Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel.

Sie mochte zwanzig Jahre zählen, konnte aber auch noch jünger sein, wenn den Ausdruck der kindlichen Züge Krankheit oder Kummer vor der Zeit so schwer und trüb gemacht hatten. Man durfte auf Krankheit schließen aus dem matten, gelblichen Ton der Gesichtsfarbe, und mußte an Kummer glauben, wenn man sah, wie es jetzt, wo sie sich gewiß unbeobachtet wähnte, um den kleinen Mund zuckte, und sie die Augen zum Himmel aufschlug mit einem so hoffnungslosen, verzweifelten Blick, daß es Gerhard durchs Herz schnitt. Es hätte für ihn des Seufzers nicht bedurft, der über die bleichen Lippen zitterte, als sie nun, langsam, wie sie gekommen, in den Flur zurücktreten wollte.

In der Wendung, die sie dabei machte, erblickte sie den Reiter, den ihr der tiefe Schatten der Bäume, unter denen er hielt, bis dahin verborgen. Sie erschrak offenbar auf das heftigste, faßte sich aber sofort und gewann den bleichen, zuckenden Lippen sogar ein schwaches freundliches Lächeln ab.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Gerhard, seinen Hut ziehend, »mein Name – aber ich sehe, ich brauche mich nicht vorzustellen, ebensowenig wie ich zweifle, mit Fräulein Anna Garloff –«

Das Mädchen verneigte sich in einer etwas linkischen Weise, die doch nicht ohne Anmut war; ihre Lippen bewegten sich zu einer Antwort, die aber nicht kam; Gerhard beeilte sich, ihr über die Verlegenheit wegzuhelfen:

»Ich freue mich, daß ich endlich das Vergnügen habe, Sie kennen zu lernen: ich bin nun bereits drei- oder viermal hier auf dem Hofe gewesen oder doch über den Hof geritten, ohne Sie zu sehen. Heute –«

Er wollte sagen, daß er einen Gruß für sie von ihrem Bräutigam habe; aber das Wort wollte ihm nicht aus der Kehle: der rohe, plumpe Mensch und dies zarte, feine Geschöpf – es berührte ihn wie eine schlimme Disharmonie; er mußte etwas anderes sagen:

»Was mich heute herführt, ist der Wunsch, Herrn Deep, wenn es sein kann, zu sprechen. Ist er vielleicht drinnen?«

»Ich glaube kaum – ich weiß es nicht – ich weiß selten, wann Herr Deep kommt oder geht.«

Die etwas tiefe Stimme war so weich und schüchtern, wie der Blick ihrer fast stets gesenkten Augen; Gerhard fühlte sich in jedem Moment stärker von dem eigenen Wesen des Mädchens angezogen.

»Ich bin in demselben Fall«, sagte er lächelnd; »aber ich meinte, das sei nur so in Kantzow, wo er doch nicht zu Hause –«

Er brach abermals ab; die Blicke des Mädchens irrten suchend umher, als spähe sie nach etwas aus, das ihr ein Abbrechen des Gespräches möglich mache. Da kam denn auch der Knecht zurück: Herr Deep sei nicht mehr in der Scheune, vielleicht bei der nächsten Miete, oder auch nach Kantzow gegangen.

»So werde ich ihn dort wohl treffen«, sagte Gerhard, die Zügel ordnend.

»Wollen Sie nicht einen Augenblick hereinkommen und eine Erfrischung nehmen?« sagte das Mädchen, aufatmend – in der Hoffnung vermutlich, daß du die Einladung ausschlägst, dachte Gerhard.

»Ich danke«, sagte er, »ich muß nach den Wiesen an der Schwanheide, ich wollte dort etwas besichtigen. Ich war noch nicht dort; ist es nicht derselbe Weg wie nach Kosenow?«

»Es ist nicht der nächste«, erwiderte das Mädchen; »aber der andere ist sehr sonnig; wenn Sie nach Kosenow zu reiten bis an die Waldecke und sich dann links halten, haben Sie Schatten bis zum See.«

Sie hatte diese Worte in einem lebhafteren Tone gesagt – weil sie weiß, daß sie nun bald von dir erlöst ist – dachte Gerhard; armes Mädchen! und in vier Wochen soll ihr erstes Aufgebot mit dem rohen Trunkenbolde sein, und du sollst ihr das sagen? nimmermehr!

Er reichte ihr vom Pferde herab die Hand.

»Leben Sie wohl, Fräulein«, sagte er; »nun, da ich Sie kennen gelernt, hoffe ich, Sie öfter zu sehen, und auch die Bekanntschaft Ihres Vaters möchte ich nun doppelt gern machen. Ich höre, daß er ein überaus tüchtiger Forstmann ist; ich selbst bin ein halber Forstmann und möchte von ihm lernen. Leider habe ich bis jetzt keine Zeit gefunden, ihn aufzusuchen.«

Die bleichen Wangen des Mädchens hatten sich mit einer Röte bedeckt, die sofort wieder schwand, um einer womöglich noch tieferen Blässe zu weichen. Sie zog die Hand, welche sie ihm bis dahin furchtsam gelassen, hastig zurück und sagte, die langen Wimpern senkend, mit leiser Stimme:

»Mein Vater war noch vor einer halben Stunde hier; Sie träfen ihn schwerlich zu Hause, auch wenn Sie sich die Mühe machen wollten, bis zur Försterei zu reiten. Und –«

Sie stockte und rang sichtbar nach Atem, bevor sie, jetzt kaum noch verständlich, fortfahren konnte:

»Er ist sehr – sehr menschenscheu, mein Vater; mein armer Vater –«

Unter den gesenkten dunkeln Wimpern stürzten Ströme von Tränen über die bleichen Wangen; sie drückte die Hände in das weinende Gesicht und lief in das Haus. Es wäre offenbar vergeblich gewesen, ihr zu folgen, wie sehr auch Gerhard das gutmütige Herz dazu drängte. So blieb ihm nichts übrig, als sein Pferd zu wenden und den Hof zu verlassen in tiefer Erregung über das seltsame Benehmen des Mädchens, für welches er ohne ihre letzten Worte eine Erklärung unschwer gefunden hätte.

So freilich, sprach er bei sich, während er über die Felder auf die nahe Waldecke zuritt, wenn ein barbarischer Vater sie nicht zu der verhaßten Ehe zwingt, wenn sie selbst den Vater bemitleidet – wie soll man das verstehen? Oder opfert sie sich für den Vater? Aber Stude sagte, daß der alte Sonderling längst verwitwet sei, nur das eine Kind und weniger Bedürfnisse habe als ein Klausner. Oder sieht sie ihr und des Vaters Unglück kommen, weil sie jetzt trotz alledem den rohen Menschen heiraten muß – aber das stimmt wieder gar nicht mit den treuen Augen und dem keuschen Kindermund. Es ist peinlich, zu denken, es ist fast undenkbar, daß dieser Mund je an dem bärtigen Maule des Kerls gehangen hat; und doch! in vier Wochen soll das Aufgebot sein! Darüber könnte man wahrlich seine gute Laune auf lange hinaus verlieren!

In der Tat war es dem jungen Manne, als sei der Tag dunkler geworden. So mußte denn der Braune, der trotz der fürchterlichen Hitze fortwährend zu schlankem Trabe angetrieben wurde, den Unmut des Reiters empfinden. Und war es nun Übermüdung, war es Erinnerung der derben Lehre, die das Tier vorhin bei dem Erntewagen erhalten, es scheute kaum noch, als jetzt eine große Kette Rebhühner mit lautem Geräusch aus dem Graben zur Rechten brach und schwirrend unmittelbar vor ihm erst über den Weg, dann rechts schwenkend in den nahen Wald flog. Das kleine Ereignis, das Gerhards Jägerauge unwillkürlich gefesselt – er hatte vierundzwanzig Stück gezählt, und dann kamen noch die beiden Alten hinterher geflogen – war ein Glück für den Braunen. Gerhard zog den Zügel an und klatschte dem wackeren Tiere, das dankbar nickte, den schlanken, nassen Hals. Der Schatten des Waldes fiel über den Weg, der sich an der Ecke gabelte: links ab am Rande hin zu den Wiesen, geradeaus durch den Wald nach Kosenow.

Er hatte sie seit zwei Tagen nicht gesehen, und in zehn Minuten konnte er dort sein. Es wäre freilich das erstemal gewesen; aber sein Entschluß, nirgends in der Nachbarschaft Besuche zu machen, konnte auf die Dauer nicht durchgeführt werden. Was ging ihn der Krieg der beiden Brüder an? und wenn, wie ja alle ihn versicherten, ein geschäftlicher Verkehr mit dem Kosenower Herrn mißlich, aber doch nicht unmöglich war – weshalb nicht den geschäftlichen Vorwand, welcher sich so bequem bot, ergreifen und Vadder Deep die Sache über den glatten grauen Kopf wegnehmen, um mit dem Herrn direkt zu verhandeln? Der Umstand, daß er nicht im Visitenanzuge war, begünstigte ja nur das Unternehmen, und da vor ihm – wie lockte es so wonnig kühl aus dem stillen, schattigen Walde!

Gerhard starrte in die hohe, dämmerige, nur hie und da von gelbroten Lichtern durchzitterte Halle, welche der breite, durch mächtige Tannen führende Weg vor ihm auftat, und lenkte dann seufzend links ab an dem Rande hin. Es war entschieden heute kein Glückstag; er hatte es schon beim Erwachen gespürt nach einer mehr als halbdurchwachten Nacht, denn auch gestern abend war wieder große Gesellschaft in Kantzow gewesen. Die übermütige Laune in dem Briefe an Max war ihm nicht aus dem Herzen gekommen; während der Arbeit des Morgens hatte er fortwährend gegen trübe Gedanken kämpfen müssen, und nun mußte ihm zum Überfluß das arme Kind in der Tür des zerfallenden Herrenhauses von Retzow begegnen! – Wie vermochte eine fühlende Seele sich in den Himmel der Liebe froh und freudig aufzuschwingen, wenn sie mit der frischen Erinnerung namenlosen Erdenjammers so peinlich und so schwer belastet ist!

Sonderbar! Die beiden einzigen Male, da er in diesen neun Tagen daran gemahnt worden, daß unter der glatten, sonnedurchleuchteten Woge des Lebens, auf der sein Boot so lustig dahinschwamm, nicht minder rastlos und unaufhaltsam ein dunkler Strom des Wehes und Leides strudle und wirble – beide Male war es in der Gestalt eines jungen, weinenden Mädchens gewesen! Und daß die beiden Mädchen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer Bildung und auch in Ausdruck, Haltung, in jeder inneren und äußeren Beziehung so verschieden waren und doch gleichtief aus dem dunkeln Strom geschöpft hatten, bewies ja nur, wie breit er war. Gleichtief geschöpft? nein, nein! es mochte wohl dasselbe sein, wie mit den Händen der beiden Mädchen: die Natur hatte sie gleichschlank und zierlich geformt; aber die der jungen Aristokratin waren weich und weiß geblieben, die der armen Förstertochter hatten Sonne und Arbeit gebräunt und hart gemacht. – Und über all dem Grübeln und Philosophieren wirst du noch mitsamt dem Gaul im Morast versinken!

Der Braune hatte durch immer vorsichtigeres Schreiten angedeutet, daß ihm der Boden nicht geheuer scheine, seitdem Gerhard von dem schattigen Wege am Waldsaume links ab quer auf die Wiese gelenkt, die hier in mächtigem Halbkreis tief in den Forst schnitt.

Eine weite, prächtige Wiese, die, wenn der Ostwind das ellenhohe Gras in Wogen trieb, dem Auge des Landmannes den erfreulichsten Anblick gewähren mußte, oder auch dem des Jägers zur Dämmerungszeit, während das Wild heraustritt, oder in erster Frühe, wo ›der helle Morgenstern, der Schatten und der Atem sein hochwacht vor dem edlen Hirsch gegen Holze einziehen‹, jetzt aber, kahl geschoren, in dem grellen Licht der Mittagssonne dalag – ein Bild der Verlassenheit und Öde.

Ein melancholisches, gespenstisches Bild, meinte Gerhard, aus dem selbst der in Rom nichts machen könnte, und das höchstens einem schwermütigen Poeten zu ein paar geisterhaften Strophen den passenden Stoff gewähren möchte. Er würde vielleicht in dieser lautlosen Stille die feierliche Stimme vernehmen, die da verkündet, daß der große Pan tot sei, und die Wolken von weißen Schmetterlingen würden ihm angstvoll über dem Grabe des Allgottes zu flattern scheinen, als abgeschiedene Seelen. Von jenem kleinen See dort, dessen Spiegelfläche fürchterlich blitzt und gleißt wie ein Medusenschild, sind die Nixen schaudernd zu ihren Schwestern, den Dryaden, in den nahen Wald geflüchtet, und verschmachtende Fischlein drängen sich angstvoll in das hohe Uferschilf!


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