Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Siebentes Kapitel

Es war ein paar Stunden später.

Er hatte ihr in den offenen Wagen geholfen, den Edith, die bereits vor Tisch nach Hause gefahren, wieder zurückgeschickt. Aber diesmal hatte er die kleine kühle Hand nicht losgelassen, bevor er sie, wie flüchtig immer, mit den Lippen berührt; und sie hatte die Hand in den Schal gewickelt, indem sie sich in den Sitz zurücklehnte, die großen Augen unverwandt auf ihn gerichtet, bis die feurigen, ungeduldigen Pferde mit mächtigem Sprunge anzogen und das leichte Gefährt die erhellte Rampe hinab in die dunkle Nacht hineinwirbelten.

Der Rest der Gesellschaft war in den Gartensaal zurückgekehrt; er hatte, Müdigkeit vorschützend, um die Erlaubnis gebeten, sich auf sein Zimmer begeben zu dürfen.

Wirklich begann er hier an seinen Koffern zu kramen, die Vorbereitungen für die Nacht zu treffen und für morgen, wo er in aller Frühe auf und bei der Arbeit sein wollte, wie er es mit dem hünenhaften Oberinspektor Klempe bei Tisch abgeredet. Auch ein paar Bücher herauszunehmen mochte geraten sein – an Schlafen war ja doch nicht zu denken; oder sollte er sich gleich hinsetzen und an Bruder Max schreiben, von dem er in Sundin einen Brief auf der Post vorgefunden? Aber das hatte auch am Ende bis morgen Zeit, um so mehr, als Max' Brief solange unterwegs gewesen war und ihn die Antwort doch wohl nicht mehr in Rom erreichen würde. An Fritz nach Bonn zu schreiben, war im Grunde dringender. – Ob Karl seinen letzten Brief wohl noch in Bremen erhalten? war es nicht sicherer, gleich nach Liverpool zu adressieren? Der liebe Junge durfte Europa nicht verlassen, ohne von seinem Ältesten ein Lebewohl! ein Glückauf! mitzunehmen auf seine erste Fahrt nach Amerika!

Er hatte die Schreibsachen hervorgeholt und auf dem runden Tische vor dem Sofa zurechtgelegt. Das kleine, harte Sofa war so unbequem, und der Tisch knackte widerwärtig, wenn man ihn berührte. Morgen ließ sich wohl eine bequemere Einrichtung schaffen.

Morgen!

Würde er sie morgen wiedersehen? Hatte das ihr letzter Blick verheißen, wenngleich der kleine Mund stumm geblieben? Hing ihr Auge jetzt eben auch an der glänzenden Scheibe des Mondes, während sie so zwischen den Kornfeldern durch die ambrosische Nacht dahinfuhr? Dachte sie seiner, wie er ihrer dachte? Törichter Wahn! kindischer Wunsch! Was war er ihr, was konnte er ihr sein, als eine neue Erscheinung in dem gewohnten, engumschriebenen Kreise – ihr nur deshalb interessant, weil er ein Neuling und solange er ein Neuling war? Morgen oder übermorgen war der Neuling ein Bekannter, ein Sklave mehr an dem Triumphwagen, und die junge Königin würde seine Huldigungen so gelassen-gnädig entgegennehmen wie die anderen. Heute abend freilich –

Und was war's denn gewesen? ein neckisches Spiel, das nur ein Tor für ernsthaft nehmen konnte; ein fortgesetzter holder Übermut, in dem auf den Reifen, den sie ihm im Garten um den Hals gehängt, die Rose folgte, die sie ihm ins Knopfloch gesteckt in der süßen Heimlichkeit der dunkeln Büsche und vor aller Welt im hellen Zimmer wieder abgefordert, weil er, wie sie sagte, ihr Geschenk mißachtet und die arme Rose zerknittert habe. Und dann hatte sie selbst erst die arme Rose lachend zerknittert und dann zerpflückt und die Blätter auf den Boden zerstreut; und die anderen jungen Herren hatten sich auf die Blätter gestürzt – wie Hühner auf den Gersten, hatte Herr Zempin gerufen, der dabeistand und sich vor Lachen die Seiten hielt. Auch Frau Zempin war herzugekommen – aus dem zweiten Zimmer, die Karten in der kleinen Hand, und hatte in der Tür gestanden und so herzlich gelacht; und Herr Bagdorf, der mit ihr spielte, hatte über ihrer weißen Schulter ein grimmiges Gesicht gemacht, bis sie sich zu ihm wandte und ihm vermutlich einige Trostworte zuflüsterte, denn er hatte mit seiner krähenden Stimme ebenfalls gelacht – plötzlich, wie auf Kommando – und sie hatten sich wieder zu ihrem Spiel gesetzt.

Wer waren noch gleich die beiden anderen Mitspieler gewesen? der kleine dicke Pastor Pahnk und der nicht minder kleine dicke Herr Sallentin; aber einmal hatte doch auch Vadder Deep dagesessen in seinem blauen, zugeknöpften Rock! Es mußte gewesen sein, als er selbst auf den Mokierstuhl gebannt war und Maggie ihm die eingesammelten Ausstellungen der Gesellschaft so schalkhaft-feierlich berichtete. Was hatte sie nicht alles vorgebracht? er sollte passabel hübsch sein, sehr hübsch, unwiderstehlich, unausstehlich, allzu schweigsam, allzu redselig, über alle Maßen von sich eingenommen, von einer rührenden Bescheidenheit! Er hatte den Herrn oder vielmehr die Dame zu kennen gewünscht, die ihm den letzten Lobspruch erteilt. Niemand wollte es gesagt haben, Frau Zempin behauptete, es sei Maggies Wort, und die Maggie müsse auf den Mokierstuhl. Maggie leugnete hartnäckig: sie habe sich jedes Urteils enthalten, und auf den Mokierstuhl wolle sie nicht, sie säße da immerfort, das ganze Jahr hindurch, Tante Julie möchte es sich doch einmal versuchen; sie sei ja sicher, nur Schmeicheleien zu hören. Es hatte einen förmlichen Streit zwischen den beiden Freundinnen gegeben, der nur dadurch unterbrochen wurde, daß Vadder Deep – wie war er nur plötzlich wieder vom Spieltisch verschwunden? – mit einer mächtigen Bowle heranschlurfte, und Herr Zempin, ein volles Glas in der Hand, die Gesellschaft – Damen und Herren – aufforderte, ihm Bescheid zu tun und der Freiheit der Meinungen, der Freiheit der Empfindungen, der Freiheit endlich des Wortes, des gedruckten und gesprochenen, ein Hoch zu bringen! Das war denn geschehen mit dem: Sie lebe hoch! sie lebe hoch! aus dem Don Juan, das Herr Spatzing auf dem Klavier intonierte; und dann hatte Herr Spatzing mit einigen geschickten Akkorden übergeleitet zur Melodie: Freiheit, die ich meine – und das ganze Lied war gesungen vom ersten bis zum letzten Vers dreistimmig von Herrn Spatzing und den beiden Studenten, von der übrigen Gesellschaft so ziemlich unisono – die jungen Damen hatten den Text vortrefflich gewußt – und Herr Zempin war gelegentlich mit seiner Donnerstimme eingefallen, wenn ihm die anderen nicht kräftig genug einsetzten. Dabei hatten ihm zuletzt die Tränen in den Augen gestanden, und er hatte den kleinen dicken Pastor umarmt, der seinesteils so tapfer mitgesungen und so kräftig angestoßen und sein Glas bis auf die Nagelprobe geleert, wie er's gelernt, dazumal als lustiger Korpsbruder zu Halle an der Saale! – Und »An der Saale fernem Strande« klangs vom Klavier, und ein richtiger Kommers war's geworden, an dem die jungen Damen jubelnden Anteil nahmen, bis die Mütter und Tanten schließlich dem übermütigen Treiben ein Ende machten mit der Erklärung, daß morgen auch noch ein Tag sei, und ein Erntetag überdies, und sie für heute nach Hause müßten. Und Herr Spatzing hatte intoniert: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«, – und ihm – dem stillen Lauscher – war so wunderlich zumute geworden bei dem lieben, alten Liede, denn er hatte daran gedacht, wie lange es dauern werde, daß er »hinaus« müsse und nicht sagen könne, daß er »übers Jahr« sich wieder einstelle und – wessen Schätzlein mochte sie dann sein? Bagdorfs? er hatte sie genau beobachtet während des Liedes; sie hatte nicht mitgesungen, wie sie sich denn überhaupt kaum beim Singen beteiligt; sie hatte so still für sich dagesessen, die Hände im Schoß leicht gefaltet, mit gesenkten Wimpern, die sie nicht ein einzigmal hob, bis das Lied zu Ende war, und als sie dann ausschaute, war es allerdings nach Bagdorf, der in der Tür zum Nebenzimmer mit Julie stand und mit ihr flüsterte, aber in dem Blick war keine Liebe gewesen, viel eher Mißtrauen, Trotz, oder sonst eine unwillige Regung. Und dann war der Blick zu ihm hinübergeglitten, und über das süße Gesicht hatte ein blitzschnelles, schalkisches Lächeln gezuckt – blitzschnell, und doch nicht flüchtig genug für Julie, die den Finger der kleinen weißen Hand schalkhaft warnend hob. Wem hatte die Warnung gegolten? dem schönen Mädchen? oder ihm? oder ihnen beiden? Meinte es Julie ernsthaft mit ihrer Warnung? Es schien bedenklich, die hübsche, voll Schelmerei und Neckerei steckende Frau ernsthaft zu nehmen. Und welche Veranlassung zu wirklicher Besorgnis – wenn sie anders für ihren Freund Bagdorf besorgt war – hätte ihr denn Maggie heute abend gegeben? Oder stand es um jenes Verhältnis zwischen Herrn Bagdorf und Fräulein Maggie so, daß ein einziger freundlicher Blick, der einem fremden Herrn gegönnt wurde, es ins Wanken bringen konnte? Bestand es überhaupt gar nicht? Julie hatte sich freilich Maggies beste Freundin genannt; aber das bewies für diesen Fall noch nicht viel; die besten Freundinnen können Geheimnisse voreinander haben, oder in ihren Ansichten über das, was für ihr beiderseitiges Glück notwendig ist, sehr weit auseinandergehen. Und hatte nicht Maggie ganz ausdrücklich und mit einer bei ihr, wie es schien, durchaus ungewöhnlichen Energie ihm befohlen, kein Wort zu glauben, was Tante Julie von ihr, über sie sagen würde? Das konnte sich doch nur auf jenes sogenannte Verhältnis bezogen haben, das eben deshalb noch keines in dem gewöhnlichen Sinne war, höchstens eines werden sollte, und schwerlich jemals werden würde.

»Nein! niemals! niemals!« rief Gerhard, und lachte dann über die leidenschaftliche Heftigkeit, mit der er es gerufen.

Das Lachen kam ihm nicht vom Herzen, er fühlte es wohl und ging nun in dem Zimmer auf und nieder mit schnellen, ungleichmäßigen Schritten, und blieb dann wieder stehen, wenn ihm sein Gedächtnis, das heute ganz rebellisch war, den einen und den anderen wichtigen Punkt nicht wieder mit voller Klarheit zurückbringen wollte: ob sie die Rose, die sie ihm geschenkt, wirklich bereits vorher im Garten getragen? Ob sie den Druck seiner Hand erwidert, als er ihr in den Wagen half?

Nur in einem war ihm das Gedächtnis ganz treu geblieben: wo er auch ging und stand, und ob er sich in die Sofaecke warf und das Gesicht in den Händen barg, oder am offenen Fenster in die Mondennacht hineinstarrte – immer und überall sah er ihre Augen – die großen, braunen, bald in sanftem Schein erglänzenden, bald in Strahlenfeuer leuchtenden Augen.

»Und die werde ich niemals wieder vergessen«, sagte er, »und wenigstens darüber kann ich ruhig zu Bett gehen.«

Aber er regte sich nicht vom Fenster, an dem er mit verschränkten Armen lehnte, immer nach Nordost starrend – in die Richtung, wo, wie er wußte, Kosenow lag.

Wie traumhaft schön die holde Sommernacht! wie gemacht zum Träumen! Der Himmel droben mit seinem wolkenlosen, schwärzlichen Blau, in dem der goldene Mond bereits westwärts hing, während hier und da einige wenige Sterne schimmerten – der stille Park unten, Baum und Busch und Rasenplätze und Laubengänge hier klar hervortretend, dort heimlich ineinander verdämmernd – war nicht alles wie ein liebes, halbvergessenes Märchen aus der seligen Kinderzeit? Der Nachtwind, der durch das Blätter- und Rankengewirr vor dem Fenster säuselte – er mochte den Träumer nicht stören; auch nicht das gelegentliche Klappern von Tellern und Schüsseln, das irgendwoher aus ferner Küchenregion erschallte, oder der dumpfe Klang einer Fiedel, die – wohl im Leutehause – eine unermüdliche Hand strich – so, gerade so mußte es in einem Märchen wispern und klappern und fiedeln und – horch! welch melodischer Klang? Wehte er auf den Mondenstrahlen hernieder aus Ariels Reich? war's Gesang aus der Tiefe des Parkes von wohlgeschulten Männerstimmen? Aber der schöne Schwede und der Studiosus hatten doch wohl vorhin mit der Familie Sallentin das Haus verlassen? Indessen, sie und der Maler konnten es nur sein; sie hatten das Eichendorffsche Lied bereits heute abend gesungen, nur daß Gerhards gutgeschultes Ohr jetzt deutlicher und immer deutlicher die vierte Stimme – den zweiten Tenor – unterschied, der vorhin – zum großen Leidwesen der Gesellschaft – gefehlt. War es der so lebhaft vermißte, flatterhafte Freund? Er hatte sich des Leichtsinnigen heute abend recht geschämt; aber es schien niemand in seinem Fortbleiben etwas Auffallendes oder gar Bedenkliches zu finden; so hatte denn auch er sich beruhigt und schließlich nur gewünscht, er hätte in dem unbekannten und manchmal nicht ganz gefahrlosen Wasser, durch das er sein Schifflein steuern mußte, den Jugendfreund als Piloten zur Seite gehabt.

Da traten die Sänger zwischen den Büschen hervor, kamen auf das Haus zu und standen jetzt unter seinem Fenster. Der Mond schien hell auf die Gestalten: den kleinen Maler, den langen Schweden und seinen Kommilitonen mit der Zereviskappe – wer aber war die vierte Gestalt? Die Größe stimmte ungefähr, aber dieser Mann erschien noch einmal so breit und dick – und doch!

»Guten Abend, Gerhard!« riefs herauf.

»Guten Abend, Anton!« rief Gerhard hinab.

»Darf ich noch zu dir kommen?«

»Versteht sich!«

»Wir auch?« krähte Herr Spatzing und schlug mit den Armen, als wenn er zum Fenster emporfliegen wollte.

»Ihr bleibt unten!« befahl Stude, »oder geht mit herauf. aber legt euch zu Bett und schlaft euren Rausch aus! Sie haben – nämlich alle einen Hieb, Gerhard! Das kommt davon, wenn ich einmal den Rücken wende. Ich hoffe, du bist noch einigermaßen nüchtern, Alter?«

»Komm nur!« sagte Gerhard und zog sich vom Fenster zurück, um dem lauten Gespräch in der stillen Nacht, während voraussichtlich die anderen Hausbewohner bereits schliefen, ein Ende zu machen. Denn daß der Freund alle Ursache habe, ebenfalls zu Bett zu gehen, schien leider nur zu gewiß.


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