Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Viertes Kapitel.

Gerhard konnte seine Frage, auf die ihm keine Antwort geworden, nicht wiederholen: für Herrn Zempin bestand der Zwischenraum von vierzig Schritten nicht.

»Da sind Sie endlich!« rief er, »wo haben Sie denn gesteckt? meine Frau und ich und die halbe Gesellschaft suchen Sie seit einer Viertelstunde –«

»Glauben Sie ihm nicht! glauben Sie ihm nicht!« rief die kleine Frau mit einer Stimme, deren heller Sopran gar wunderlich in den gewaltigen Bariton ihres Gatten hineinklang; »er ist erst seit fünf Minuten unten, und so lange allerdings – wie freue ich mich, Sie endlich begrüßen zu dürfen!«

Julie hatte sich von dem Arme ihres Gatten losgemacht und bot schon von weitem die weiße Hand, die Gerhard zu ergreifen eilte, während Edith stehenblieb. So mußte er denn die nötige Aufklärung selbst in wenigen Worten geben.

Die junge Frau lachte hell auf und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne.

»Ja, ja, das Wäldchen; ich hätte es mir denken können, es ist ihr Lieblingsplätzchen! die liebe Edith! die liebe, große Träumerin! Also, nochmals willkommen! herzlich willkommen!«

»Per tot discrimina rerum!« donnerte Herr Zempin mit einer deklamatorischen Geste über den Kopf der kleinen Frau hinweg.

»Ich weiß nicht, was dein barbarisches Latein heißt!« rief diese, sich von Gerhard wieder zu ihrem Gatten wendend; »ich weiß nur, daß du ein schrecklicher Mann bist und unseren Freund jedenfalls in einem schrecklichen Aufzuge empfangen hast. Da, der Knopf ist schon wieder auf!«

»Wenn du nur putzen kannst!«

»An dir! ich muß ja wohl, da du es nicht tust. Und er sieht doch geputzt so stattlich aus, nicht wahr, Herr von Vacha?«

»Herr Zempin wird immer stattlich aussehen«, sagte Gerhard.

In der Tat gewährte Herr Zempin in schwarzem Gesellschaftsrock, hoher weißer Weste, hellen Beinkleidern und mit einem breitrandigen Strohhut auf dem mächtigen Haupt, dessen dichte Mähnen jetzt gesellschaftlich gekämmt und gebürstet waren, eine überaus stattliche Erscheinung, wie man sie gern bei einem Fürsten voraussetzt, und Gerhard hatte sein Kompliment aus voller Überzeugung gemacht; aber Frau Zempin rief:

»Um Himmels willen, verderben Sie ihn mir nicht noch mehr, er ist schon eitel genug! Aber das seid ihr Männer freilich alle, alle! – Du, liebe Schlanke, hast wieder einmal geträumt! träumst noch? kann Herr von Vacha auch träumen? was habt ihr denn zusammen geträumt? Aber das sollen Sie mir selbst sagen, Herr von Vacha! En avant, ihr beiden! ich muß nachholen, was ihr klug vorweggenommen.«

Sie hatte Edith, die regungslos stehengeblieben, im Herantreten Wange und Kinn mit der kleinen weißen Hand berührt; Edith hatte nicht aufgeblickt, nahm aber den Arm, den ihr der Oheim mit ritterlicher Artigkeit bot, und ging mit ihm, wie Julie es wünschte, voraus.

»Geben Sie mir auch Ihren Arm, Herr von Vacha!« sagte Julie. »Wie finden Sie denn unser liebes Pommerland? haben Sie es sich so arg vorgestellt? haben Sie sich meinen Mann so schön gedacht?«

Sie machte sehr kleine Schritte – Gerhard konnte nicht entscheiden, ob absichtlich, um zurückzubleiben, oder weil die überaus zierlichen, in den niedlichsten, weit ausgeschnittenen Schuhen kaum noch steckenden Füßchen immer so trippelten. Doch war die Dame nicht so winzig klein, wie sie ihm vorhin an dem Arm des riesenhaften Gemahls erschienen: nur etwas unter Mittelgröße, von rundlicher Figur, deren Taille vielleicht zu tief saß und nicht ohne künstliche Nachhilfe zu diesem geringen Umfange gebracht sein mochte. Wenigstens krachte das schwarze Seidenkleid, das sie trug, so oft sie den bunten Schal wieder auf die Schultern zog. Diese Schultern aber, die sie, ebenso wie den Hals, sonst völlig unverhüllt und wohl nicht ganz ungern zeigte, waren von tadelloser Schönheit und einer Weiße, die in dem sanften Abendlicht wie poliertes Elfenbein erglänzte.

Gerhard drängten sich diese Bemerkungen mit um so größerer Lebhaftigkeit auf, als Frau Zempin in Ausdruck und Mienenspiel, in der munteren Art zu sprechen, im hellen Klang der Stimme selbst der vollkommenste Gegensatz zu der jungen Dame war, die nun da ein paar Schritte vor ihm ging am Arm des mächtigen Mannes, gesenkten Hauptes, schweigsam, oder doch nur mit wenigen leisen Worten auf dessen eifrige und, wie es schien, scherzhafte Fragen antwortend. Denn er lachte wiederholt, aber nicht in seiner gewöhnlichen Weise, wie er denn auch die gewaltige Stimme zu einer Art von lautem Geflüster herabstimmte und sich dabei mit galanter Zuvorkommenheit zu seiner Begleiterin niederbeugte.

Julies scharfe, graugrüne Augen mußten die Richtung von Gerhards Blick aufgefaßt haben; denn sie sagte, ihr munteres Geplauder plötzlich unterbrechend, mit einer leichten Deutung der kleinen Hand nach den Voranschreitenden:

»Sie lieben sich so! ich könnte manchmal eifersüchtig werden, wenn ich nur ein wenig mehr Talent zur Eifersucht hätte. Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, wie fabelhaft ähnlich sie einander sind?«

»Offen gestanden, nein«, erwiderte Gerhard; »in den Augen vielleicht – gelegentlich wenigstens, wenn der Blick nach unten gerichtet ist und die etwas schweren Lider sich plötzlich senken und dann wieder langsam heben, nur daß Fräulein Edith, ich glaube, graue Augen und Ihr Herr Gemahl zweifellos blaue hat.«

»Wie scharf Sie beobachten! – erlauben Sie einen Moment!«

Der Schal war ganz von den Schultern geglitten; Gerhard leistete hilfreiche Hand.

»Ich sollte eigentlich nicht«, rief Julie, den wiedergebotenen Arm, bevor sie ihn nahm, leicht mit dem Fächer berührend – »ich sehe schon, man muß sich vor Ihnen hüten! Aber im Ernst, Sie haben recht, und dann: die schlimmste Scheidung ist die Scheidung der Gedanken, sagt Achim von Arnim so schön und wahr – kennen Sie seine Gräfin Dolores? – ein himmlisches Buch – Sie müssen es jedenfalls lesen – und ich sage, die größte Ähnlichkeit ist die Ähnlichkeit der Gedanken, der Empfindungen, der Neigungen, des Charakters, des Temperaments. Und wie gleichen sich die beiden in allen diesen Beziehungen! – Sie glauben es nicht; derselbe Hang zum Grübeln, dieselbe Leidenschaft für Dinge, die für uns Weltkinder kaum oder gar nicht existieren, dieselbe Sentimentalität vor allem! sentimentale Eichen! – ist es nicht ein Wort Heines? – lieben Sie Heine? – Moritz haßt ihn, er nennt ihn einen Renegaten, oder heißt es Apostaten? Aber Sie wollten mir sagen, was ihr beide da zusammen geträumt habt in dem melancholischen Wäldchen! Denn geträumt, geschwärmt, Sentiments ausgetauscht habt ihr, gestehen Sie es! das liebe Kind sah ja fast aus, als hätte es geweint. Über was denn? über mich – par exemple? – Lassen Sie meinen Schal, es ist so warm! also gebeichtet, mein junger Herr Ritter!«

»Wenn zu lügen überall gestattet wäre, so würde ich jetzt lügen, nur um Ihnen beichten zu können, gnädige Frau!« erwiderte Gerhard.

»Ich sage es ja«, rief Frau Zempin; »Sie sind ein gefährlicher Mensch! ich halte es für meine heilige Pflicht, als Hausfrau und Mutter, die jungen Damen vor Ihnen zu warnen. Aber damit Sie sehen, daß ich ein gutes Herz habe und selbst mit Sündern Erbarmen fühle, will ich Ihnen auch eine Warnung mit auf den Weg geben. Es ist gerade noch Zeit – bleiben Sie einen Moment stehen – noch hat man uns nicht bemerkt: – eine junge Dame in Weiß –«

»Es sind da vier oder fünf junge Damen in Weiß, gnädige Frau!«

»Sie ist nicht dabei, bemerke ich; aber sie wird kommen; und wenn sie kommt – hüten Sie sich, hüten Sie sich vor ihr, wie der Schiffer vor der Lorelei!«

»Der sich bekanntlich nicht hütete, gnädige Frau; denn die Wellen verschlangen am Ende Schiffer und Kahn; – aber wer ist es? Fräulein Maggie?«

»Sie wissen alles!«

»Ich weiß gar nichts und tappe und taste herum, wie ein Blinder; also haben Sie Erbarmen mit mir, gnädige Frau, wie Sie es wollten! Weshalb soll ich mich vor Fräulein Maggie hüten?«

»Sie werden es sehen, wenn Sie – sie sehen.«

»Darin ist es vielleicht zu spät.«

»Wie fein! wie wahr!«

»Also bitte, gnädige Frau!«

»Maggie ist bereits versprochen.«

»Aber, gnädige Frau, das pflegt denn doch eine Warnung und ein Kompaß für den tollkühnsten und unerfahrensten Schiffer zu sein!«

»Wenn die Verlobung öffentlich ist; diese ist es nicht; und es gibt Leute, die Ihnen sagen werden: es sei kein wahres Wort daran. Ich weiß es besser: Maggie ist meine beste, meine liebste, süßestes, einzige Freundin, soweit ein Mädchen von siebzehn Jahren und eine alte dreiundzwanzigjährige Frau Freundinnen sein können. Ich rate Ihnen aufrichtig zum Guten, Herr von Vacha!«

»Und ich danke Ihnen gewiß nicht minder aufrichtig für Ihre Güte, gnädige Frau. Den Namen des Glücklichen darf man wohl nicht wissen?«

»Otto – ich meine ein Herr Otto Bagdorf auf Bulitz – Bulitz ist nur durch die Schwanheide von Kosenow getrennt – Schwanheide heißt der große Wald – der Tannenwald; der andere, der Buchwald bei Bulitz, heißt die Uhle. Ist es nicht ein reizender Name? – ich meine: Schwanheide? – so romantisch! und durch den romantischen Wald führen so viele Pfade –«

»Ich verstehe – und ist der Herr in der Gesellschaft dort?«

»Natürlich! aber natürlich ist er augenblicklich ebenfalls verschwunden. Sie lachen? ich liebe die Menschen, die so verständnisinnig lachen! Verständnisinnig, Herr von Vacha! was ich Ihnen vertraut – kein Wort – kein Blick –«

»Aber, gnädige Frau –«

»Still, um Himmels willen!«

Die Gesellschaft der jungen Leute hatte die Heranwandelnden längst bemerkt und das Spiel nur noch gerade mit so viel Eifer fortgesetzt, als nötig war, um ihre Neugier nicht zu verraten und doch durch gelegentliche eifrige Blicke zu befriedigen. – Jetzt wandten sich zwei der zunächst stehenden Herren und kamen, Stöcke und Reifen in den Händen, der Dame vom Hause und ihrem Begleiter entgegen.

»Herr Hermann Spatzing – unser großer Maler –« sagte Julie, vorstellend.

»Fünf Fuß anderthalb Zoll, keinen Strich mehr, keinen Strich! bis auf die Tolle!«

Herr Spatzing strich mit der Hand durch sein krauses, schwarzes, überaus reiches Haar, drehte den schwarzen, stark gewichsten Schnurrbart, blinzelte mit den kleinen, schwarzen Äuglein und reichte Gerhard die Hand, wobei er sich, als könne er sonst nicht heranreichen, auf den Fußspitzen hob.

»Freue mich ausnehmend, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr von Vacha; bin in diesem Frühjahr mit Ihrem Herrn Bruder in München zusammengetroffen – nur sehr flüchtig – es gibt grausame Damen, die sagen, ich sei immer sehr flüchtig.«

Herr Spatzing legt die Hand aufs Herz, riß die schmalen Äuglein so weit als möglich auf, warf einen schmachtenden Blick auf Julie und seufzte.

»So ist er nun immer«, sagte Julie lachend; »oh, diese Künstler, diese Künstler! Erlauben Sie, Ihnen Herrn –«

»Harfagar«, sagte Herr Spatzing.

»Unausstehlicher, Sie!« rief Julie, mit dem Fächer drohend, »Herr Doktor – nicht wahr? – Lindblad aus Schweden.«

»Genannt Harald Harfagar«, sagte Herr Spatzing.

Der Vorgestellte, ein stattlicher, schöner junger Mann mit langem, blondem, in der Mitte gescheiteltem Haar und krausem Schnurr- und Knebelbart, lächelte selbstgefällig und murmelte, mit merkbar ausländischem Akzent, einige höfliche Worte.

»Nun kommen Sie, Spatzing, und helfen Sie mir, Herrn von Vacha mit den anderen bekannt machen«, sagte Julie, die inzwischen mit dem Maler geflüstert hatte. »Luising, Emming, Stining! aber so laßt euch doch endlich einmal los! Lining, Tining! wo wollt ihr denn nun wieder hin! Herr Bollmann, holen Sie sie doch zurück! – einer ist genug, lieber Benz! – Aber helfen Sie mir doch, Spatzing!«

Spatzing half vorstellen, und weil er und Julie fortwährend durcheinandersprachen und oft denselben Namen zu gleicher Zeit nannten, würde Gerhard in bitterster Verlegenheit gewesen sein, wenn er hätte sagen sollen, welche von den jungen Damen Fräulein Luising Sallentin, und welche Fräulein Tining Pahnk, und welche Fräulein Lining Pahnk, und welche Fräulein Emming Sallentin war. Dazu kam, daß die fünf oder sechs jungen Damen alle mehr oder weniger blondes Haar, blaue Augen und helle Gesichtsfarbe hatten; alle im Moment, wo ihr Name genannt wurde, dieselbe ernsthafte Miene und genau dieselbe tiefe, etwas linkische Verbeugung machten, um sofort über der Himmel weiß was in derselben verlegen-lustigen Weise zu lachen und dann alle auf einmal davonzuflattern, wie ebenso viele weiße Schmetterlinge.

Ein wenig besser erging es Gerhard mit den Herren, obgleich ihm auch hier die durchgehende Ähnlichkeit der Physiognomie, Haltung und besonders der Sprache manche Verlegenheit bereitete. Soviel er verstand, waren es sämtlich Gutsbesitzer- und Pächtersöhne aus der Nachbarschaft, mit Ausnahme eines etwas verwildert aussehenden Jünglings in schäbigem, braunem Sammetrock, der eine Zereviskappe auf dem starren, ungebürsteten Haar, das entsprechende Band über einer nicht ganz sauberen Chemisette trug, und ihm als Herr Studiosus Benz vorgestellt wurde, Vetter des Fräulein Sallentin.

»Und nun geben Sie mir Ihren Arm wieder, Herrn von Vacha«, sagte Julie, »damit ich Sie auch mit den älteren Herrschaften bekannt mache. Sie müssen nun einmal den Kelch bis auf die Neige leeren.«

Sie zog ihn fast aus dem Kreise heraus.

»Ich versichere Sie, gnädige Frau«, erwiderte Gerhard, »daß mir der Trank ganz vortrefflich mundet; ich bin echtes Thüringer Blut, und das fließt niemals munterer, als in munterer Gesellschaft.«

»Darum liebe ich auch Ihren Landsmann, den guten Stude, so«, erwiderte Julie; »aber freilich, Sie sind eine so viel vornehmere Natur. Vornehme Naturen sind immer im Grunde seriös, melancholisch. Leugnen Sie nicht! ich sehe es an Ihren Augen. Es ist darin eine verborgene Tiefe – ein zentrales Feuer lodernder Empfindung und elementarer Leidenschaft, das nur auf die Gelegenheit wartet, um hervorzubrechen.«

»Auch wenn dies Feuer so energisch beschworen ist, ruhig zu bleiben als freundlich Element?«

»Spotten Sie nur! Sie kennen das Wort: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«

»Es ist aber Abend, gnädige Frau, und ein entzückender dazu.«

»Nur daß der Stern des Abends noch nicht aufgegangen.«

Er zögert ungebührlich lange.

»Je später der Abend, um so schöner die Gäste und – die Sterne.«

»Gnädige Frau, rauben Sie mir nicht das bißchen Unbefangenheit, über das der Neuling in einer Gesellschaft stets nur zu verfügen hat!«

»Sie ein Neuling! Sie, der Sie von einer Sicherheit sind, die mich schaudern macht! – Wo willst du hin, Edith?«

»Ich will der Frau Pastorin ihr Umschlagetuch herausschicken; hernach möchte ich Saling ein wenig helfen.«

»Du bist so gut! – wie die Vorsehung!«

Julie streckte die Hand nach Ediths Wangen aus; es war Gerhard, als ob das junge Mädchen der Berührung auswich. Sie entfernte sich schnell, nach einer flüchtigen Verneigung, quer über den Rasenplatz nach dem Hause.

»Sagen Sie mir, Herr von Vacha«, sagte Julie hastig und leise, »was ist das zwischen Ihnen und Edith?«

»Zwischen mir und Fräulein Edith?«

»Es muß da irgend etwas sein – Edith hatte positiv verweinte Augen, als wir euch trafen, und jetzt hat sie Sie mit keinem Blicke angesehen.«

»Ich versichere Sie, gnädige Frau –«

»Gut! heute! versichern Sie heute alles, was Sie wollen. Morgen oder übermorgen werden Sie mir beichten, denn Sie werden dann eingesehen haben, daß ich, die Lustige, die Leichtlebige, doch die bessere und Ihre beste Freundin bin.«

Gerhard fühlte einen leichten Druck des runden Armes, der sich jetzt dem seinen entzog, denn sie waren, am Rande des Bosketts hinschreitend, bei einer Stelle angelangt, wo die Büsche sich zu einem Halbkreis einbogen und so eine Art von offener Laube bildeten, von der man den Rasenplatz und das gegenüberliegende Haus übersehen konnte. Hier saß an einem großen, halb abgeräumten Teetisch eine Gesellschaft älterer Damen, welchen Gerhard nun vorgestellt wurde. Frau Pastor Pahnk, Frau Sallentin, Frau Bollmann, Fräulein Bollmann, Frau Stut, Fräulein Stut und noch drei oder vier andere: die Mütter oder Tanten der jungen Damen auf dem Rasenplatz, wie diese in ihrer blonden jugendlichen Befangenheit und Lachlust, so in behaglicher Fülle und würdevollem Ernst einander zum Verwechseln ähnlich, besonders, als sie jetzt, nachdem sie sich alle auf einmal erhoben und, sobald ihr Name genannt wurde, in derselben drollig breiten Weise feierlich verbeugt, alle auf einmal wieder setzten, die mit mancherlei schreienden Bändern geschmückten Hauben über die Strickstrümpfe beugten und die fallengelassenen Maschen wieder aufnahmen.

Es entstand eine feierliche Pause, in der sich Gerhard vergebens hilfesuchend nach der Dame vom Hause umsah, die sich nach der Vorstellung alsbald entfernt hatte. – Sie hätte jetzt Gelegenheit, über meine Sicherheit zu schaudern, dachte Gerhard mit einem stillen Seufzer.

»Wie gefällt es Ihnen denn bei uns?« sagte plötzlich eine fette Stimme – Gerhard konnte nicht unterscheiden, von welcher der Damen, da keine der Hauben sich vom Strickstrumpf erhoben hatte. Indessen, das Eis war gebrochen.

»Ich danke, ausgezeichnet«; erwiderte er.

»I, das wird dem jungen Herrn schon bei uns gefallen«, sagte eine zweite fette Stimme – Gerhard, der nun genau achtgab, meinte, es sei die der Frau Bollmann, wenn es nicht die der Frau Sallentin war.

»Ohne Zweifel«, sagte er.

»Wenigstens kann man bei uns lernen, was wirtschaften heißt.«

Die dritte Stimme war entschieden schärfer, als die beiden ersten; Gerhard vermutete, daß sie von einer weniger behäbigen Dame kam, die mit womöglich noch größerem Eifer strickte, und die er für Fräulein Bollmann nahm, falls es sich nicht herausstellte, daß es Fräulein Stut sei.

»Deshalb eben kam ich«, sagte er.

»Denn bei Ihnen zu Hause ist es man schwach mit dem Wirtschaften«, sagte eine vierte, sehr fette Stimme; – »ich bin auch mal durch Thüringen gekommen, vor zwanzig Jahren, als ich meinen lieben verstorbenen Mann nach Kissingen brachte. Du lieber Gott! ist das ein Elend! Ich sage Ihnen, liebe Bollmann, nichts als Berge, wo sie mit einer Kuh vor einem Ding, das ein Pflug sein soll, rumackern – es war nämlich schon im August, liebe Sallentin, und unsere ganze Gerste stand noch auf den Hocken, als wir abreisten – ich sage Ihnen, das Herz kann einem dabei brechen.«

Hier wiegten sämtliche Hauben in langsam-feierlichen Schwingungen bedauernd hinüber und herüber, mit Ausnahme der einen, die vorwurfsvoll wackelte:

»Aber, liebe Frau Stut!«

»Na, Frau Pastorin, das ist doch wahr«, erwiderte Frau Stut; »Wahrheit schwimmt oben, sagte immer mein lieber verstorbener Mann, und was so ein junger angehender Ökonomiker ist, der sich belehren will, wird mir das nicht übel nehmen.«

»In keiner Weise«, sagte Gerhard.

»Aber Herr von Vacha ist ja selbst Gutsbesitzer – zwei Güter, Frau Stut!« sagte Frau Pastor mit Bedeutung.

Sämtliche Strickzeuge sanken herab, und sämtliche Hauben hoben sich, um erst auf Gerhard bewundernde und dann auf die arme Frau Stut entschieden mißbilligende Blicke zu werfen. Frau Stut war sehr rot geworden:

»Das hab' ich nicht gewußt«, rief sie; »das hätte man doch einem Menschen sagen sollen! So was muß ein Mensch doch wissen!«

»Was muß man wissen?« fragte Julie, die eben kam.

»Daß der Herr selber zwei Güter hat!« rief Frau Stut.

»Zwei große Güter!« rief Julie lachend; »jedes einzelne so groß wie Kantzow und Kosenow zusammen. Widersprechen Sie mir nicht, Herr von Vacha! Das ist ein gefährlicher Mann, meine Damen! ich hätte ihn hier nicht bei Ihnen allein lassen sollen; aber ich kann meinen Moritz nicht finden; er ist jedenfalls mit Ihrem Mann nach den Georginen, Frau Pastor. Über seinen Georginen und Gewächshäusern vergißt er nämlich alles, Herr von Vacha. Wir wollen einmal hingehen; hernach müssen wir Abendbrot essen.«

Sie hatte Gerhards Arm wieder genommen und ihn aus der Laube geführt; aber sie hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als ihnen Herr Spatzing entgegeneilte und, beide Arme ausstreckend, rief:

»Ich kann Sie nicht passieren lassen; ich habe von den jungen Damen Befehl, den Herrn von Vacha lebend oder tot herbeizuschaffen!«

»Dann nehmen Sie ihn in unser aller Interesse lieber lebend«, sagte Julie; »hier ist er, ich habe so noch etwas im Hause zu tun.«

Sie trippelte über den Rasenplatz davon, aber nicht nach dem Hause zu.

»Ist es nicht eine entzückende Frau?« rief Spatzing laut genug, daß die Dame es noch hören mußte; »welcher Wuchs! welche Schultern! welche Bü—«

Er brach mitten im Worte ab und sagte in leisem Tone, Gerhard aus den schwarzen Augen anblinzelnd: »Schade, daß sie sich so furchtbar schnürt! und das Gangwerk! ich bin froh, daß ich die Beine nicht zu malen brauche! die Füße sind freilich wieder entzückend. – Hier, meine Damen, bringe ich ihn! Stellen Sie sich hierher, Herr von Vacha – zwischen Fräulein Luise Sallentin und Fräulein Tining Pahnk! – Ist Ihnen der Stock recht? Na, dann kann es wieder losgehen! Fräulein Tining! aufpassen!«

Das unterbrochene Spiel wurde fortgesetzt, und bald war Gerhard einer der Eifrigsten. Er hatte den anmutigen Zeitvertreib immer gern gehabt, und wenn er auch seit langer Zeit aus der Übung war, so halfen ihm sein scharfes Auge und seine feste Hand bald die erste Unsicherheit überwinden. Die von ihm geschleuderten Reifen durchschwebten die Luft in so genau bemessenen Kurven, daß Fräulein Luise Sallentin nur eben den Stock emporzuhalten brauchte; und wenn Fräulein Tining Pahnks Reifen allerdings die entschiedenste Neigung hatten, aus der Bahn zu irren, so war es ihm noch jedesmal gelungen, durch einen kühnen Sprung nach seitwärts, vorwärts oder rückwärts der Flüchtlinge habhaft zu werden.

Und dann war es die Stunde, in der auch Erwachsene wieder etwas von dem holden, süß berauschenden Zauber spüren, der die Herzen spielender Kinder füllt; die Stunde, da der Tag zu Ende ist und die Nacht nicht kommen will; die Stunde, da die Schatten zwischen den Büschen tiefer werden, die höchsten Spitzen der Bäume sich gegen den lichtgrünen Himmel schärfer abzeichnen, die Blumen üppiger duften; und weil die Insekten in den Blumen und die Vögel in den Bäumen und Büschen schweigen, und Blumen, Bäume und Büsche so regungslos stehen, die Stimme rufender Menschen so eigen tönt: reiner, weicher, melodischer, wie Widerhall und Nachklang aus einer besseren Welt.

Und für Gerhard verzitterte in diesem Zauber ein zweiter, der in ganz anderer und doch kaum weniger mächtigen Weise sein Herz erbeben machte und seine Phantasie erregte: Aus dem Schornstein jenes Daches sah er die dünne Rauchsäule in den Himmel aufsteigen zum ersten Male; auf jenen grünumrankten Fenstern blinkte ihm der Abendschein zum ersten Male; diese blühenden Mädchengesichter, diese rüstigen jungen Männergestalten – das muntere Lachen, die harmlosen Scherzworte – sein Auge hatte es nie zuvor erschaut, sein Ohr nie zuvor vernommen: eine neue, fremde Welt, die ihn gereizt hätte, auch wenn sie weniger schön gewesen wäre, und, da sie so schön war, ihn völlig entzückte. Und zum Zeichen der Verheißung, daß diese schöne Welt noch Schöneres, Holderes berge, schimmerte – wie ein glänzend Auge, das plötzlich zu uns aufblickt – aus dem graublauen Himmel über einer schwarzen Wand ineinander verflochtener Wipfel uralter Bäume groß und golden der Abendstern, und – »Maggie! Maggie! kommst du endlich!« riefen ein paar Stimmen.


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