Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Siebentes Kapitel.

Und nun mußte er das Wann und Wie der eigenen Abreise in Erwägung ziehen. Ihm bot die Lösung größere Schwierigkeit, als dem Freunde, den sein Leichtsinn davontrug, wie den Vogel die Schwingen. Ließ Anton doch keine halbgetane Arbeit zurück, kein Geschäft unerledigt, keine Vertrauensposten unausgefüllt! Aber er, in dessen Händen, nicht erst seit Klempes Verschwinden, sondern eigentlich vom ersten Tage an, die ganze große Wirtschaft gelegen! der – was wohl in Kantzow vor ihm noch keiner getan – ein genaues Buch, eine ordentliche Korrespondenz geführt hatte! der sich sagen mußte, daß sein Fortgehen – zumal jetzt in der Erntezeit, bei den schwierigen Arbeiterverhältnissen – die heilloseste Verwirrung zur unmittelbaren Folge haben würde!

Und doch, wie konnte er bleiben? auch nur die kürzeste Frist? und wie konnte er Herrn Zempin gegenüber seinen Entschluß, gehen zu wollen, rechtfertigen, ohne daß dabei Dinge zur Sprache kommen mußten, die auszudenken schon eine Marter und die auszusprechen ihm unmöglich war? Hatte er doch zu dem genialischen Manne mit so großer Bewunderung aufgeschaut! dem liebenswürdigen Freunde sein ganzes Herz entgegengetragen! und sollte nun sagen: ich kann dich nicht mehr lieben und nicht mehr achten, dich, der du mit den herrlichsten Gaben nicht gewissenhafter geschaltet hast, wie mit deinem Vermögen; dich, in dessen Herzen keine edle Wallung sich regt, die nicht sofort von der trüben Flut rücksichtsloser, erbarmungsloser Selbstsucht verschlungen wird; dich, der du im Grunde auch nur ein Komödiant bist und die wahre Farbe deines Gesichtes mit der prahlerischen Schminke der Humanität bestrichen hast, wie der armselige Mensch da vorhin sich seine Jammermiene aufgemalt hatte!

Und ist kein Gefühl, außer deiner Selbstsucht bei dir echt, so hat deine Freundschaft zu mir die Probe nicht besser bestanden! Wie könnte auch wahre Freundschaft in einer Seele wohnen, die sich der eigenen Unwahrheit bewußt ist? wie könnte an das Zartgefühl, an die Selbstbeherrschung eines anderen glauben, wer jedem rohesten Triebe blindlings zu folgen von Jugend auf sich gewöhnt hat? Es würde ja nur in deinem Sinne sein, wenn ich neben der Liebe zu einem edelsten Mädchen noch Muße fände für eine Buhlschaft mit einem verführerischen Weibe!

Und Julie! sie mag so schlecht nicht sein, als sie leichtsinnig und wetterwendisch ist; aber wenn sie sich in ihre plötzliche Neigung zu mir nur aus Verzweiflung gestürzt hat, oder das Ganze auf eine Laune hinausläuft – es würde gerade hinreichen, mir den Aufenthalt hier zu verleiden und unmöglich zu machen; wäre auch das unsäglich Traurige, das namenlos Grausige nicht, das rings um mich her wie verworfenes Unkraut aufschießt. Nein, nein! jetzt müssen alle anderen Rücksichten schweigen; jetzt kann keine Rede mehr sein von Verletzung der Form, der Etikette; jetzt ist deine höchste Pflicht, dich zu retten, ehe das Unkraut dich erstickt. Mögen sie's dann nehmen, wie sie wollen!

Während Gerhard so trübe Gedanken in seiner Seele wälzte, hatte er längst begonnen, seine Sachen aus Schränken und Kommoden zusammenzusuchen und in die Koffer zu packen, die er selbst aus einer Kammer in der Nähe herbeigeholt. Die Arbeit würde ihm sonst schnell und leicht von der Hand gegangen sein, da er bei seiner Ordnungsliebe immer alles bereit hatte; heute schien er nicht aus der Stelle zu kommen: die einfachsten Handgriffe wurden ihm schwer, er hatte sich jeden Augenblick darauf zu besinnen, was er eigentlich gewollt; wiederholt mußte er sich setzen, um ein ohnmächtiges Gefühl der Ermattung zu verwinden.

Dieser Zustand war erklärlich genug, aber deshalb um nichts weniger peinlich, jetzt, wo er jeder Kraft der Seele bedurfte und auch des Leibes. Lag doch noch ein so schweres Tagewerk vor ihm! Hatte er doch noch Meilen zu reiten, bevor er – wohl erst gegen Abend – in Grünwald angekommen sein konnte. Von dort wollte er morgen einen Wagen hierher schicken, die zurechtgestellten Sachen abholen zu lassen, und dann –

Ja, was er dann tun würde, was dann aus ihm werden sollte – er mochte, er konnte nicht daran denken. Grau und unbestimmt und trostlos, wie der Himmel heute über die Erde sich breitete, lag die Zukunft vor ihm.

Endlich waren die Koffer gepackt. Er setzte sich an den Tisch und schrieb mit fliegender Feder einen Abschiedsbrief an Herrn Zempin, in dem er ihm für die Gastfreundschaft, die er in seinem Hause genossen, dankte und ihn um Verzeihung bat, wenn Gründe, die im einzelnen darzulegen er heute nicht die Kraft in sich fühle, ihn zwängen, dieses Haus zu verlassen, ohne persönlichen Abschied zu nehmen. – Er fügte eine kurze Relation des Standes der Wirtschaft hinzu, und daß Herr Zempin die Rechnungsbücher und sonstigen Papiere in seinem Bureau geordnet vorfinden würde.

Der Brief, den er noch einmal durchlas, war verworren und ungeschickt; er fühlte es wohl, aber auch, daß ein zweiter Versuch nicht besser ausfallen möchte. So siegelte er denn, um den Brief hernach selbst auf das Bureau zu legen.

Und nun Julie!

Er hätte ihr am liebsten ebenfalls geschrieben; aber da sie einmal zu Hause war, mußte er anfragen lassen, ob sie ihn empfangen wolle. Es war zugleich die einzige Möglichkeit, ihr die Schleife zurückzuerstatten, bevor sie in andere Hände kam.

Der Kasten der Kommode, in den er heute morgen das Band gelegt, war beim Einpacken bis jetzt unberührt geblieben. Der Kasten hatte einen besonderen Schlüssel, den er stets bei sich trug; der Schlüssel wollte nicht recht schließen, wie es der Fall zu sein pflegt, wenn mit einem nicht völlig passenden Schlüssel an einem Schlosse gearbeitet ist. Endlich gelang es ihm, zu öffnen. Die Schleife war fort; auch an den Briefschaften, die er hier, sorgfältig geschichtet, aufzubewahren pflegte, hatte die diebische Hand gerührt, obgleich sie sich offenbar bemüht, die gestörte Ordnung nachträglich wiederherzustellen.

Gerhard klingelte nach dem Mädchen. Das Mädchen hatte heute nicht das Zimmer des Herrn Barons aufgeräumt; Fräulein Saling hatte es ausnahmsweise getan; sie selbst war unten beschäftigt gewesen.

Das Mädchen sah mit Erstaunen die gepackten Koffer.

»Wollen der Herr Baron denn auch fort?« fragte sie.

Die einfache, selbstverständlich Frage des Mädchens hätte Gerhard beinahe aus der Fassung gebracht. Das Auffallende, gesellschaftlich Unschickliche seines Schrittes trat ihm mit beschämender Klarheit vor die Seele. Er hatte nicht den Mut, dem Mädchen die Wahrheit zu sagen. Er beabsichtige allerdings, in nächster Zeit Kantzow zu verlassen, da wichtige Geschäfte ihn in seine Heimat riefen; nun habe er, da heute morgen Zeit im Überflusse sei, ein paar Sachen, die er nicht weiter brauche, im voraus zurechtgelegt. Ob die gnädige Frau ihn wohl empfangen würde? Er müsse ein paar Besuche in der Nachbarschaft abstatten, von denen er vor Abend nicht zurück sein könne; möchte aber gerade deshalb gern die gnädige Frau sprechen, bevor sie selbst nach Swinhöft fahre.

Das Mädchen war gegangen, wie es Gerhard geschienen, durch seine Erklärung keineswegs befriedigt. Er beschloß, ein paar Sachen, die noch umherstanden – unter ihnen der Pistolenkasten – lieber so zu lassen, um seiner Lüge wenigstens den Anschein der Wahrscheinlichkeit zu geben. Das Mädchen kam nach wenigen Minuten zurück: Frau Zempin bedauere außerordentlich; aber sie fühle sich unwohl und müsse im Bett bleiben, wenn sie heute nachmittag zu der Fahrt nach Swinhöft kräftig genug sein wolle.

»Ich habe Frau Zempin einiges Notwendige mitzuteilen, das ich ihr schreiben will. Warten Sie einen Moment.«

Er schrieb – in Gegenwart des Mädchens:

»Ich gehe, um nicht wiederzukehren. Werden Sie mich trotzdem nicht empfangen?«

Das Mädchen kam nach wenigen Minuten mit einem ebenfalls versiegelten Zettel zurück:

»Gehen Sie! und mögen Ihnen die Arme, in die Sie eilen, geöffnet sein, wie es mir heute nacht Ihre Arme waren.«

»Es ist gut«, sagte Gerhard. »Erzählten Sie mir neulich nicht, Sie wollten den Dienst hier wieder aufgeben?«

»Ich bekomme morgen meinen Schein«, sagte das Mädchen; »ich kann es mit Mamsell Saling nicht aushalten; und dann –«

Die hübsche Dirne wurde rot und zupfte an der Schürze:

»Und es sind nicht alle Herren wie der Herr Baron, und die arme Anna Garloff –«

Das Mädchen wischte sich mit dem Zipfel der Schürze die Augen.

»Sie haben ganz recht«, sagte Gerhard; »es ist sehr hart, sterben zu müssen, wenn man so jung ist. Gehen Sie sobald als möglich, und nehmen Sie das mit auf die Reise.«

Er hatte Mühe, dem Mädchen das Trinkgeld aufzudrängen: das habe ja Zeit bis morgen und sei auch viel zu viel. Sie dürfe gar nicht sagen, daß sie so viel von dem Herrn Baron bekommen habe; das würde eine böse Schnackerei geben.

»So schweigen Sie«, sagte Gerhard.

Das dankbare Mädchen fragte, ob sie dem Herrn Baron das Frühstück, das schon lange unten stände, auf das Zimmer bringen sollte? Gerhard lehnte es ab: er habe keinen Appetit. In der Tat fühlte er das dringendste Bedürfnis nach einer Erquickung; aber es war ihm unmöglich, sich noch als Gast des Hauses zu betrachten, von dem er innerlich Abschied genommen.

Und jetzt war er bereit.

Er trat an das Fenster, einen letzten Blick in den Park zu werfen.

Es war kein liebliches Bild in dem grauen Lichte des Regentages, mit den vom Wind durcheinandergepeitschten Wipfeln der Bäume, den zerzausten Bosketts, dem plattgedrückten Grase des Rasenplatzes, auf dem hie und da große Wasserlachen standen.

Und er dachte jenes ersten Nachmittages, als er an eben diesem Fenster lehnte, und der schönen, ahnungsvollen Zukunft sein Herz freudig entgegenpochte, das jetzt so dumpf und bang in der Brust hing, und die roten Sonnenstrahlen durch die breiten Blätter des wilden Weines zitterten, von denen jetzt der Regen Tropfen um Tropfen rann!

Und so rann Tropfen um Tropfen aus seinen Augen; und er schämte sich seiner Tränen nicht.


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