen den eigenen Vater und später gegen Deep und mich an den Tag legte, wenn es hoch kam, auf einen ganz unbestimmten Verdacht beruhe; jetzt erst ist mir aus dem, was Fräulein Edith mir mitgeteilt hat, der Zusammenhang klar.

Er ist in Verzweiflung über die Trennung von dem bewunderten und geliebten Manne in dem Hause zurückgeblieben – ganz allein, denn Rike Strelow – so hieß das unglückselige Mädchen – hatte sich sofort auf den Weg gemacht, den ihr anvertrauten Brief versprochenermaßen nach Zarnewitz zu einem Freunde zu tragen, von dem sie wußte, daß er noch in derselben Nacht nach Sundin fahren würde. Es war dies Jochen Schulten, mit dem sie ebenfalls in einem intimen Verhältnisse stand, und der sie auch später geheiratet hat. Durch die nun leeren Räume irrend, sieht der verlassene Knabe ein Paket liegen, das Ihr Großvater in der Eile der Abreise vergessen. Er weiß, daß die in dem Paket enthaltenen Papiere von der größten Wichtigkeit sind, denn er ist stets zugegen gewesen, während sie geschrieben wurden, auch bei der Untersiegelung und der Unterzeichnung durch den Vicomte und Baptiste. Sofort ist er entschlossen, hinterherzulaufen, obgleich ihm der Vater unter Androhung strengster Strafe verboten, sich aus dem Hause zu entfernen. Trotz des Vorsprungs von einer Viertelstunde, den wir hatten, holt er uns, durch den knietiefen Schnee rasenden Laufes dahereilend, in dem Moment ein, als der Kampf begonnen. Er weiß nicht, was das zu bedeuten hat; er sieht auch wohl nicht klar vor dem Schweiß, der ihm in Strömen von der Stirn in die Augen rinnt; er hört nicht deutlich vor dem Hämmern des Herzens in der keuchenden Brust, vor dem sausenden Blut in den Schläfen, während er, von Angst- und Frostschauern überrieselt, hinter dem dicken Stamm einer Tanne verborgen steht. Nun loht die Flamme auf: er sieht, was geschehen ist. Von Entsetzen ergriffen, weicht er von Stamm zu Stamm zurück, bis er sich aus der Nähe der Mörder weiß, und rast den Weg, den er gekommen, zurück. Im Hause wieder angelangt, hat er nur noch eben so viel Kraft und Besinnung, das kostbare Paket zu verstecken; dann bricht er ohnmächtig zusammen in den verlassenen, eiskalten Zimmern und wird so von seinem Vater – er hatte den Rest der Schreckensnacht bei Deep zugebracht – am Morgen gefunden. – Ich glaube, Sie werden mir beipflichten, daß, was ich hier vermutungsweise zusammengestellt, sich aller Wahrscheinlichkeit nach so verhalten haben wird.«

»Man muß es annehmen«, sagte Gerhard; »aber weiter, weiter: ich beschwöre Sie!«

»Wenn ich in dem Folgenden, wo wir wieder auf dem Boden der Tatsachen stehen, fuhr der Förster fort, mehr als mir lieb von mir selbst rede, so ist es nicht, um mich in Ihren Augen weniger schuldig erscheinen zu lassen, als es bis jetzt der Fall sein muß, es gehört eben zur Vollständigkeit meiner Erzählung.

Die Tat war kaum geschehen, als mich, ich kann nicht sagen: Reue erfaßte – ich möchte es lieber Scham nennen, wie sie den ergreift, der in einer Sache, welche er im übrigen für gerecht hält, zu weit gegangen ist und, sozusagen, über das Ziel hinausgeschossen hat. Schon der Umstand, daß, wie ich nun erfuhr, der eine der Erschlagenen in der Tat ein Deutscher war, machte mich stutzig, wenn ich mir auch trotzig sagte, er habe sich sein Schicksal selber bereitet. Schlimmer traf mich die Überzeugung, die sich mir aufdrängte, daß ich mich doch mindestens ebensosehr durch persönliche Rachsucht, als durch patriotischen Haß zu der Tat hatte treiben lassen, und das Mädchen, für dessen Treulosigkeit ich mich gerächt, und in der ich nur eine Betörte, Verführte gesehen, wohl selbst die Verführerin gewesen sein mochte und mich bereits vorher wiederholt verraten hatte. Das Allerschlimmste aber: was mich auch zur Tat getrieben, Raublust war es nicht gewesen, und nun sah ich mich als den Mitschuldigen von Menschen, die sich einzig und allein von ihrer Gewinnsucht, ihrer Geldgier hatten leiten lassen. Ja, ich erfuhr erst, nachdem die Tat geschehen, um was es sich für sie gehandelt, als bei dem Scheine des Feuers der schwere Kasten, der die Kasse enthielt, herbeigeschleppt wurde, um seines Inhalts entledigt und hernach zu den Toten, nebst Uniformen, Epauletten und allem, was uns möglicherweise verraten hätte, in die tiefe Grube geworfen zu werden. Zempin sagte mir später, Deep habe diesen Punkt vor mir geheimhalten und ihn überreden wollen, den Kasten in dem Stroh des Wagens zu lassen, oder in einem günstigen Augenblicke, von mir unbemerkt, in den tiefen Schnee zu versenken; er aber – Zempin – habe darauf bestanden, daß ich auch meinen Anteil erhalten müsse. Sie hätten sich den Streit sparen können. Ich erklärte sofort: ich würde nicht ein Stück von dem Golde, das nun in hohen Haufen vor uns lag, anrühren. Ich bin dabei geblieben; und so oft Sie so gütig waren, mir die Hand zu reichen, war es mir immer ein geringer Trost, daß meine Hand nicht im gemeinen Sinne schmutzig war.

Die beiden, die sich nun allein in die Beute teilen durften, mußten dennoch wohl mehr als ein Dritteil abgeben an gewisse Händler, die ihnen das französische und russische Gold, aus dem der Schatz hauptsächlich bestand, und das in den Händen der Landleute zu auffallend gewesen sein würde, und die Obligationen und sonstigen Wertpapiere, mit denen sie nun gar nichts anzufangen wußten, gegen landesübliche Münze oder Kassenscheine umtauschten. Ich glaube, daß die Väter der jetzigen Herren Platt und Lüttmann in Gartendamm, die ebenfalls schon assoziiert waren, das Geschäft vermittelt und das Geheimnis, das für sie kein Geheimnis bleiben konnte, klüglich mit in das Grab genommen haben. Auch sind sie es gewesen, die nominell Zempin das Geld vorschossen, als er bei der Subhastation der Carlströmschen Güter die drei größten und schönsten in seinen Besitz brachte. Da es aber trotz dieser Vorsicht aufgefallen sein würde, wenn auch Deep sich in unserer Gegend angekauft hätte, so hatte Zempin beschlossen, daß der auswandern solle. Deep tat es, vermutlich ungern genug, aber, wenn er auch der weitaus Klügere von beiden war, so fürchtete er – und mit Recht – Zempins brutale und gewalttätige Natur, die keinen Widerspruch duldete.

Dies alles fand statt, während ich bereits längst gegen den Erbfeind im Felde stand. Ich hatte wenige Tage nach der Tat – meine Büchse auf der Schulter – die Heimat verlassen und mich einem der Freikorps, die damals gerade in der Bildung begriffen waren, angeschlossen.

Aber der Krieg hielt mir nicht, was ich mir von ihm versprochen. Ich glaubte bald genug mit anderen Kameraden – Jünglingen und jungen Männern aus den höheren Ständen – zu sehen, daß dies kein Krieg des Volkes war für die Freiheit, die wir im Sinne hatten, sondern einer, den unsere Herrscher gegen den verhaßten Räuber ihrer Throne führten. Und wenn ich mich so nicht mehr mit rechter inniger Freudigkeit für die große, gute Sache schlagen konnte, so sollte ein Zufall dazu beitragen, meine bereits schwankende Überzeugung von der Gerechtigkeit meiner eigenen Sache noch mehr zu erschüttern. Ich erzählte Ihnen bereits, daß ich nach der Leipziger Schlacht durch Ihre Heimat kam. Ich hatte meine Mitschuldigen geflissentlich nie gefragt, wie der Deutsche, den wir ermordet, geheißen und woher er gestammt. So konnte mir auch der Name Vacha, den ein Bergschlößchen, in das ich eines Tages mit den Kameraden ins Quartier kam, ebenso wie die Familie der Besitzer führte, nicht weiter auffallen. Von der Familie war niemand anwesend. Ein alter Hauswart, der zurückgeblieben und uns mit zutunlicher Freundlichkeit empfing und bewirtete, erzählte, der Herr sei im vorigen Jahre nach Rußland gezogen und nicht wiedergekehrt. Durch gewisse Verträge, die er mit dem Erbvetter geschlossen, sei die Witwe in einen Prozeß verwickelt, der wohl einen übeln Ausgang für sie nehmen werde; sie befinde sich eben wieder in der Stadt, diesen Prozeß zu betreiben, der junge Herr stehe im Felde, um die Unehre, die der Vater über die Familie gebracht, mit Franzosenblut abzuwaschen. – Dann zeigte man uns in der Ahnengalerie das Bild des treulosen Herrn. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick, trotzdem ich nur einmal in sein Gesicht gesehen, als es bereits von Todesblässe bedeckt war. Der Kastellan, der meine Bewegung bemerken mochte, fragte, ob ich ihn gekannt? und als ich das verneinte, sagte er weiter: es sei ein gar wundersamer Herr gewesen: wild und verwegen, aber bei alledem voller guter Eigenschaften: über die Maßen freigebig und leutselig gegen die Armen, die alle seinen Tod beklagten; und er selbst, der ihn von Kindesbeinen gekannt, sei überzeugt, wenn er nur am Leben geblieben, er würde zur Vernunft gekommen sein und das Unrecht, das er an seiner Familie getan, wieder gutgemacht haben.

Ich sagte zu mir: vielleicht auch nicht! und suchte mir einzureden, der Verräter am Vaterlande und seiner Familie habe den schmählichen Tod doppelt verdient. Aber ich weiß nicht, wie es zuging: von dem Tage an verfolgte mich das Bild des Mannes bis in meine Träume, wenn ich mich auch immer mit meinem Gewissen abzufinden suchte, ja, die Sache so wendete, ich dürfe dem Schicksal zürnen, das mir eine Tat, die ich im Glauben an die Gerechtigkeit meiner Sache getan, zur Schuld verkehren und mir so das Leben, das ich immer schwer genommen, ganz verleiden wolle.

Es sollte ja noch viel schlimmer kommen.

Aber das wissen Sie bereits, und so lassen Sie mich über meine Sträflingszeit kein Wort verlieren. Auch werden Sie sich jetzt wohl denken können, mit welchen Gefühlen und Gesinnungen ein Mensch meiner Art wieder in das Leben trat, nachdem man ihn zehn Jahre lang um einer Tat willen eingekerkert und Eisen hatte tragen lassen, die einem adligen Offizier höchstens ein paar Monate Festungshaft zugezogen hätte; denn es war nur ein Duell in etwas unregelmäßiger Form gewesen; mein Gegner hatte sogar den Degen früher gezogen als ich; es hatten auch Offiziere genug dabeigestanden und die grausame Beschimpfung gehört, die mich rasend gemacht. Und schließlich hatte man mich nicht freigegeben, weil man sich von dem Unrecht, das man mir angetan, überzeugt, sondern weil eine gutherzige, schöne Frau einen Fußfall getan und um Gnade gebeten für jemand, der ihr Freund und Beschützer, als sie noch am Saume des Waldes als kleines nacktfüßiges Mädchen die Gänse hütete. Durch die Fürsprache dieser Frau, der Baronin Basselitz, erhielt ich auch die Stelle hier, wo ich unter einer Art von Polizeiaufsicht den Rest meines Lebens in Frieden hinbringen mochte, vorausgesetzt natürlich, daß ich mir auch nicht das mindeste zuschulden kommen ließ. So mußte ich der Schrecken armer Kinder und alter Weiber werden, und was den Armen recht war, konnte den Reichen nicht anders als billig sein, obgleich ich gerade den Kosenower Herrn gern geschont hätte und geschont habe, wo es möglich war. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn es nicht immer möglich war.

Ich mußte hart sein, sage ich; aber ich war es auch in gewissem Sinne. Ich glaubte nicht mehr an einen allgütigen Gott, nur an einen, dessen Gebot ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und der denn am Ende selbst nicht einmal immer auf die strenge Ausführung seines eigenen Gebotes bedacht ist. Wenigstens schien er Ausnahmen zu machen, und Zempin, der Vater, meine ich, den ich nun hier, als Großgrundbesitzer in Herrlichkeit lebend, vorfand, war doch wohl eine solche Ausnahme. Ich sah freilich bald, wie wenig es mit dieser Herrlichkeit auf sich hatte, sah es an der Geflissenheit, mit der er dem alten Kameraden auswich, an dem scheuen, düsteren Blick, wenn er ihm einmal nicht ausweichen konnte. Und dann: von all den blühenden Kindern, um deretwillen er – man darf es annehmen – zumeist die Untat begangen, die ihm wenigstens, bei seiner Sinnesart, wären sie am Leben geblieben, als ebensoviele Milderungsgründe gegolten hätten, lebten nur noch zwei; auch die Frau, die er sehr geliebt, war gestorben, bevor sie sich recht des Umschwungs seiner Glücksverhältnisse freuen konnte, ja, ich bin überzeugt, aus heimlichem Gram über das, was sie vielleicht nicht bestimmt wußte, aber ganz gewiß ahnte. Und an den beiden überlebenden Söhnen hatte er nicht viel Freude. Der Älteste, dem er eben Kosenow abgetreten, war ein menschenscheuer Sonderling, wenig oder gar nicht geeignet, einer großen Wirtschaft vorzustehen und einer jungen, übermütigen, bildschönen Frau zu gefallen, mit der er sich auf den Wunsch des Vaters zu gleicher Zeit verheiratet. Es war eine Predigerswaise, die als Gouvernante ein etwas abenteuerliches Leben geführt und als Frau, fürchte ich, weitergeführt haben würde, wäre sie nicht bald gestorben. Von den beiden Töchtern gleicht ihr die jüngere auf ein Haar, während die ältere von dem Vater wenigstens das brave, weiche Herz hat. Der andere Sohn, der Kantzower –«

Der Förster brach plötzlich ab und starrte durch das Fenster, an dem sie saßen, über den Garten nach dem Grabe seiner Tochter, dann fuhr er nach einer langen Pause, die Gerhard nicht zu unterbrechen wagte, mit dumpfer Stimme fort:

»Es wird mir schwer, über ihn zu sprechen, und doch muß ich es, nicht bloß um meinetwillen, damit Sie meine Handlungsweise verstehen, sondern vor allem um Ihretwillen, damit Sie die Ihrige danach einrichten können. Ich weiß ja, daß er einige gute Eigenschaften hat, wenn man Wallungen von Edelmut, die ihn manchmal noch überkommen, so nennen darf; aber ich weiß auch, daß sein Herz von Selbstsucht und Genußsucht angefault ist über und über, und der Kern schon angefressen war, als er von seinem wilden Universitätsleben hierher zurückkehrte. Deep hatte nicht viel mehr zu tun, ihn vollends zu verderben; was zu tun übrigblieb, hat er freilich redlich getan.

Verzeihen Sie, wenn ich nicht in geordneter Folge erzähle. Sie werden das Zusammengehörende schon zusammenfinden. Deep war bereits hier, als Zempin, der Vater, noch lebte. Er war zurückgekommen, nachdem er in Hinterpommern in Spiel und Liederlichkeit seinen Raub vertan, kurze Zeit, nachdem ich selbst mich hier wieder angesiedelt. Er hatte gehofft, von Zempin, der ihn bereits wiederholt unterstützt, noch mehr herauszupressen; der aber erklärte ihm rund heraus, daß davon keine Rede sei, und daß er ihn, wenn er etwa, wie er gedroht, schwatzen wolle, totschlagen würde. Ich weiß nicht, ob Zempin Wort gehalten hätte – er war der Mann dazu; aber nun gab es noch einen, der dem Elenden im gleichen Falle dasselbe angedroht und der sicher Wort gehalten haben würde, und der war ich. Ich wollte Ruhe haben und mußte Ruhe haben: ich stand im Begriff, ein gutes, bescheidenes, älteres Mädchen, das mich schon lieb gehabt, ehe ich in den Krieg zog, und das mir trotz alledem treu geblieben, als Frau heimzuführen. Es war an dem, was sie von mir wußte, genug; sie sollte nicht noch mehr erfahren. Noch einmal trat der Versucher zu mir. Zempin war plötzlich am Schlage gestorben in seiner blühendsten Manneskraft; die Söhne traten des Vaters Erbschaft an, wie der Versucher sagte, auch die von des Vaters Verbrechen. Es handle sich nicht um eine öffentliche Angeberei, die ja durchaus nicht in unserem Interesse läge; nur darum, den Söhnen zu sagen, was man von dem Vater wisse, um von ihnen, die doch wohl das Andenken des Vaters würden rein erhalten wollen, oder wenigstens nicht selbst in Ungelegenheiten kommen möchten, den Preis des Geheimnisses zu erpressen. Meine Antwort war dieselbe, wie das erstemal.

Und von dieser meiner abermaligen verschärften Weigerung und von diesem Moment stammt das System, das der schlechte Mensch mit fürchterlicher Konsequenz durchgeführt hat bis auf den heutigen Tag. Man hielt dafür, daß ihn das Unglück stumpf und blödsinnig gemacht – es war, wie Sie wissen, nur die Maske, hinter der er seinen Plan verfolgte: das, was er im Sprunge nicht hatte erreichen können, in vorsichtigen Schlangenwindungen zu erschleichen. Ich sah wohl manches von seinen Ränken, vieles sah ich nicht, wollte es auch nicht sehen. Was ging es mich an, ob er für den Kantzower den unermüdlichen Kuppler spielte und ihn moralisch ruinierte, wenn er auch die physische Überkraft des Riesen, der seines Vaters ganzes Abbild war, nicht brechen konnte! ob er den Verschwender auf Tritt und Schritt bestahl und betrog! Ich hatte keinerlei Sympathie für den Mann; ja ich muß sagen: ich hegte einen heimlichen Haß und Groll gegen den Übermütigen, den Prahler. Der Kosenower tat mir leid; aber auch weniger seiner selbst willen, der mich doch oft seinen ahnungsvollen Haß auf kaum erträgliche Weise hatte fühlen lassen und mir fortwährend durch seine kindische Leidenschaft für die Vögel die schwersten Ungelegenheiten bereitete, als um Fräulein Ediths willen, die gegen meine arme Tochter so gut und lieb war, und die ich wie mein eigen Kind, ja fast mehr als mein eigen Kind liebte. Und dann: ich kannte den Umfang der Betrügereien, die er an dem schwachen Manne verübte, nur zum kleinsten Teile, und ein Hineinreden verbot sich aus den genannten Gründen von selbst, würde auch sicher ganz erfolglos gewesen sein.

Ich überspringe die traurigen und immer traurigeren Jahre des längst Verwitweten und Vereinsamten bis zu dem Moment, wo Sie mich am Rande des Schwanensees fanden. Ich hatte nichts von Ihrer bevorstehenden Ankunft gehört; ich vermute, obwohl ich es nicht weiß, ebensowenig wie Deep; er würde mir vielleicht doch noch davon Mitteilung gemacht haben. Wenigstens sagte er so; es ist ja aber freilich jedes Wort, was aus seinem Munde kommt, Lüge.

Ich war, als Sie mich fanden, eben von Retzow gekommen und saß da, mehr von Kummer, als von der Hitze des Tages entkräftet, zum Sterben traurig. Ich hatte – zum wievielsten Male, großer Gott! – bei mir bedacht, ob ich nicht endlich, endlich meinem elenden Dasein ein schnelles Ende machen, ob ich das weitere Elend meines unglücklichen Kindes, das ich nun mit Sicherheit voraussah, der schon unerträglichen Last hinzufügen sollte! Und doch ahnte ich das Schrecklichste noch nicht einmal! ich sah in meinem Kinde nur das Opfer einer, mir freilich bei seinem stillen, sittsamen Wesen unbegreiflichen Verblendung; ich grübelte, wie sie dazu gekommen! ob dies neue Unglück ein notwendiges Glied mehr in der Kette sei, die ich mit mir herumschleppte von jener Nacht im Walde; und so, grübelnd, brütend, war ich im Halbschlafe nach dem alten Bergschlößchen vor das Bild des Mannes entrückt, der nun plötzlich leibhaftig vor mir stand, jünger freilich und freundlich-mild, als käme er aus Regionen, wo ja wohl mit der Erdenschwere auch die Schuld von uns abfallen mag. Sie nannten mir den halbvergessenen Namen. Warum ich sie nun nach der Mordstätte führte, ich weiß es nicht mehr; ich glaube, um mir das Fürchterliche ganz klarzumachen, daß der alte Fluch leibhaftig wieder umgehe und durch nichts gesühnt werden könne.

Aber hatte ich denn je empfunden, was ich jetzt empfand? Hatte ich je Reue empfunden? Vergebens, daß ich mir sagte, ich selbst habe nicht Hand gelegt an Ihren Großvater; ein anderer habe ihn erschlagen, und wieder in eines anderen Kopf sei das Verbrechen ersonnen. Von solchen Scheingründen will das aufgeregte Gewissen nichts hören. Dafür rief es mit einer um so vernehmlicheren Stimme: Mörder! daß es mir ins Herz dröhnte und mir keine Ruhe mehr ließ Tag und Nacht.

Und wären Sie nur Ihres Großvaters Ebenbild im Geist und Gemüt gewesen, wie Sie es an Gestalt und in den Gesichtszügen waren, wären Sie ein wilder, übermütiger, reicher Junker gewesen – die Stimme in mir hätte wohl weniger laut geschrien. Nun aber war das Gegenteil der Fall. Ich hatte bereits selber Ihre Freundlichkeit erfahren; ich vernahm von Herrn Stude, den ich gelegentlich traf und zum Sprechen brachte – Sie wissen, es hält nicht schwer – das Nähere über Ihre Familienverhältnisse, und wie gut und brav Sie von jeher sich gehalten, und Fräulein Edith, die mich öfter besucht, bestätigte alles und fügte noch mehr hinzu, was mich schon damals einen Blick in ihr Herz tun ließ.

So kam der Sonnabend nachmittag bei dem Grafen. Deep, mit dem ich im Bureau warten mußte, hatte bereits von Ihrem Besuche bei der Mutter der armen Wahnsinnigen gehört und Verdacht geschöpft; er fürchte, sagte er: Sie wüßten mehr, als Sie sich merken ließen. Ich mußte aus dem ganz unerwarteten und ungeschickten Verhör, das nun der Graf mit uns anstellte – in Ihrer Gegenwart – dasselbe annehmen; aber ich wollte mir das Bekenntnis, das aus freien Stücken abzulegen ich bereits halb und halb entschlossen war, nicht entreißen lassen und schwieg. Aber auch Sie hatten geschwiegen, trotzdem Sie den Zusammenhang wußten, oder mindestens ahnten. Daß das letztere der Fall, schloß ich, noch bevor ich den Brief des Vicomte kannte, aus dem Gange des Verhörs und aus Ihrer Haltung während desselben – Deep meinte, es sei das nur Schlauheit, die sicher zu ihrem Ziele kommen wolle; ich ahnte den richtigen Grund – ohne übrigens Deep ins Vertrauen zu ziehen – und der Sonntagabend an den Hünengräbern bestätigte meine Ahnung: Sie schwiegen um Fräulein Ediths willen.

Mußte ich nun auch nicht schweigen, selbst Ihnen gegenüber? Durfte ich Ihr Herz, das Sie gewiß nur mit Mühe gebändigt hatten, aufregen durch die Erzählung des eigentlichen Sachverhalts, den Sie doch immer noch nicht kannten? den letzten Zweifel zerstören, der doch noch immer in Ihrer Seele lauern mochte? Durfte ich Ihnen sagen, was Sie doch nur von mir erfahren konnten: daß der Großvater der Dame, die Sie liebten und von der Sie geliebt wurden, Ihren Großvater erschlagen? So schien denn in der Tat Schweigen für mich Pflicht; und daß ich dem immer stärker werdenden Drange nicht nachgeben dürfe, mein Gewissen zu erleichtern durch ein offenes Bekenntnis, wenigstens Ihnen gegenüber, der mir wohl sein Mitleid und seine Verzeihung geschenkt hätte; und so die Last meiner Schuld wie bisher weiterschleppen müssen. Ich hoffte, es werde nicht mehr allzulange dauern.«

»Ich hoffe das Gegenteil«, rief Gerhard, des Mannes beide Hände ergreifend; »Sie haben in meinen Augen Ihre Schuld tausendfach abgebüßt, und mein Leben lang werde ich es Ihnen danken, daß Sie mir alles gesagt. Ja, nun, da ich alles weiß, da für mich der letzte Schleier von dem Geheimnisse gefallen, ist mir, als sähe auch ich wieder meinen Weg klar. Ich gestehe, ich war entschlossen – ich glaubte entschlossen zu sein, mich von Edith für immer zu trennen, ihr für immer entsagen zu müssen. Ich halte hier Ihre Hand ohne eine andere Regung in meiner Seele als innigstes Mitleid, herzlichste Achtung. Wie sollte sich da je der Schatten meines Großvaters drängen können zwischen mich und die Geliebte? Aus meiner Seele wird er nimmer aufsteigen; in meiner Seele wird nur das Gebet sein, daß sie das Geheimnis nie erfahre, und, sollte es ihr doch einmal ein unglücklicher Zufall offenbaren, dann hoffe ich zu Gott, ist unser Bund so fest, daß nichts ihn auch nur vorübergehend erschüttern kann. Eines freilich ist es, was mich drückt. Edith würde, sollte der Vater sterben, die Hälfte der Erbschaft ihres Vaters antreten müssen; ich selbst, als ihr Gatte, wäre der Mitgenießende. Diese Erbschaft ist jetzt durch den Raub, den Deep vollführt, um ein bedeutendes reduziert; doch würde das Vermögen immerhin sehr beträchtlich sein, da nach dem, was ich anzunehmen Grund habe, nur der Anteil an Retzow verloren und Kosenow noch unberührt ist. Ihnen brauche ich nicht zu sagen, daß ich auch nicht den geringfügigsten Teil von dem Raube – denn ein Raub bleibt es – mir aneignen würde und auch nicht für Edith aneignen kann, für die ich doch in diesem Falle mit handeln und so handeln muß, als ob sie alles wüßte. Hier sehe ich vorderhand keinen Ausweg; aber er wird sich finden.«

»Ist er nicht schon gefunden?« erwiderte der Förster. »Es geht aus dem Briefe des Vicomte klar hervor, daß Ihr Großvater eine sehr große Summe in der Kasse hatte, auf die Sie ohne allen und jeden Zweifel die gerechtesten Ansprüche haben.«

»Ich bin selbst darüber keineswegs sicher«, erwiderte Gerhard, »doch würde es mich zu weit führen, wollte ich Ihnen meine Gründe dafür auseinandersetzen. Genug: ich würde unter keinen Umständen, und wären alle rechtlichen Einwürfe gehoben, mit dem Finger an ein Vermögen rühren, dessen Verlust ich als eine gerechte Fügung des Himmels ansehe, und das ich für verfallen erachte, in wessen Hände es gefallen sein mag.«

»Ich muß mich in dieser Frage Ihrer besseren Einsicht und Ihrem Gefühle unterordnen«, sagte der Förster; »aber ist es denn auch dasselbe mit dem Dokument, das jenen Erbschaftsvertrag wieder aufhebt, und das ohne Zweifel sich bei den Papieren befindet, deren Verbleib zu entdecken der Kranke sein Gehirn abmartert?«

»Ich fürchte, es ist dasselbe«, erwiderte Gerhard; »aber lassen Sie uns nicht die Zeit mit Fragen verlieren, für deren Entscheidung jeder positive Anhalt fehlt, und so Gott will, immer fehlen wird. Ich bitte, lassen Sie uns für heute abbrechen.«

Gerhard wollte sich erheben; der Förster legte ihm die Hand auf die Knie.

»Verweilen Sie«, sagte er. »Der Wagen, den Fräulein Edith zurückschicken wollte, ist noch nicht da; und wenn wir heute abbrechen, möchte es leicht für immer sein. Meine Frist ist so gut wie abgelaufen und – die eines anderen mit der meinen.«

Er starrte bei den letzten Worten wieder durch das Fenster nach dem Grabe der Tochter; das strenge Gesicht war in Nacht gehüllt.

»Ich habe es geschworen heute morgen auf das Haupt der Toten,« sagte er mit leiser, fester Stimme.

»Sie hätten es nicht schwören dürfen«, rief Gerhard heftig. »Sie nicht!«

»Bin ich denn wirklich so elend und verworfen«, erwiderte der Förster nach einer langen Pause, ohne Gerhard anzublicken, »daß ich verwirkt habe, was das natürliche Recht jedes Menschen ist: für ein Fürchterlichstes, was einem Menschen von einem anderen angetan werden kann und wofür es kein Gericht auf Erden gibt, sich selbst Gerechtigkeit zu nehmen? Und mir ist ja ein ehrlicher Kampf, wie er einem freien, unbescholtenen Manne gern gewährt wird, versagt. Der entlassene, unter Polizeiaufsicht stehende Sträfling kann den Herrn Rittergutsbesitzer nicht vor die Mündung seiner Pistole fordern. Was bleibt mir da, als meine gute Büchse? Brauche ich hinzuzufügen, daß ich ihn nicht länger überleben werde, als nötig ist, um von neuem zu laden?«

»Und so zum Meuchelmord den Selbstmord zu fügen«, rief Gerhard. »Nein, nein und tausendmal nein! Das können Sie nicht! das dürfen Sie nicht! um Ihrer selbst willen nicht, der Sie dann wahr und wahrhaftig eine gräßliche Schuld auf sich laden, die Sie, der bejahrte Mann, nicht wieder durch ein langes, kummervolles Leben abbüßen könnten; Sie dürfen es um meinetwillen nicht, der Ihnen über das Grab des Großvaters die Hand gereicht hat, der jetzt wieder Ihre Hand hält und Sie bittet, Sie beschwört, Ihr Herz zu bändigen, redlich zu versuchen, Ihr schweres Kreuz weiter zu tragen; der ihnen verspricht und schwört, es Ihnen tragen zu helfen durch die Freundschaft, durch die Achtung, durch die Liebe, die er Ihnen entgegenbringt, mit der er an Ihnen festhalten, zu Ihnen stehen wird bis an sein oder Ihr Lebensende.«

»Und verlassen mich doch gleich hier«, sagte der Förster mit schwermütigem Lächeln; »aber ich vergaß, daß – der Mann Ihr Freund ist.«

»Nicht mehr!« erwiderte Gerhard; »ich habe mich gänzlich von ihm losgesagt; ich werde sein Haus nicht wieder betreten.«

»Wenn das der Fall ist«, sagte der Förster, »brauche ich Ihnen freilich kaum noch zu sagen, was ich gestern durch Deep erfahren, um so weniger, als es in meinem Munde den Anschein rachsüchtiger Angeberei gewinnt. Und doch ist es wohl für alle Zukunft besser, wenn Sie davon unterrichtet werden.«

»Ich glaube alles zu wissen», erwiderte Gerhard; »ich war heute morgen bei Deep.«

»Ah!« sagte der Förster, »ich verstehe! und der Verräter hat sein kühnes Spiel weitergespielt. Er hat Ihnen gesagt, daß er Zempin in das Geheimnis eingeweiht hat?«

»Ja!«

»Und daß Zempin Ihr Schweigen und Ihr Gewährenlassen von Ihrer Liebe zu Fräulein Edith erhofft?«

»Auch das!«

»Nur zugleich fürchtet, nein – überzeugt ist, es bestehe zwischen Ihnen und seiner Frau ein intimes Verhältnis, das er aber zu ignorieren entschlossen ist; vorausgesetzt, Sie beschleunigen Ihre Verbindung mit Fräulein Edith und schweigen natürlich weiter wie bisher? Nun, so kennen Sie den Mann freilich, und ich rate ihnen nur, hüten Sie sich vor ihm! Glauben Sie mir, er würde auf den bloßen Verdacht hin, Sie könnten den Bund brechen wollen, der so, wenn auch unausgesprochen, nach seiner Auffassung zwischen ihm und Ihnen besteht, die Wut, mit der er gegen Sie erfüllt ist, fessellos walten lassen. Ich kann Ihnen sagen, daß Deep, der gewiß das Seine redlich beigetragen, diese Wut zu schüren, wünscht und hofft, es werde früher oder später geschehen, ebenso wie er wünscht und hofft, ich werde an Zempin tun, was er selbst gern täte, hätte er den Mut dazu.«

»Und darum«, rief Gerhard, »dürfen wir eben nichts tun. Wie könnte das gut und recht und billig sein, was nach den Wünschen und Hoffnungen dieses Scheusals geschähe! Nein, nein! glauben Sie mir: die Fäden, die sich hier hundertfach durcheinanderschlingen, schlichtet keines Menschen Klugheit und keines Menschen Hand. Ich habe mich selbst feig und lässig gescholten, daß ich Gott meine Hand versagen wollte zur Ausführung dessen, was ein so klares Gebot der Pflicht und Ehre scheint. So klar und doch nicht klar genug für unser schwaches Auge! – Und nun darf ich keine Minute länger zögern. Der Wagen kommt nicht; ich bedarf seiner auch nicht. Mir ist, als hätte sich aus unserer Unterredung frische Kraft durch meine Glieder ergossen: aus der Überzeugung, die sich immer mehr in mir befestigt, die ich nie so stark gefühlt: daß die Guten mächtiger sind, denn die Bösen, weil den Guten auch das Böse zum besten dienen muß, während den Bösen selbst nicht das Gute gedeiht.«

»Gebe Gott, daß es sich so verhält«, sagte der Förster; »nach dem, was ich vom Leben erfahren, muß ich es in Abrede stellen. Aber vielleicht haben mir Schmerz und Kummer und Gram das Auge getrübt und den Geist umnebelt; Sie sind jung und brav und gut; ich will Ihnen folgen auch gegen meine Überzeugung.«

Sie hatten sich beide erhoben und verließen das Gemach, wo es bereits stark zu dunkeln begann. Vor dem Hause hielt der alte Forstgehilfe Gerhards Braunen und wehrte der armen Wahnsinnigen nicht, die sich vergeblich bemühte, dem Pferde ein paar Astern in dem Stirnhaar und in der Mähne zu befestigen.

»Ich habe sie bereits gesehen und gesprochen«, sagte Gerhard zum Förster. »Ich werde dafür sorgen, daß sie wieder zu ihren Verwandten zurückgebracht wird.«

»Tun Sie das nicht«, sagte der Förster; »es hieße das einfach, sie Deep in die Hände liefern; Sie wissen, wie grausam diese Hände sind; und daß er bei allem, was er ausfinden mag, die Unglückliche auf die Seite zu schaffen, der Hilfe Zempins versichert sein darf.«

»Aber was soll aus ihr werden?« sagte Gerhard; »dann muß sie eben ins Irrenhaus; und das wäre das sichere Mittel, aus einer harmlos Blödsinnigen eine Tobsüchtige zu machen.«

»Ich werde sie hier bei mir behalten«, erwiderte der Förster. »Da ich doch einmal, wie Sie sagen, mein Kreuz weitertragen muß, so ist die Gegenwart derer, die durch ihre Treulosigkeit den ersten Grund zu all meinen Leiden gelegt, wohl die passendste Gesellschaft. Ich sage das nicht im Spott.«

»Ich weiß es«, erwiderte Gerhard; »es kommt aus Ihrem braven Herzen, in dem der Quell des Mitleids durch keine trübste Erfahrung verschüttet werden konnte.«

Sie traten aus der Tür, wo sie gestanden, und kamen die Stufen herab; die Wahnsinnige ging ihnen sofort entgegen und zog Gerhard mit manchen Winken und geheimnisvollen Zeichen und Gebärden auf die Seite: »Reiten der Herr Baron nur nicht zu weit in den Wald! Mit dem Fritz habe ich mich ja wieder vertragen – er liebt mich zu sehr! – aber dem Zempin und dem Deep traue ich noch immer nicht.«

Gerhard dankte der Ärmsten für ihre Warnung, worüber sie ganz glücklich schien. Sie küßte ihm den Saum des Rockes; er machte sich los, schwang sich in den Sattel und sprengte davon. Als er sich, bevor er in den Wald bog, noch einmal umblickte, sah er, wie der Förster sich die Büchse, die in der Haustür gestanden, über die Schulter hing, während die Wahnsinnige, die ihm wieder eine Strecke nachzulaufen versuchte, atemlos stehenbleibend, tiefe Knixe machte und Kußhände nachschickte.


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