Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Sechstes Kapitel.

Vor dem Hause hielt ein Leiterwagen, auf dem in dem Stroh hinter den beiden Sitzsäcken ein paar Koffer und Kisten lagen, eine Staffelei und verschiedenes Gerümpel, das zu den Requisiten von Herrn Spatzings sogenanntem Atelier gehörte. In der Türe begegnete ihm der Maler selbst, der seinen Farbenkasten unter dem Arme trug.

»So sehe ich Sie doch noch!« rief Spatzing; »ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben; ich habe alle Hoffnung aufgegeben.«

Er warf einen wehmütigen Blick zu dem grauen Himmel empor.

»Reisen Sie glücklich!« sagte Gerhard.

»Das wäre ein zu kurzer Abschied für die lange Freundschaft«, rief Spatzing, Gerhards Hand festhaltend und drückend; »Stude gibt mir das Geleit bis Radebas; er macht sich eben zurecht. Ich will nur mein Beduinenzelt vollends auf den Wagen packen; dann wollen wir frühstücken – zum letzten Male! zum allerletzten Male! wenn mir das Rührei nicht vor Rührung im Munde steckenbleibt. Sie frühstücken mit uns! Sie sehen sehr frühstücksbedürftig aus.«

»Sie finden mich auf meinem Zimmer«, sagte Gerhard, sich losmachend.

Er war kaum auf seinem Zimmer angelangt, als die Tür vorsichtig geöffnet wurde und Anton hereinschlich. Er schloß die Tür ebenso leise wieder und legte den Finger auf den Mund:

»Ich sah dich kommen; sie glaubt, ich bin auf meinem Zimmer; wir haben vielleicht fünf Minuten; ich hätte dir geschrieben; es ist besser so, aber kein lautes Wort – wenn sie nicht schon horcht!«

Er legte das Ohr an die Tür und versuchte, als er sich wieder zu Gerhard wandte, das alte schelmische Lächeln:

»Das Mordio, wenn sie sieht, daß ich durchgebrannt bin! Ich habe mich entschlossen: jetzt oder nie! es ist wie eine Erleuchtung des Himmels! Es summte mir im Ohre schon seit gestern abend, die ganze Nacht durch: die erste Nacht in meinem Leben, die ich nicht geschlafen habe, ohne daß mich eine fröhliche Bowle wachhielt: fort von hier! Das stand fest, baumfest; es fehlte nur das Wann? und das Wie? Zuerst gedachte ich, mich dir als Zaunkönig auf die Adlerflügel zu setzen und mich von dir davon- und emportragen zu lassen zur Freiheitssonne. Damit ist es nun nichts, wenn du wirklich – ich hätte es mir freilich gestern abend nicht träumen lassen; aber du warst von je ein unberechenbarer Mensch – hier in der pommerschen Ackerfurche dein Lerchennest bauen willst.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Zempin: er wußte alles, ob von dir, oder der deinen, oder von euch beiden – ich bin nicht daraus klug geworden; genug, er weiß es und war ganz glücklich darüber. Ist überhaupt ein Glückstag für ihn. Gestern nachmittags während du schliefst, war er drüben in Swinhöft, dem Alten seine Lage auseinanderzusetzen, und daß er sich nicht retten könne, wenn der nicht hunderttausend oder so 'rausrückt. Natürlich muß er abziehen, wie er gekommen, mit einigen niederträchtigen Witzen, die der Alte für seine Schwiegersöhne immer parat hatte, in den Kauf. Aber es mochte dabei doch wohl ein bißchen lebhaft hergegangen sein, und der alte Geizdrache sich ungewöhnlich geärgert haben, oder seine Zeit war sowieso abgelaufen, und der Teufel wollte nicht länger warten – du bist heute morgen kaum vom Hofe gewesen, sagt der Inspektor Wenhak, da kommt ein Reitender von der anderen Seite – von Swinhöft: den Alten hat der – na, sagen wir: der Schlag hat ihn gerührt. Julie will heute nachmittag hinüber, falls sie sich bis dahin von dem Schrecken erholt. Zempin ist schon fort – auf dem Rappen – um schneller hinzukommen; ich glaube, sich zu überzeugen, daß der Alte wirklich mausetot. Ist das ein Leben! Gestern will der alte Sünder keinen roten Dreier herausrücken, und heute muß er die Million hergeben! Zempin sagt: es sei eine runde Million, wenn nicht mehr. Da kommt auf ihn eine viertel mindestens. Na, du weißt, ob er sie brauchen kann! Und wie wir so darüber sprechen, – es war bei mir auf dem Zimmer, ich lag sogar noch zu Bett, – und wir darüber einig sind, daß er sich durchaus mit Frau Julia wieder auf einen guten Fuß stellen müsse, und ich ihm rate: er solle ihr die Geschichte mit der Anna erzählen, um so mehr, als ich überzeugt sei, daß Vadder Deep es längst schon an Salchen und Salchen wieder an Frau Julia verraten habe – wird er herausgerufen und kommt nach ein paar Minuten wieder – mit einem Gesicht! – weiß Gott, Gerhard: es ging im wirklich nahe – die Tränen standen ihm in den Augen – er hatte es zuerst gar nicht glauben wollen, aber der Karl Päsel war ihnen selbst im Walde begegnet – dicht vor der Försterei – und hat dabeigestanden, wie der Garloff das arme Kind aus dem Stroh genommen und auf seinen Armen ins Haus getragen – es hat keiner mit anfassen dürfen, und die Strohhalme haben so hinterhergeschleift – großer Gott, und du hast sie aus dem Wasser gezogen! das zu denken! und wie sie wohl schauderhaft ausgesehen! und was für eine süße Dirn sie war, als ich hierher kam: der kleine rote Mund und die stillen treuen Augen und, wenn sie mal lachte, das entzückende Grübchen in der rechten Wange –«

Anton wischte sich die Augen:

»Na, ich habe heute keine Zeit zum Weinen; und so sagte Zempin, oder etwas, das darauf hinauslief. Aber soll ich ganz ehrlich sein, Gerhard: es war ihm schon gar nicht mehr weinerlich zumute. Denn – es klingt schrecklich, aber – such is life! sagen die praktischen Engländer: – nächst dem alten Sünder in Swinhöft konnte ihm kaum jemand gelegener sterben, als die arme kleine Dirne. Er gestand es auch ganz offen ein – du weißt: er ist manchmal kurios offenherzig: seine anderen Verhältnisse hätten ihn weiter nicht geniert; es sei kein einziges darunter, das ihm bewiesen werden könnte oder ihm zu beweisen – nach pommerscher Rechtsgewohnheit – sich der Mühe verlohne: nur das mit der armen Anna hätte ihm schwer auf der Seele gelegen, zumal, nach der Geschichte gestern mit Klempe, alle Hoffnung, es zu vertuschen, verloren gewesen. So hätte denn Frau Julia ohne weiteres den Antrag auf Scheidung begründen können, und von einer Frau, die eben eine Viertelmillion geerbt, läßt man sich nicht scheiden, wenn man es vermeiden kann. Dabei hatte er nur eine Sorge; die war, wie der alte Garloff sich benehmen würde. Aber du kennst Zempin: eigentliche Furcht ist ihm so fremd, wie dem Grafen Richard von der Normandie, und mit den Sorgen nimmt er es so leicht wie Egmont. Weiß Gott, Gerhard: ich mußte an Egmont denken – wie er so dastand und mit einer Handbewegung dieses Aber wegschnellte und mit einem Kopfaufwerfen jenes Wenn, und alles schier und glatt machte: seine Schulden und sein Verhältnis mit Julie, das du – denn dich fürchtet er am allermeisten – nicht weiter stören würdest, denn du heiratetest Fräulein Edith und wärst fortan sein lieber Neffe; und ich heiratete Salchen, das sei absolut notwendig – ich hätte es versprochen, und was ein ehrlicher Mann verspreche, das halte er; und Salchen wisse zu viel von seinen Verhältnissen, als daß er sie nicht wie ein rohes Ei behandeln müsse, und wenn er es auch zur Not begreiflich fände, daß ich die Anna nicht hätte heiraten wollen – in diesem Falle sei er unerbittlich, oder mit unserer Freundschaft habe es die längste Zeit gedauert. Die fünftausend kriegen wir natürlich wieder und noch fünftausend, oder soviel wir wollen, dazu. Ist es nicht furchtbar? Glaubst du nicht, wenn ich mich weigerte: er nähme mich beim Kragen und schleppte mich an den Altar, und Pastor Pahnk müßte uns nolens volens zusammengehen? Es ist ein entsetzlicher Mensch, aber bös kann ich ihm doch nicht sein; im Gegenteil: ich habe nach dir keinen Menschen auf der Welt, glaube ich, so lieb wie ihn, und ich würde ihm alles zuliebe tun und noch tausend Wechsel für ihn ausstellen, und ich habe mir wahrhaftig beinahe Gewissensbisse gemacht, daß ich ihm nicht aus der Verlegenheit helfen und die arme Anna heiraten wollte – man hätte sich ja arrangieren können – und das arme Kind wäre wenigstens nicht ins Wasser gegangen – aber Salchen! nein! hier verwandelt sich die Milch der frommen Denkungsart in gärend Drachengift, und während Zempin perorierte und gestikulierte, hatte ich meine Flucht beschlossen. Spatzing hängt der Himmel zu schwer über Kantzow; seit gestern – seitdem er gehört, daß Zempin bankrott – kann er den Druck nicht mehr ertragen. Er hat sich darauf besonnen, daß er ein halbes Dutzend Aufträge in Grünwald hat, die noch während seines Erdenwallens ausgeführt werden müßten; er wolle zu Weihnachten wiederkommen und Juliens Porträt fertigmachen – Honorarvorschüsse kann er nicht wohl mehr fordern, sintemalen er, glaube ich, das ganze Honorar bereits vier- oder fünfmal bekommen – enfin: er hatte für heute morgen um einen Wagen gebeten. Wir waren mit der Zeit so gute Freunde geworden; kann ein Mensch, kann selbst Salchen es mir verdenken, wenn ich dem guten Freunde bis nach Radebas das Geleit gab? Um die Sache wahrscheinlich zu machen, nehme ich nichts mit: nicht meine Lieblingspfeife, nicht einmal einen Überzieher bei dem Hundewetter! Wer sich durch Schwimmen retten will, wenn das Schiff untergeht, muß sich möglichst leicht machen. Ich habe nur eine Sorge: Spatzing sattelt noch im letzten Augenblicke um. Seitdem er gehört, daß wieder Geld wie Heu da ist, schneidet er Gesichter, als ob er Leibschmerzen hätte. Jede Sekunde ist kostbar: ich schreibe dir, wo ich geblieben; aber nicht früher, als bis ich in Sicherheit bin. Hinrichs soll mich über die Mecklenburger Grenze schmuggeln: er kennt aus langjähriger Erfahrung die geheimsten Schleichwege und Verstecke, in denen mich Argus selbst nicht entdecken würde. Und nun – wie der Geist von Hamlets Vater: ade! ade! gedenke mein!«

Anton hatte sich in Gerhards Arme gestürzt; die Tränen liefen ihm über die dicken Backen.

»Oder soll ich bleiben?« schluchzte er.

»Auf keinen Fall«, sagte Gerhard; »es ist die einzige Möglichkeit, dich vor dem Untergange zu retten.«

»Ich fürchte nur: ich kann nicht mehr auf eigenen Füßen stehen; ich habe es verlernt.«

»So wirst du es wieder lernen, und dann bin ich doch noch immer da.«

»Und du schickst mich nicht ins zweite Examen?«

»Wir sprechen später darüber; ich frage nach dir bei Herrn Hinrichs und suche dich auf, bevor ich selbst –«

»Was selbst?«

»Gleichviel – hast du Geld?«

»Ich weiß nicht – vorgestern hatte ich, deucht mir, noch was«, erwiderte Anton, in den Taschen herumsuchend.

»So nimm auf alle Fälle!«

»Na – meinetwegen! es ist nicht das erste.«

»Und soll nicht das letzte sein – still!«

Es tastete jemand an der Tür, und Spatzing schwankte in das Zimmer; die Rabenlocken hingen ihm über die geisterhaft bleiche Stirn, während die kleinen schwarzen Augen in dunkeln Ringen fürchterlich rollten. Er lehnte sich an den Pfosten; die Arme fielen schlaff herunter, der Kopf lag auf der linken Schulter.

»Habe ich es nicht gesagt!« rief Anton.

»Ich hätte es voraussehen müssen«, murmelte Spatzing in dumpfen Tönen: »es war zu viel für mich. Sich loszureißen auf einmal, wo man festgewachsen ist mit allen Fasern seines Herzens – ohne den Gastfreunden Lebewohl sagen zu dürfen – danken zu dürfen für alles Gute und Liebe, das man monatelang genossen – anstatt des Dankes ein unvollendetes Werk zurückzulassen – meine Nerven ertragen es nicht – mein Künstlerstolz erträgt es nicht – ich kann nicht reisen.«

»Sie werden anders darüber denken, wenn Sie erst auf dem Wagen sitzen«, sagte Gerhard.

»Ich kann nicht denken –« murmelte Spatzing, sich vor die Stirn schlagend: »hier ist es so hohl, so dumpf! und hier in der Brust so schwer – dazu die Magenindisposition, die ich mir vom Waldfest mitgebracht habe – ich bin sicher: dies entwickelt sich zu einem fürchterlichen Typhus.«

»Den Sie entschieden besser in Grünwald durchmachen, wie hier«, sagte Gerhard; »ich rate Ihnen auf das dringendste: reisen Sie sofort, verlieren Sie keine Minute!«

»Aber er sieht wirklich übel aus«, sagte Anton; »und bei dem Wetter und dem Regen!«

Gerhards scharfes Auge hatte längst entdeckt, daß die geisterhafte Blässe und die schwarzen Ränder nirgendswo herstammten als aus dem Malkasten, mit dem sich der Künstler vorhin geschleppt; er war nicht in der Stimmung, an dieser Komödie Geschmack zu finden,

»Der Regen wird Herrn Spatzing guttun; ich sehe es ihm an den Augen an«, sagte er.

Spatzing sprang vom Stuhle empor, auf den er sich eben hatte fallen lassen.

»Kommen Sie, Stude! ich werde unterwegs liegenbleiben – ich weiß es; aber es ist einmal beschlossen – man soll mir nicht nachsagen, daß ich ein Talent, doch kein Charakter sei – so mag es geschehen, obgleich auch Fräulein Saling schwört, daß ich in den offenbaren Tod renne.«

Gerhard wollte eine so günstige Wendung nicht unbenutzt lassen; er tat, als ob die Sache jetzt entschieden, die Reise definitiv beschlossen sei und geleitete die beiden Freunde bis zu dem Wagen. Wäre sein Herz weniger schwer gewesen, er würde über die kläglichen Gesichter haben lachen müssen. Der Maler saß bereits auf dem Strohsack, das mit dem breitrandigen Hute bedeckte Lockenhaupt in die Hände gestützt; Anton, im Begriffe hinaufzuklettern, schüttelte ihm mit einem vielsagenden Blicke noch einmal die Hand, als er, sich wendend, Salchen, die unbemerkt herangetreten war, in der offenen Haustür stehen sah.

Er zuckte zusammen, riß seine Hand zurück und schnitt ein entsetzliches Gesicht, das ein lustiges Lachen darstellen sollte, mit weinerlicher Stimme rufend, während er auf den Wagen hastete: »Also auf acht Uhr spätestens! ich lasse mich auf keinen Fall halten, und wenn Hinrichs seinen besten Rotspon vorfährt! Adieu, Gerhard! adieu, Salchen! und heute abend einen sauern Hering! oder auch zwei!«

»Fort!« rief Gerhard.

Die Pferde zogen an; der Wagen rollte schnell davon, Spatzing wehte mit einem weißen Tuche, das von dunkeln Flecken starrte; Anton hatte nicht den Mut, sich umzublicken; Gerhard wandte sich; Salchen vertrat ihm den Weg. Ihr widerwärtiges Gesicht, das ihn sonst stets demütig anlächelte, war zu einer wütenden Fratze verzerrt; die falschen weißen Zähne blitzten unheimlich durch die blassen Lippen:

»Daran sind Sie schuld«, zischte sie; »aber Sie sollen an mich denken!«

Gerhard würdigte das böse Geschöpf keiner Antwort; er ging an ihr vorüber in das Haus, auf sein Zimmer.


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