Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel.

Eine bekannte Stimme, die laut hinter ihm herrief, riß ihn aus seinen Gedanken. Es war Anton Stude, der mit dem flachsköpfigen Jungen, der jetzt das Kind nicht mehr auf den Armen trug, eilends durch den tiefen Sand herankam. Der Schweiß floß ihm von dem runden Gesicht, dem er mit dem Strohhut Kühlung zufächelte, als er nun Gerhard, der stehengeblieben war, eingeholt hatte.

»Ist das ein Leben! rief er; keine Ruh bei Tag und Nacht! Dieses Fest ist noch mein Tod! Da habe ich nun wieder zwei Einladungen vergessen, und kein Bote aufzutreiben, als dieser entzückende Page – nebenbei der älteste Prinz des Hauses, aus dem du da kommst. Was stehst du denn noch, holder Jüngling, und glotzest mich mit deinen intelligenten Karpfenaugen an? Du könntest schon halb nach Faschwitz geschwommen sein! Ja so, du willst die Briefe! Sehr richtig, mein weiser Daniel! Hier! und nun, göttlicher Argostöter, mach dich auf die geflügelten Sohlen!«

Er versetzte dem Flachskopf einen ermunternden Schlag. Der Junge trabte durch den Sand davon; Anton wischte den Strohhut trocken und stülpte ihn auf: »Bevor ich noch einen Sonnenstich bekomme! Ist das eine Hitze! ist das ein Leben! du hast's gut! aber was führt dich denn eigentlich hierher? und wo willst du hin? Nach Hause? Da haben wir's näher um den Tümpel – Sod, sagen sie hier, und hernach durch das Pförtchen hinter dem Palmenhause.«

Sie gingen an dem versumpften Rande des Pfuhls hin und den von den Wasserkarren zerfahrenen Weg nach dem Parke. Anton war redseliger denn je. Das Fest sei ja in diesem Stadium der Vorbereitungen eine schlimme Schererei, besonders für ihn, der überall angeben, raten, helfen müsse, denn die anderen machten nur dummes Zeug, selbst Spatzing, der doch, als Künstler, etwas von solchen Dingen verstehen sollte. Aber der breitrandige Hut mache den Künstler nicht, und das wallende Lockenhaar, sondern was unter Hut und Locken stecke, und da habe er sich während dieser Tage hundertmal anch' io! zurufen müssen; oder vielmehr: io! schlechtweg! Wenn das Fest gloriös würde – und er hoffte es zuversichtlich – so sei es einzig und allein sein Verdienst!

So schwatzte und prahlte Anton noch ein langes und breites, worauf sein schweigsamer Gefährte nur mit halbem Ohre hörte. Die Gloriosität des Festes mußte allerdings außergewöhnlich werden, wenn sie sich auf gleiche Höhe erheben sollte wie die Kostensumme, die Anton, der leidenschaftlich gern rechnete, sobald es nicht seine Angelegenheiten betraf, eben in ihren einzelnen Posten aufzählte. Von dieser Summe fiel, wie es schien, bis auf einen verschwindend kleinen Teil alles auf Frau Julie, als die Unternehmerin und eigentliche Seele des Ganzen, das heißt: auf Herrn Zempin, dessen letzter Wechsel sich ›vielleicht noch in Grünwald‹ versilbern ließ!

»Sag, Anton«, unterbrach er plötzlich den Redseligen, – »hast du je gehört oder selbst bemerkt, daß Herrn Zempins Geldangelegenheiten nicht so rangiert sind, wie es in seinem eigenen Interesse wünschenswert wäre und die, die ihn lieb haben, wünschen müssen?«

Anton stand still und blickte, die kleinen Augen soweit als möglich aufreißend, den Frager an.

»Aber wie kommst du nur darauf?« brachte er endlich hervor.

»Gleichviel«, erwiderte Gerhard; »antworte immerhin! Du kannst dir denken, daß ich nicht aus müßiger Neugier und am wenigsten in böser Absicht frage. Du hast dergleichen gehört und selbst bemerkt? nicht wahr?«

»Nun ja!« erwiderte Anton; – »gehört – was hört man nicht, wenn man so halbe und ganze Nächte lang mit ein paar guten Freunden die Beine unter den Bostontisch steckt? Man will sich doch zwischendurch auch einmal unterhalten, wobei man denn, was wirklich ist und was sein könnte, durcheinandermischt, wie die Karten, die man eben aus der Hand gelegt hat. Und selbst bemerkt? höre! das ist eine verzweifelt indiskrete Frage! höre du! Darauf ließe sich viel antworten oder wenig, je nachdem man den Begriff ›rangiert‹ eng oder weit faßt. Bei enger und engster Fassung müßte ich sagen: ja, ich habe dergleichen wohl hin und wieder bemerkt; bei weiterer und nun gar weitester ist Herr Zempin der rangierteste Mensch von der Welt; denn ich weiß nicht, wie man rangierter sein kann, als wenn man das Geld, das man braucht, entweder hat oder doch gepumpt kriegt.«

»Also das letztere ist doch manchmal nötig?« fragte Gerhard.

»Aber das ist doch selbstverständlich!« rief Anton. »Kann ein Mensch oder eine Kommune, ein Staat existieren, ohne manchmal pumpen zu müssen? Oder ist nicht vielmehr diese Notwendigkeit Zeichen und Beweis der wirtschaftlichen Solidität des betreffenden Einzel- oder Gemeinwesens? Ja, sind sie nicht um so reicher, je mehr Schulden sie haben? Wer in Rom hatte mehr als Cäsar, aber wer gab auch glänzendere Feste? welcher Staat hat eine größere Schuldenlast als England, und jedes Kind weiß, daß es das reichste Reich der Welt ist! So hat auch Herr Zempin Schulden – gewiß, und ich bin stolz darauf, daß er sie hat!«

Anton lächelte triumphierend; augenscheinlich hielt er seine Beweisführung für durchaus gelungen und Gerhards Schweigen für eine Huldigung seiner siegreichen Argumente.

Aber Gerhard überlegte nur, ob er es wagen dürfe, den leichtsinnigen Gefährten in die Mitwissenschaft seines traurigen Geheimnisses zu ziehen. Es schien gefährlich und vor allem nutzlos; gefährlich, weil der Schwätzer in diesem Falle schwerlich reinen Mund halten, nutzlos, weil der Vertrauensselige ihm keinen Glauben schenken würde, und er ihm doch das leidige Dokument, das er in der Tasche trug, nicht zeigen durfte.

Und indem er den Inhalt des ominösen Briefes, den er fast wörtlich behalten, noch einmal in Gedanken durchlief, erinnerte er sich auch der Initialen, mit denen der Advokat den Aussteller des Wechsels bezeichnet hatte: A. St. – Anton Stude! Es schien wie ein toller Einfall, erzeugt von der Hundstagssonne, die auf sie herabbrannte, aus dem Chaos durcheinanderhastender Gedanken in dem überreizten Gehirn, und doch, und doch –

Sie hatten die Hinterseite des Palmenhauses erreicht, wo im Schatten der steinernen Mittelhalle ein paar Bänke standen. Gerhard setzte sich; nur widerstrebend nahm Anton neben ihm Platz: er habe es ganz besonders eilig; man erwarte in der Laube mit Ungeduld seine Rückkehr und die Nachricht, daß er einen Boten aufgetrieben; Gerhard möchte doch mitkommen, man empfände schmerzlich seine Zurückhaltung, die man bisher als Scheu ausgelegt habe, seit vorgestern aber – seit der Baronisierung – sehr geneigt sei, für Hochmut zu nehmen.

»Laß sie es nehmen, wofür sie wollen«, sagte Gerhard, »ich bin nun einmal in keiner Gesellschaftsstimmung und würde durch meine Gegenwart die muntere Laune nur beeinträchtigen. Auch will ich dich nicht lange aufhalten; möchte dir nur noch eine Frage vorlegen –«

»Was mir der Alte gestern geschrieben hat?« rief Anton, – »ich hätte es dir schon gesagt, wenn wir nur eine Minute ungestört beisammen gewesen wären. Der Alte schreibt –«

»Davon ein anderes Mal; ich wollte dich fragen, ob Herr Zempin beim Arrangement seiner Geldgeschäfte jemals deine Hilfe in Anspruch genommen hat?«

Anton riß wiederum die kleinen Augen weit auf.

»Höre du! das ist –«

»Wieder eine sehr indiskrete Frage – ich weiß es, und zu der ich den Mut nur in meinem herzlichen Interesse für Herrn Zempin und dich gefunden habe. Ich werde dir deshalb auch in keiner Weise zürnen, wenn du mir einfach antwortest: das geht dich gar nichts an.«

»Meinem besten, liebsten Freunde das antworten?« rief Anton, »nun gar! eher würde ich mir die Zunge abbeißen. Du kannst mich fragen, was du willst. Ich warte nur darauf, habe immer nur darauf gewartet und mich gewundert, daß du so wenig, so eigentlich gar nichts fragst; und da habe ich dir allerdings auch nichts erzählt. Denn, siehst du, Gerhard, eine Maxime muß selbst der leichtfertigste Mensch haben, und: was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß – höre! das ist meine große, einzige Maxime, mit der ich noch immer gut gefahren bin, und zu der die anderen: wer viel fragt, bekommt viel Antwort – Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und so weiter – ja nur Korrolarien, Ausführungen, Folgerungen, wie du es nennen willst, sind. Und in deinem Falle war doppelte Vorsicht dem weisen Manne, der ich mir zu sein schmeichle, doppelte Pflicht. Ich sagte mir: schilderst du dem Zyklopenvolke hier den Liebling deiner Seele – deliciolae nostrae, sagt Tacitus, oder ist es Cicero? – nach dem Leben, so stolz, eigen, bedächtig und fein – wie die Knaben Venedigs, weiß du, von denen jeder Doge werden kann – wäre das den Glotzaugen nur ein Steckbrief und eine Mahnung, einem Menschen mit so besonderes verdächtigen Kennzeichen möglichst weit aus dem Wege zu gehen. Umgekehrt! schilderst du ihm die Zyklopen, wie sie wirklich sind: als unendliche Fresser und Säufer, und sehr geneigt, bei der kleinsten Provokation mit den größten Felsstücken um sich zu werfen – ja, so wird dein feiner, kluger Odysseus sich wohl hüten, das geschnäbelte Meerschiff an diesen klippenreichen Strand zu steuern. Und, höre, Alter, ich wollte dich doch so gern hier haben! und wenn's dir leid tut, daß du gekommen bist – und ich habe den starken Verdacht – denke, dem alten Schlingel von Anton tut's nicht minder leid, daß er dir ein Leides zugefügt, aber er hat's gut gemeint, und so seien ihm seine Sünden vergeben! Amen!«

Anton hatte Gerhards Hand ergriffen und an seine Brust gedrückt, gerade gegen sein Zigarrenetui in der Seitentasche. Er nahm es sofort heraus, entzündete sich eine Zigarre und dampfte in schweigender Rührung mächtig vor sich hin.

Oder wollte er nur der Antwort auf die ihm gestellte positive Frage ausweichen? Dann war es unfein, weiter in ihn zu dringen; aber Gerhard wußte sich von einem Interesse beseelt, dem alle anderen Rücksichten nachstehen mußten. So wiederholte er seine Frage.

Anton nahm den Strohhut ab und rieb sich mit dem Tuch das kurze, feuchte Haar.

»Arrangement seiner Geldgeschäfte, sagte er, »– meine Hilfe – höre, du stellst deine Frage auch – was nennst du meine Hilfe? nennst du zum Beispiel die kleine Gefälligkeit so, daß man seinen Namen, wenn gerade kein Würdigerer zugegen ist, auf einen Wechsel als Aussteller, oder wie das Ding heißt, kritzelt?«

»Also wirklich!« sprach Gerhard bei sich, und laut sagte er, indem er sich bemühte, einen möglichst gleichmütigen Ton anzuschlagen: »Freilich nenne ich das so, und nenne es eine große Gefälligkeit, die unter Umständen zu einer großen Verantwortlichkeit werden kann.«

»Verantwortlichkeit?« fragte Anton verwundert; »Wie das? unter welchen Umständen?«

»Wenn der Wechsel protestiert wird, das heißt, der Akzeptant den Wechsel am Verfalltage nicht einlöst, vermutlich, weil er ihn nicht einlösen kann, wo denn der Gläubiger das Recht hat, sich an den Aussteller zu halten, respektive an die Giranten, soviel ihrer sind.«

»Die dann statt des Akzeptanten bezahlen müßten?«

»Ganz gewiß, und auch sonst an die Stelle des ersten Schuldners treten in all den drakonischen Konsequenzen einer Wechselschuld, die das Wechselrecht sehr gewissenhaft aufzählt, als da sind: Exekution, Arrest und so weiter.«

»Das wäre ja eine kuriose Geschichte«, sagte Anton, »eine ganz verfluchte Geschichte! das Schuldgefängnis in Grünwald, an dem ich gelegentlich vorübergekommen, hat gar kein fröhliches Aussehen.«

»Ebensowenig wie du selbst in diesem Moment.«

»Da mag der Kuckuck fröhlich sein, wenn einer einem solche Raupen in den Kopf setzt!«

»Aber es handelt sich doch nur um ein Problema, wie der Patriarch im Nathan sagt.«

»Den Teufel handelt es sich um ein Problema!« rief Anton; »im Gegenteil, um ein ganz reelles Fakt! es ist noch nicht drei Tage her, als er mich in sein Zimmer rief und mich meinen Namen auf so einen verdammten Wisch kritzeln ließ. Ich hatte gar keine Zeit und auch gar keine Lust, das Zeug zu lesen, ich denke aber, es waren tausend Taler! Der Tausend! ich habe in meinem Leben noch keine hundert beisammen gehabt, geschweige tausend!«

»Das würde denn auch weiter nichts zu bedeuten haben, wenn die Verhältnisse Herrn Zempins so rangiert sind, wie du annimmst«, erwiderte Gerhard.

»Natürlich hat es nichts zu bedeuten«, rief Anton, »es ist ja nur, daß du einen mit deinem ernsthaften Gesicht und deinen verzweifelten Fragen am hellichten Tage gruselig machst. Nicht rangiert, ei, das wäre noch schöner! Da wären ja auch unsere – ich meine Salchens fünftausend in den Rauchfang geschrieben.«

»Was ist es damit?« fragte Gerhard, »kannst du mir es sagen?«

»Warum nicht?« erwiderte Anton, »da wir gerade davon sprechen, und ich sowieso nach dem Briefe des Alten zu einem Entschlusse kommen muß – daß sich Gott erbarm! Aber höre! du bist schuld daran! du hattest mir so ins Gewissen geredet – na, und ich bin ein lenksamer Mensch und habe wirklich an den Alten geschrieben, und wie die Sachen hier ständen; ich meine, daß der Junge schon so lange tot ist. Als ob ich was dafür könnte! meinetwegen möchte er heute noch leben! und lebte er doch! Aber nun ist der Alte – ich hatte es vorausgesehen – fuchswild! auf der Stelle soll ich zurück – zu ihm – nach Vacha – unter seinen höchsteigenen Augen mich auf das zweite Examen vorbereiten – in einem halben Jahre spätestens müßte ich fertig sein! nun gar! in einem halben Jahre! nicht in einem halben Jahrhundert! Nein, bei allen Olympiern, da heirate ich lieber Salchen, die, nebenbei, nun sie sieht, daß ihr Theseus sich die Flügelschuhe anzieht – ich hatte ihr natürlich den Brief des Alten als Medusenschild vorgehalten – in solcher verzweifelten Lage greift man zu verzweifelten Mitteln – nicht länger Pardon gibt und, wie der rasende See – sie raste wirklich – ihr Opfer haben will. So ist denn – ich meine, so hat sie denn beschlossen, daß ich definitiv umsatteln und – man müßte lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre – mein jung frisch Leben in Stulpenstiefeln an ihrer Seite auf Retzow vertrauern soll.«

»Auf Retzow?« rief Gerhard.

»Sie ist ein höllisches Frauenzimmer«, erwiderte Anton, sich den Kopf kraulend; »und teufelmäßig gescheit – das muß ihr selbst der Feind lassen. Sie hat bei Frau Julia einen Stein im Brett, sagt sie, wenn ich gleich nicht weiß, was sie damit meint, und schwört, Frau Julia müsse tun, was sie wolle. Warum nicht? muß ich Unglücklicher es doch auch! Frau Julia soll sich nun hinter Herrn Zempin stecken, bei dem Salchen ebenfalls einen Stein im Brett hat. Besagten Stein kenne ich nun; er besteht – und damit komme ich auf unsere Hämmel zurück – aus fünftausend Talern, die Salchen im Vermögen und – ich weiß nicht bei welcher Gelegenheit – es ist schon vor meiner Zeit gewesen – Herrn Zempin geliehen, und für die er ihr eine Verschreibung – so heißt es ja wohl? – auf das Retzower Inventar gegeben. Na, fünftausend ist nicht viel auf einem Gute, das unter Brüdern hunderttausend wert –«

»Und zur Hälfte Eigentum des Bruders ist«, warf Gerhard ein.

»Bleiben noch fünfzigtausend – kalkulierte Anton weiter; von denen uns also schon der zehnte Teil gehört; die Rechnung stellt sich also für uns um so günstiger.«

»Wenn ihr die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht habt.«

»Was heißt das?«

»Das heißt: daß hierzulande ein Hypothekenbuch nicht existiert und infolgedessen dergleichen Verschreibungen, wenn sie nicht in aller Form Rechtens abgefaßt sind, einen sehr fraglichen Wert haben, jedenfalls den eigentlichen Wechseln nachstehen. Aber du weißt das gewiß so gut wie ich.«

»Keine leiseste Ahnung!« sagte Anton.

»Denn daß für Retzow bereits andere wechselpflichtige Verschreibungen existieren, hörte ich zufällig«, fuhr Gerhard fort – »ich habe keine Veranlassung, darüber ein Stillschweigen zu beobachten, das mir nicht auferlegt ist.«

Und er teilte Anton mit, was er vorgestern über Tisch von Frau Sallentin erfahren.

Anton schüttelte den Kopf: »Nun gar!« sagte er; »zehntausend! höre, du: ich glaube, die gute Dame hat sich nur wichtig machen wollen; und wenn auch, das ist ja gar nichts; die Herren leihen sich hier gegenseitig Tausende und aber Tausende, ohne eine geschriebene Zeile, schon einfach deshalb, weit ihnen das Schreiben ein Scheuel und Greuel ist – ich kenne welche, die seit Jahren keine Feder in der Hand gehabt haben. Und dann: Sallentins sind steinreich; Luising kann schließlich auch mit ihrem schönen Schweden wo anders glücklich sein – je weiter von Kantzow fort, je glücklicher, denn bei der holden Julia wird ja jeder zum Romeo.«

Der Ernst des Gespräches hatte schon viel zu schwer auf Anton gelastet, als daß er eine so reizende Gelegenheit, zum Scherz zurückzukehren, unbenutzt vorübergehen lassen konnte. Er berührte Gerhards Seite, blinzelte ihm schlau zu und kicherte voll innigstem Vergnügen in sich hinein. Gerhard war es unmöglich, in das Lachen einzustimmen. Mit jedem Worte, das gesprochen wurde, erschien ihm die Lage Herrn Zempins mißlicher und dunkler; eine Verbindlichkeit wälzte sich auf die andere, wie an dem heißen Nachmittagshimmel sich gestern und vorgestern Gewitterwolke über Gewitterwolke türmte. Und dabei war ein Umstand, der ihn besonders peinlich berührte: hier trat nun bereits ein dritter Bewerber um Retzow auf. Hatte Herr Zempin bei den anderen ebenso große Hoffnungen erweckt, wie er es, wenigstens früher, bei dem Verwalter ganz offenbar getan? Gerhard mußte sich darüber Gewißheit verschaffen: Herrn Zempins Ehre schien ihm dabei auf dem Spiele zu stehen. Er fragte Anton, ob er die Mitbewerberschaft Herrn Klempes nicht fürchte; Anton lachte.

»Das ist nun wieder so eine Donquichotterie des guten Zempin«, rief er, »eine von der Sorte, derer du auch fähig sein würdest. Da ist ein hübsches Mädchen, das sich in einer schwachen Stunde vergessen hat; item ein grimmiger Vater, der das Mädel womöglich totschösse, wenn der Handel nicht wenigstens einen legitimen Ausgang nähme; item ein roher, gewissenloser Patron, der entschieden vergessen würde, das Mädel zu heiraten, wenn ihm nicht ferner weite gute Verköstigung à la Karl Buttervogel zugesagt wird; item ein Enakssohn von einem Menschen, der in seinem Riesenherzen Raum für alles hat: Mitleid mit einem schönen, weinenden Mädchen, Achtung vor einem schon so tief unglücklichen alten Manne, dem die Geschichte das Herz brechen würde; eine Art Wohlgefallen sogar an dem Clown, an dem er Natur studiert – nimm alles nun in allem, und ich zweifle gar nicht: er wird auch unter anderem dem Clown Retzow versprochen haben; aber versprechen und halten – halten können – das ist denn doch nicht immer ein und dasselbe.«

»Um so schlimmer für alle Teile«, sagte Gerhard; »besonders wenn, wie hier, so viel Menschenglück und Leid, vielleicht Tod und Leben, von der Erfüllung des Versprochenen abhängt. Übrigens weiß ich mit Bestimmtheit, daß Klempe selbst die Hoffnung aufgegeben und den mächtigeren Bewerbern das Feld räumen will. Ich meine nur, deine Liste ist noch nicht vollständig, der Mächtigste fehlt noch.«

Anton blies eine sehr lange und dünne Rauchsäule in die Luft, indem er dabei den Versuch machte, seine kurze, dicke Nase zu erblicken. Dann wandte er die zwinkernden Äuglein auf den Gefährten mit einem etwas unsicheren, spürenden Ausdruck und sagte in zögerndem, tastendem Ton:

»Erinnerst du dich noch der kleinen Minna Fischlin in Bonn, für die du als blutjunger Fuchs so schwärmtest? Das allerliebste Blondinchen, das hinter der runden Vase mit den Goldfischchen hervor so schelmisch über die Straße herüber nach dir kokettierte, und dem du das reizende Sonett machtest, indem du ihren Namen mit den besagten Bewohnern der Vase in eine so sinnige Verbindung brachtest, um es dann mir – denn damals hattest du noch volles Vertrauen zu deinem getreuen Pylades – vorzulesen und mein Urteil zu hören? und erinnerst du dich, was das kritische Orakel – geistreich dunkel, wie Orakel pflegen – antwortete: Laß sie schwimmen, alter Junge, laß sie schwimmen! – du aber befolgtest den Rat und tatest wohl daran. Na, Alter, und dasselbe hätte ich gesagt, hättest du mich diesmal deines Vertrauens gewürdigt. Laß sie schwimmen! hätte ich gesagt, laß sie in Gottes Namen schwimmen! wenn schon aus keinem anderen Grunde, so aus dem, daß du sie doch nicht wirst halten können in deinem großmütig-weitmaschigen Netz. Lieber Himmel! man muß das mit angesehen haben drei Jahre lang, wie wunderbar behend dies Fischlein ist, wie es in diesem Moment so still dicht unter der Oberfläche steht, daß, wer's nicht besser weiß, glaubt, es mit der Hand greifen zu können, und im nächsten in die Tiefe schießt und an dem entgegengesetzten Ende des Teiches wieder auftaucht! Das Stückchen hat sich nun schon mindestens ein halbes Dutzend Male wiederholt während dieser drei Jahre mit den nötigen, durch die Umstände gebotenen Änderungen, aber immer mit derselben Virtuosität der Ausführung und, ich fürchte, immer zu demselben Endzweck, der, wie es scheint, denn nun ja auch glücklich erreicht ist. Na, Alter, du brauchst dich deshalb nicht zu schämen; Hochmut kommt vor dem Fall und Großmut vor dem Betrogenwerden! Und du wirst dich deshalb nicht hundert Fuß vom Felsen stürzen, wie der arme sentimentale Junge, mit dem sie sich von Lafing in der Laube überraschen ließ, bloß um ihm in Gegenwart Lafings einen grausamsten Laufpaß zu geben. Ich erwähne diese Geschichte mit Absicht, weil ich vermute, daß sie dir bereits zu Ohren gekommen, aber in der Version, die Frau Julie ihr gelegentlich gibt, wenn es ihr gerade so paßt; ein andermal erzählt sie sie auch wieder anders. Also noch einmal, du brauchst dich weder zu schämen noch zu grämen – im Gegenteil, es wäre in keinem Falle ein Glück – es wäre ein positives Unglück für dich gewesen. Ein bequemer Schwiegervater ist der mehr als halb verrückte Vogelsteller doch wahrhaftig nicht, und eine liebenswürdigere Schwägerin als die Kopfhängerin von Schwester kann ich mir auch schon vorstellen. Verwandte überhaupt! höre, ich habe vor Verwandten einen Horror, der wohl von meinen zehn Schwestern herstammen mag; und das einzig Gute, was ich Salchen nachreden kann, ist, daß sie absolut gar keinen Anhang hat. Ein solcher Vorzug wiegt in meinen Augen alle goldigsten Gaben der Aphrodite auf. Nimm zum Exempel das hübsche Försterkind; ich schwärme für sie; ich bin damals, als ich hierher kam, ein paar Wochen ganz toll gewesen – du magst mir es glauben oder nicht – ja, ich weiß nicht, ob ich nicht noch selbst heute – na – es ist unnötig, darüber zu reden – aber der Vater! der Vater! mein Gott, ich habe absolut keine Vorurteile, und daß er zehn Jahre lang Festungs- und Baugefangener gewesen und Ketten getragen – ich vermute, du weißt das noch nicht einmal: er hat anno fünfzehn, als die Truppen aus Frankreich zurückkehrten – er selbst, als Feldwebel, mit Ruhm und Orden bedeckt – er soll der Bravste der Braven gewesen sein – einen Offizier erstochen, der ihn aufs gröblichste insultiert, und ist, zum Tode verurteilt, wegen seiner Bravour vor dem Feinde, erst zu lebenslänglicher Festungsstrafe, dann auf Verwendung, ich weiß nicht wessen, völlig begnadigt worden – was ich sagen wollte, ja! diese seine Vergangenheit hätte ich, ohne die Wimpern zu zucken, mit in den Kauf genommen – aber den Blick der hohlen, traurigen Augen – die namenlose Schwermut um den verschlossenen Mund – und das so Tag für Tag vielleicht zu sehen – nein, höre, Gerhard, lieber gleich schon selbst tot, als so sich das bißchen helle Lebensfreude Schatten um Schatten verdüstern zu lassen. Und nun – meorum prime sodalium – du mein erster und bis zur gegenwärtigen Stunde liebster Genosse – mit dem ich so oft den Tag bei einer Bowle, die du bezahlen mußtest, um seine Langeweile betrogen, das glänzende Haar, wenn nicht mit syrischem Ölzweig, so doch mit der Zereviskappe der Rhenanen geschmückt – laß ab vom herzkränkenden Leid und – uns zu der Gesellschaft gehen, wo liebenswürdige Frauen und reizendste Mädchen nicht mehr verlangen, als dir zu huldigen mit doppelter Inbrunst, weil du solange dich hast anschmachten lassen, und denen du dich schon um deshalb gnädig zeigen mußt, sintemalen zwar auch Götter verwundet werden können, dann aber doch nicht ordinäres Blut, sondern Ichor bluten.«

Während Anton so in gewohnter Weise Sinn und Unsinn, Geistreiches und Albernes durcheinandermischte, war Gerhards Herz von den wechselndsten Empfindungen bestürmt, aus denen sich aber mit aller Entschiedenheit ein Entschluß losrang, welcher in der letzten Ermahnung des Genossen einen etwas wunderlichen, aber doch treffenden Ausdruck fand; der Entschluß, der Gesellschaft, koste es, was es wolle, sein wahres, von Scham und Zorn erglühtes Antlitz nicht zu zeigen; ihr so einen Triumph zu rauben, wonach sie zweifellos bereits sehnsüchtig ausschaute. Denn daß Julie sein ihm abgepreßtes Geständnis sofort verwertet und die große Neuigkeit jedem, der sie hören wollte, mitgeteilt, ging ja schon aus der Sicherheit hervor, mit der Anton über sein Verhältnis zu Maggie gesprochen, als über eine Sache, die man wohl kommentieren könne, deren Existenz aber über jeden Zweifel feststehe.

Und seltsam – dies alles und was damit zusammenhing, es kränkte ihn nicht so tief, wie die wenigen mißachtenden Worte, die Anton über Edith gesprochen. Hier – das fühlte Gerhard tief – war eine Kluft, die nicht zu überbrücken war. Aber freilich, wie konnte er für die feinsten und tiefsten Schwingungen der Saiten seines Herzens, denen er selbst in entzückter Bewunderung ahnungsvoll lauschte, ein Verständnis erwarten! Der Freund, den sein Humor nicht hinderte, gewisse Verhältnisse und Personen mit durchaus nüchternen Augen in dem klarsten Lichte zu sehen – er hatte keine Ahnung davon, wer der gefährlichste, der einzig gefährliche Bewerber um Retzow war! Sollte er den Namen nennen? einen Verdacht aussprechen, für den er nicht den mindesten Beweis hatte, so wenig, wie er beweisen konnte, daß, was sich da im Süden – und heute um mehrere Stunden früher als die Tage vorher – am Horizonte zusammenzog, keine unschädlichen Dünste seien, sondern ein Gewitter, das nur so lange Zeit brauchte, um desto furchtbarer loszubrechen?

Und anblicks dieser weißgrauen Dunstgebilde, die, der aufsteigenden Sonne folgend und sich allmählich verdichtend und verdunkelnd, am Nachmittage wieder, als türmendes Gebirge, mit gleißenden Kanten und Zacken, fast bis in den Zenit ragend, über das hohe Dach des Herrenhauses herüberdräute, saß Gerhard Stunde um Stunde in der großen Laube am Rasenplatze inmitten der zahlreichen Gesellschaft. Unter Frau Juliens Vorsitz zog sie die Einzelheiten des famosen Waldfestes, das nun übermorgen definitiv stattfinden sollte, zum hundertsten Male in genaueste Erwägung. Herr Spatzing rief enthusiastisch: durch den Herrn Baron käme die Sache erst in den rechten Schwung! und Herr Bagdorf, der sich seit vorgestern nicht hatte blicken lassen und jetzt nur ›auf eine Minute‹ herübergekommen, sagte einmal über das andere: »Sehr gut! ganz famos!« und Julie, die anfangs scheu und beobachtend ein wenig beiseite gestanden, näherte sich ihm und drückte ihm mit einem vielsagenden und noch viel mehr verheißenden Blicke stumm die Hand.


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