Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel

Als Gerhard auf dem Hofe anlangte, wurde eben die Mittagsglocke für die Leute gezogen; die Herrschaft speiste – gegen die Sitte des Landes und nicht zum Vorteil für die Wirtschaft – erst mehrere Stunden später. Herr Zempin war um diese Zeit fast immer in den Gewächshäusern oder bei den Blumenbeeten; auch heute, wie Gerhard auf seine Anfrage erfuhr. So begab er sich denn dorthin auf einem kleinen Umwege. Er hatte, während er sich umzog, von seinem Fenster aus in der großen Laube auf der anderen Seite des Rasenplatzes eine kleine Gesellschaft versammelt gesehen, unzweifelhaft in eifriger Debatte über das bereits seit einer Woche ständige und, wie es schien, unerschöpfliche Thema des Waldfestes. Sobald er sich blicken ließ, wußte er, würde man ihn festzuhalten versuchen; und es lag ihm daran, sich mit Herrn Zempin sobald als möglich über die Kosenower Angelegenheit auszusprechen. Das Barometer, das auf dem Hausflur hing, war abermals gefallen, und – war es die Hitze, waren es die Erlebnisse des Morgens? – er fühlte eine dumpfe Schwere in Kopf und Herz, als ob der Druck der Atmosphäre auch auf ihm lastete, als ob die Sonne auch für ihn die längste Zeit geschienen, als ob auch für ihn eine Katastrophe sich vorbereite.

Die Gewächshäuser waren auf einem Gelände errichtet, das erst Herr Zempin zu dem Garten hinzugezogen, und zu dem man auf dem kürzesten Wege über einen kleinen Nebenhof gelangte, der von den Ställen für die fremden Pferde und einigen kleineren Wirtschaftsgebäuden eingeschlossen war. Hier pflegte an Tagen, wo großer Besuch auf Kantzow war – und dergleichen Tage gab es viele in der Woche – eine förmliche Wagenburg aufgefahren zu sein, worin manchmal alle Fuhrwerke – vom Leiterwagen bis zur eleganten Equipage – vertreten waren. Heute fand Gerhard nur drei oder vier und wieder nicht das zierliche Korbwägelchen, dessen Ponys sie selbst lenkte, während der kleine Groom hinter ihr auf seinem unsicheren Sitze hin und her geschleudert wurde. Dafür prangte hoch und breit eine offene Kutsche von ein wenig altertümlicher, schwerfälliger Bauart, mit einem mächtigen Wappen in rot, blau und silber, das die Baronenkrone trug, auf dem gelben Schlage. Diese Kutsche war unzweifelhaft zum ersten Male hier, solange er in Kantzow weilte; sollte sie den Majoratsherrn aus Basselitz gebracht haben? Es war wenigstens der einzige Baron, dessen er hatte erwähnen hören, freilich mit dem Hinzufügen, daß er nicht in Kantzow verkehre, wie lange er auch bereits in Kosenow aus und ein ging – mit einer Beharrlichkeit, pflegte Frau Zempin lächelnd hinzuzufügen, die eines besseren Erfolges würdig wäre.

Sollte die Beharrlichkeit schließlich doch gekrönt sein? dachte Gerhard; – es würde für dich ohne alle Schmerzen nicht abgehen; aber es gibt auch heilsame, heilende Schmerzen – das ist ein Trost.

Es mußte ein leidiger Trost sein. Gerhard wurde es immer trüber zu Sinn, je weiter er in das sonnige Revier kam, von dem jeder Zoll breit der fleißigsten Gartenkunst gehörte. Blumen überall, wohin das Auge blickte; ganze Wälder hochstämmiger Rosen, die freilich ihre schönste Zeit hinter sich hatten, während die der prunkenden Georginen, die in endlosen Reihen Hunderte von Quadratruten bedeckten, eben gekommen war. Dann wieder Beete, ja Felder voll Nelken, Levkoien, Reseda, veredeltem Rittersporn, Balsaminen, Duft- und Zierblumen aller Art, von denen manche selbst Gerhard, ein wie großer Blumenliebhaber er auch von je gewesen, unbekannt waren. Und aus diesen Blumenwäldern und -feldern stieg köstlicher Würzduft in die heiße, stille Luft, durch die sich wollüstig auf sammetnen Schwingen prächtige Falter wiegten, hier über dem prangenden Blumenflor ebenso in ihrem Revier, wie vorhin über der sonneverbrannten Wiese die flatternden weißen Schmetterlinge.

Es ist wahrlich sehr schön, murmelte Gerhard; nur darf man nicht zuvor in so trübe Augen geblickt, so seltsame Reden vernommen haben und – das Barometer so tief stehen.

In dem Palmenhaus, wohin ihn einer der Gärtnerburschen gewiesen, fand Gerhard Herrn Zempin. Eine Araukaria, über deren Ankauf er lange Zeit mit dem Direktor des botanischen Gartens in Grünwald verhandelt, war heute morgen endlich angekommen, und die Vorhalle, in der schon seit Wochen alles zu dem Empfang vorbereitet gewesen, mit dem stattlichen Fremdling geschmückt. Man war soeben mit der Aufstellung fertig; die Arbeiter konnten ihre Werkzeuge nicht schnell genug für Herrn Zempin auf die Seite schaffen und selbst die Halle verlassen.

»Wie soll man in der Unordnung des Anblickes froh werden?« rief er Gerhard entgegen; »wo die Natur alles mit so wunderbarer Ordnung und zierlicher Anmut gebildet hat, muß auch die Umgebung dem entsprechen. Meinen Sie nicht?«

»Ohne Zweifel!« erwiderte Gerhard, sich im stillen wundernd, wie der seltsame Mann dieses ästhetische Prinzip nur für die eigene Erscheinung nicht gelten ließ oder doch nicht forderte. Sein Anzug war nicht ganz so bedenklich, wie bei jener ersten Begegnung; aber die verschossene Joppe bildete wieder das Hauptkleidungsstück, die Füße staken wieder in den ausgetretenen Pantoffeln, und Haar und Bart starrten, als wären sie seit Wochen nicht gekämmt, um den prachtvollen Kopf, um das große, jetzt in der freudigen Aufregung doppelt schöne Gesicht.

»Das ist nun meine Lust«, rief er, »meine einzige, darf ich wohl sagen, meine reinste gewiß! Und Sie haben sich unterdessen wieder einmal auf den heißen Feldern abgequält; zwischen den langweiligen Hocken und Erntewagen, mit dem faulen, widerspenstigen Gesindel herumgeärgert, zu einziger Erquickung, wenn es hoch kam, ein lehrreiches Gespräch mit dem geistreichen Klempe, abermals über Hocken, Erntewagen et cetera

»Und was werden Sie von mir denken«, erwiderte Gerhard, »wenn ich nur zu dem Zwecke gekommen bin, Ihnen den Inhalt eines derartigen Gespräches, das in der Tat stattgefunden, mitzuteilen? Ihre Entscheidung darüber entgegenzunehmen und Ihre Befehle zu erbitten?«

Gerhard wußte bereits aus Erfahrung, daß Herrn Zempins Teilnahme auf geschäftliche Angelegenheit zu lenken nicht leicht und seine Aufmerksamkeit dabei festzuhalten noch viel schwerer war. Er ließ ihm deshalb zu einer Ablehnung, die er stets bereit hatte, keine Zeit, und sich selbst in seinem Vortrage durch die Wolken des Mißvergnügens nicht stören, welche, je länger er sprach, immer dunkler über Stirn und Augen des Mannes zogen.

»Ich weiß«, schloß er, »daß ich Ihnen mit solchen Mitteilungen keine Freude mache; aber ich halte sie für meine Pflicht, um so mehr –« er zögerte einen Moment und fuhr dann auf Herrn Zempins finster fragenden Blick entschlossen fort: »als niemand sonst in Ihrer Umgebung, soviel ich sehen kann, dafür das nötige Interesse, vielleicht auch den nötigen Mut dazu hat.«

»Und ich danke Ihnen«, rief Herr Zempin, Gerhard die gewaltige Hand entgegenstreckend, »danke Ihnen aufrichtiger, herzlicher, als Sie denken mögen. Denn selbst Sie, so scharf Sie mit Ihren klugen, vorurteilsfreien Augen beobachten, können nicht wissen, wie sehr Sie recht haben, wie dringend ich jemandes bedarf, der es wirklich ehrlich mit mir meint und für mich eintritt, wo meine Gutmütigkeit und meine Bequemlichkeit das Feld für Leute frei lassen, die nichts anderes sehen, nichts weiter wollen, als ihren eigenen Vorteil. Ich bin nicht immer so gewesen, glauben Sie mir; aber wie der große König, den ich respektiere, trotzdem er ein Tyrann war, am Schluß seines Lebens sagte: Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen – so darf ich bekennen: Ich bin es müde geworden, mit der Dummheit, der Gemeinheit, die mich auf Tritt und Schritt umgibt, zu kämpfen. Mit welchen hochfliegenden Plänen bin ich damals von der Universität, von meinen Reisen zurückgekommen in diese meine Heimat! wie habe ich es mir als ein köstliches, ja als das allein menschenwürdige Dasein gedacht, als freier, unabhängiger Mann auf meinem vom Vater ererbten Hufen zu sitzen und, ein zweiter Prometheus, das Licht der Aufklärung meinen Hintersassen, meinen Nachbarn, meinen Landsleuten voranzutragen; diesen abgelegenen, dem Vaterlande so lange entfremdeten Winkel nun erst wirklich für Deutschland und für das größere Reich der Bildung des Jahrhunderts zurückzuerobern! Großer Gott, wenn ich daran denke! und denke, was daraus oder vielmehr wie so wenig, so gar nichts daraus geworden! wie nach und nach die himmelhohen Projekte so jämmerlich zusammengeschrumpft, die flammenden Aspirationen elend erloschen sind, als wären's ebenso viele Unschlittkerzen. War es, ist es meine Schuld? Ich habe es mich oft gefragt – ich kann mich nach bestem Wissen und Gewissen vielleicht nicht ganz freisprechen, aber noch weniger ganz verdammen. Gerade da am wenigsten, wo meine Torheit für den, der nicht genauer hinsieht, am offenkundigsten zu liegen scheint. Ich habe mein bestes Land an die Büdner hingegeben für einen Spottpreis, ja – aber doch nur, um den stupiden Besitzern unserer weiten Latifundien, um der trägen Regierung mit einem guten Beispiele voranzugehen und ein Geschlecht von freien kleinen Bauern schaffen zu helfen, ohne das jedes Land, es sei so reich wie es sei, schließlich verarmen und untergehen muß. Denken Sie an England! erinnern Sie sich der rührenden Verse, die Goldsmith in seinem deserted village wie melancholischen Abendsonnenschein um die Hütten breitet, aus denen Habgier und Hoffart die Bescheidenheit und die Unschuld vertrieben hatten! – Daß ich allein blieb, keinen Nachfolger fand, nicht einen einzigen, und schon deshalb ein Versuch, der durchaus, um zu gelingen, von der allgemeinen Meinung getragen werden mußte, ein verfehlter war – das kann ich mir nicht zur Schuld anrechnen; das ist eine Ungerechtigkeit, welche der Staat, welche die Provinz an mir begangen, und die man mich außerdem mit einem Vierteil meines Vermögens hat büßen lassen, ganz abgesehen von dem Ruf eines Don Quichotte und Verschwenders, den ich, als Marktknochen, habe in den Kauf nehmen müssen. Freilich, hätte ich mir das schöne Geld durch die Gurgel gejagt, wie Herr Hinrichs auf Radebas, oder mir dafür einen Hirschpark angelegt, wie Gustav Stut auf Faschwitz, oder goldene Vogelbauer gekauft, wie mein Bruder auf Kosenow, oder aber auch den Haufen fein beisammen gehalten und noch immer mehr dazugekratzt und gescharrt, und wär's aus dem tiefsten Schlamm, wie mein Herr Schwiegervater auf Swinhöft – das würde man begreifen! Das sind Liebhabereien, mit denen am Ende der gesunde Menschenverstand sehr wohl bestehen kann. Der gesunde Menschenverstand! Wissen Sie, was das heißt? das heißt die kleinlichste, erbärmlichste, banausischste Gesinnung! das heißt: der schmutzigste Geiz, der bornierteste Egoismus! das heißt: die kurzsichtigste Kirchturmpolitik, die niederträchtigste Liebedienerei nach oben, die brutalste, schindermäßigste Frechheit nach unten!«

Die Augen des Mannes sprühten Blitze, während er, wie ein Löwe an dem Gitter seines Käfigs, vor Gerhard in dem engen Raume der Halle auf und nieder schritt, hinter sich die Araukaria, welche er diese ganze Zeit so ungeduldig herbeigesehnt, und die er nun völlig vergessen zu haben schien. Gerhard hatte keinen Versuch gemacht, den Redestrom zu unterbrechen; er wußte nun bereits aus Erfahrung, daß es dem Zufall überlassen bleiben mußte, ob Herr Zempin auf das eigentliche Thema zurückkam. Heute war die Aussicht dazu möglichst gering und er deshalb nicht wenig erstaunt, als Herr Zempin, nachdem er noch ein paarmal schweigend, aber mit lebhaftem Mienen- und Gebärdenspiel die Halle durchmessen, plötzlich auf der eisernen Bank, die zu bequemerer Betrachtung der Araukaria angebracht war, Platz nahm und, ihn an seine Seite winkend, in viel ruhigerem Tone, durch den sogar eine gewisse, bei dem Manne höchst auffallende Unsicherheit hindurchklang, also fortfuhr:

»Verzeihen Sie, daß ich so weit von der Sache, die uns beschäftigt, abgeschweift bin; aber ich gerate jedesmal in Zorn, wenn ich bedenke, was diese Menschen sind und was sie sein könnten – Menschen mit dem Mark der Bären und Löwen in den Knochen, und geistig begabt genug, wenn sie diese Gaben nur benutzen wollten. Sie haben es nie gewollt, vielleicht, ja wohl gewiß nur darum nicht, weil sie es nie gebraucht, gemußt, weil niemals hinter ihnen die dura necessitas stand, die harte, segensvolle Mutter so ziemlich alles Guten und Großen auf Erden. Wir – ich meine meinen Bruder Johann und mich – sind freilich noch ein wenig von der Not gestreift worden, mit der unser Vater so mannhaft gekämpft, aus der er sich so machtvoll herausgerungen in schwerer, unermüdlicher Arbeit. Als wir zu Jünglingen heranwuchsen, war der Vater längst schon in der Lage, uns alle unsere Launen befriedigen zu können. Und Gott mag wissen, daß es uns daran so wenig fehlte, als wären wir geborene Prinzen und nicht die Söhne eines weiland blutarmen Gutsverwalters! Sehen Sie, das ist der Fluch der Emporkömmlinge, von dem ihr Aristokraten niemals zu leiden habt! Ich darf und will meinen Vater nicht schelten; sie sagen ja, ich sei sein vollkommenes Ebenbild, leiblich und geistig, und so würde ich es wohl, wär ich er gewesen, nicht besser und weiser getrieben haben. Und dann waren wir zwei von zwölf Kindern – zwei schönen Mädchen und zehn überkräftigen Jungen – allein übrig geblieben; die anderen alle hatte der Tod weggerafft und mehr als einmal ein jäher, gewaltsamer: Sturz mit einem wilden Pferde, Ertrinken beim Baden – was weiß ich? Dazu war meine Mutter, deren Kraft zuerst die Sorge um die Not des Lebens, dann Kummer und Gram um den Verlust so vieler blühender Kinder gebrochen, in ein zu frühes Grab gesunken, zu früh für den Vater, der dadurch seiner besten Stütze beraubt; viel zu früh für uns, deren unbändige Wildheit fortan nicht einmal mehr durch die Rücksicht auf die Gute, Kränkliche um ein weniges gezügelt wurde. Von diesem Moment, von dem Moment, da sie ihre sanften Augen schloß, datiert – ich erinnere mich ganz genau – die traurige Ära des Bruderhasses und der Bruderfehde, die leider bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen ist, im Gegenteil, nachdem sie sich auf vier Augen beschränkt, nur immer heftiger entbrannte, wenngleich ich meinen Bruder, der eine halbe Meile von mir entfernt wohnt, seit Jahren nur immer aus der Ferne gesehen, falls wir uns einmal auf den Feldern begegneten. Anfangs grüßten wir uns doch wenigstens, zuletzt hat auch das aufgehört; das Tischtuch ist völlig zwischen uns zerschnitten; wir kennen uns einfach nicht mehr. Und das ist denn auch die Antwort auf Ihre Frage, ob ich mich in der bewußten Angelegenheit nicht an meinen Bruder wenden möchte.«

Er stand schnell auf, machte sich an der Araukaria zu schaffen, kam aber gleich wieder an seinen Platz zurück und sagte:

»Und ist auch die einzige Entschuldigung für die Erzählung von Geschichten, die ihnen, dem am wenigsten Neugierigen und zugleich Verschwiegensten aller Sterblichen, höchst geschwätzig und indiskret, ja in Anbetracht der in jeder Beziehung rangierten und klaren Verhältnisse, worin Sie selbst aufgewachsen sind, auf die Sie durch wer weiß wie viele Generationen zurückblicken, so recht gründlich plebejisch und widerwärtig erscheinen müssen.«

»Ich kann das durchaus nicht gelten lassen«, erwiderte Gerhard lebhaft; »ich bin keineswegs so wenig neugierig, wie Sie annehmen, wenn ich auch allerdings sagen muß, daß meine Neugier nur der herzlichen Teilnahme entspringt, die ich vom ersten Augenblicke an für Sie – für Ihre Familie empfunden. Auch habe ich die Körner, welche mir der Lauf der Unterhaltungen gelegentlich zuführte, sorgsam beachtet und gesammelt und hätte durchaus nichts dagegen gehabt, wenn sich der kleine Schatz auf loyalem Wege vermehrt hätte. Zu fragen, mich aufs Ausforschen und Aushorchen zu legen, erschien mir freilich ein solcher Weg nicht, und ich sagte Ihnen bereits, daß Freund Stude sich vorher und nachher in allem und jedem, was Ihre Verhältnisse, Ihre Familie betrifft, einer Verschwiegenheit beflissen hat, die man bei dem Leichtlebigen, Redseligen nicht vermuten sollte. Um so dankbarer aber bin ich nun Ihnen, da sie aus freien Stücken den Schleier lüften, der für den Neuling, den Fremden, oft so unbequem dicht über Angelegenheiten liegt, die gar nicht des Schleiers bedürfen. Und wie ich mich nun durch Ihr Vertrauen aufs höchste geehrt fühle, so ist es mir unmöglich, Sie in dem Glauben zu lassen, daß meine Verhältnisse nur Erfreuliches bieten. Zwar meine drei Brüder und ich – ich darf sagen, ein innigeres Band hat Geschwister wohl selten umschlungen; und so kann ich recht empfinden, was Sie entbehren, und wie schmerzlich diese Entbehrung für ein großes und edelmütiges Herz, wie das Ihre, sein muß. Sonst aber hat in meiner Familie der Streit jahrelang geherrscht, noch dazu in der widerwärtigsten Form: um mein und dein. Sie sehen mich erstaunt an, Herr Zempin, und ich schließe daraus – was ich übrigens auch schon sonst vermutet – daß Stude Ihnen gegenüber so verschwiegen gewesen ist wie gegen mich. Oder vielmehr – er hat diese Verschwiegenheit nur gebrochen, um über meine Vermögensverhältnisse Märchen zu verbreiten, die seiner Eitelkeit schmeicheln mögen, mir aber höchst peinlich sind, und die auf ihren winzigen Wahrheitskern zurückzuführen ich mir schon lange vorgenommen. Darf ich diese Gelegenheit benutzen?«

»Sie setzen mich in das höchste und schmerzlichste Erstaunen«, erwiderte Herr Zempin. – »Aber bitte, sprechen Sie! Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, was Sie mir mitteilen, völlig unter uns bleibt.«

»Im Gegenteil«, erwiderte Gerhard, »ich wollte Sie ganz ausdrücklich und dringend bitten, meine Mitteilungen nicht geheim zu halten, sondern ihnen in Ihrer Gesellschaft eine möglichst weite Verbreitung zu geben, besonders aber Ihre Frau Gemahlin davon zu unterrichten.«

»Sprechen Sie!« wiederholte Herr Zempin.

»Es ist«, hub Gerhard an, – »um es kurz zu sagen, mein Großvater, der uns, nach Menschenbegriffen, ins Unglück gestürzt hat, durch eine Weltlust, wie sie in dieser Maßlosigkeit, glaube ich, nur das vorige Jahrhundert gekannt hat. Mein Großvater scheint durchaus der Typ jener Lebemänner gewesen zu sein, deren Motto es war: après nous le déluge! Auch war er – ich gestehe es zu meiner Beschämung, obgleich ich unschuldig genug daran bin – viel mehr Franzose als Deutscher: ja, er war ganz Franzose in seiner Sprache, seinen Sitten, oder leider in seiner Sittenlosigkeit, in seinen Tendenzen und Sympathien. Schon als ganz junger Mensch nach Paris geschleudert – in das Paris des Faublas und der liaisons dangereuses – hatte er – als ein reicher, bildschöner, junger Kavalier – selbst unter den Roués jener Tage glänzenden Elends durch seine Verschwendung, seine Tollkühnheit, seine zahllosen Abenteuer sich eine traurige Berühmtheit erworben, und sein verwildertes Herz blieb in Frankreich, auch als er mit den Refugiés der Revolution – den Genossen seiner Ausschweifungen und Abenteuer – nach Deutschland zurückgekehrt war und geheiratet hatte. Ich vermute, dieser letztere Schritt war nur eine jener wilden Launen gewesen, aus denen sein Leben bestand; wenigstens verließ er nach Jahresfrist Weib und Kind und das Schloß seiner Väter, um ruhelos durch die Welt zu schweifen, sich heute für eine Tänzerin in Neapel zu schlagen, morgen für die Bourbonen in der Champagne, und zuletzt mit einer gewissen Ausdauer, die bei ihm, dem Wankelmütigsten der Menschen, sich ganz seltsam ausnimmt – für Napoleon! Ja, Herr Zempin, es ist furchtbar, daß ich es sagen muß: in den Schlachten, die den Fall Preußens herbeiführten und die Knechtschaft Deutschlands besiegelten, zog ein Vacha seinen Degen für Frankreich gegen sein Vaterland, nicht gezwungen, nicht durch seinen Lehns- oder Fahneneid gebunden, wie so mancher ehrliche Kerl, mit blutendem Herzen – sondern aus wüstem Übermut, oder in sklavischer Huldigung des Usurpators, dessen freche Genialität seinem blasierten Herzen imponiert haben mochte. Da ist es denn förmlich als eine Gnade für uns anzusehen, daß sein letzter Waffengang wenigstens nicht mit seinen deutschen Brüdern war, sondern mit Rußland, wohin er seinem vergötterten Helden in den verderblichen Feldzug von 1812 folgte.

Gerhard schwieg, ergriffen von Erinnerungen, deren düstere Farbe mit der wehmutvollen Stimmung, die ihn bedrückte, nur zu sehr harmonierte. War nicht alles, was er da eben erzählt, ein Kommentar zu der herben Lehre des Mannes im Walde, daß nichts verjähre – nicht in der Natur, nicht im Menschenleben, keine gute, aber auch leider keine böse Tat?

Mit gespannter Aufmerksamkeit, die sich in dem lebhaften Mienenspiel seines ausdrucksvollen Gesichtes, in manchem Heben und Senken der Augenbrauen, langsamem Wiegen des Hauptes und blitzschnellem Zucken der vollen Lippen widerspiegelte, hatte Herr Zempin zugehört. Jetzt legte er Gerhard die breite Hand auf das Knie und sagte:

»Es ist in der Tat fürchterlich, was Sie da berichten – für Sie doppelt fürchterlich, weil Sie, der Enkel dieses Apostaten der Freiheit und Vaterlandsliebe, ein edler Mann nicht nur, sondern – ein Edelmann sind; das heißt auferzogen und aufgewachsen in der Tradition Ihres alten Geschlechtes, in der Lehre von der Kontinuität der Erbfolge in jeder Bedeutung des Wortes, in dem aristokratischen Wahn – verzeihen Sie das Wort! – daß ein Verbrechen der Ahnen auch noch das Wappenschild des Enkels beflecke. Da sind wir Plebejer freilich besser daran; ich weiß zum Beispiel nicht – und so geht es den meisten meinesgleichen – wer mein Großvater war. Da kann ich freilich auf ihn nicht stolz sein, aber ich brauche mich auch nicht im übertriebenen Ehrgefühl seiner zu schämen.«

»Und sind doch stolz auf Ihren Vater«, fiel Gerhard mit Lebhaftigkeit ein – »und sind es mit Recht – auf den Mann, der durch seinen Fleiß, seine Energie und zweifelhaft hohe intellektuelle Begabung sich herausgehoben hat aus plebejischem Dunkel zu der stolzen, weithin sichtbaren Höhe eines der reichsten Grundbesitzer dieses reichen Landstriches! Nein, Herr Zempin, lassen Sie mich immerhin über meinen Großvater erröten, wenn Sie mir nur erlauben, daß mein Herz höher schlägt, sobald ich meines Vaters gedenke. Und da Sie einmal Geduld genug gehabt haben, meine Familiengeschichte so weit anzuhören, so vergönnen Sie mir, noch ein Kapitel – das letzte – hinzufügen zu dürfen, das die Andeutungen vervollständigen wird, die ich vorhin über meine augenblickliche Lage machte. Darf ich?«

»Ich bitte Sie, Herr Baron!«

Gerhard blickte erstaunt auf: es war das erstemal, daß ihn Herr Zempin oder überhaupt jemand auf Kantzow so nannte.

»Stude ist unschuldig«, sagte Herr Zempin lächelnd; »er ist über Ihre Würden so verschwiegen gewesen, wie über diejenigen Ihrer Vorzüge, auf die ich größeres Gewicht lege. Der Lauf unseres Gespräches hat mich eben nur an einen Brief erinnert, den ich bereits seit zwei Stunden bei mir trage, wo ihn ein reitender Bote brachte – von Teschen. Die Sache ist am Ende eilig; verzeihen Sie meine Nachlässigkeit!«

Er hatte an sich herumgefühlt und brachte jetzt aus der tiefen Tasche seiner Joppe zwischen Stücken Bindfaden, Bast, Gartenscheren und anderen Werkzeugen einen großen Brief zum Vorschein, dessen mächtiges, rotes Siegel ein adliges Wappen zeigte. Herr Zempin deutete auf die Adresse, die an ›Herrn Baron Gerhard von Vacha. Hochwohlgeboren.‹ lautete. – »Ihr Herren untereinander pflegt euch in derlei Dingen nicht zu verschreiben«, fügte er lächelnd hinzu. – »Genieren Sie sich nicht!«

Gerhard erbrach den Brief, der aus nur wenigen Zeilen bestand, welche er auf der Stelle Herrn Zempin mitteilte. »Der Graf Westen beehre sich, Herrn Baron Gerhard von Vacha die Grüße auszurichten, die ihm Baron Odo von Vacha in Berlin an den Herrn Vetter, zurzeit in Kantzow, aufgetragen. Er, der Graf, und seine Gemahlin hofften, recht bald die persönliche Bekanntschaft des Herrn Barons zu machen.«

»Wie sonderbar«, sagte Gerhard, »daß dies in dem Augenblick mir zu Händen kommt, wo ich im Begriffe stand, Ihnen mitzuteilen, wie es geschehen, daß wir – ich meine, unsere Linie der Vacha – Barone sind ohne die immerhin wünschenswerte Baronie. Es ist wiederum der Leichtsinn meines Großvaters, der, um eine Ehrenschuld von ungeheurem Betrage bezahlen zu können, die er in einer leichtsinnigen Nacht auf sich geladen, sein Erstgeburtsrecht und seine Ansprüche auf die Hauptmasse der Vachaschen Güter – zu jener Zeit noch in den Händen eines kinderlosen Oheims – einem um mehrere Jahre jüngeren Vetters verkaufte, der allerdings der legitime Erbe gewesen sein würde, wenn mein Großvater ohne männliche Nachkommenschaft gestorben wäre. Nun aber war mein Vater, sein einziger Sohn, damals bereits ein kräftiger Jüngling von achtzehn, neunzehn Jahren, über dessen Kopf weg der schlimme Handel nach alten Familienbestimmungen und Verträgen gar nicht abgeschlossen werden konnte. Und doch kam er zustande – in tiefster Heimlichkeit, die erst mehrere Jahre später von der anderen Seite gelüftet wurde, als der Oheim gestorben und mein Großvater, ohne von seiner Frau, die er von Anfang an betrogen, von seinem Sohne, den er kaum je gesehen, Abschied zu nehmen, ausgezogen war, um nie zurückzukehren.«

»Ein Opfer des russischen Feldzuges?« frage Herr Zempin.

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Gerhard, »und das Dunkel, das über seinem Ende liegt, wird wohl schwerlich jemals gelüftet werden. Es ist niemals seit seiner Abreise, die eigentlich eine Flucht war, irgendeine Nachricht, irgendein Lebenszeichen von ihm in die Heimat gelangt. Vielleicht ist er gleich in einem der ersten Gefechte geblieben – an Wagemut hatte es ihm nie gefehlt – vielleicht ist er, wie die Tausende der anderen, in den Schneefeldern auf dem Rückzuge elend umgekommen; vielleicht hatte er sich doch gerettet und nur Deutschland für immer den Rücken gewandt, um, in gewohnter Weise die Welt durchschweifend, sein Abenteurerleben, der Himmel weiß wo, zu beschließen. Jedenfalls spielt die Ungewißheit über seinen Verbleib eine leidige Rolle in dem Rechtsstreit, der nun zwischen meinem Vater und dem Vetter entbrannte. Ich darf Sie nicht mit den Einzelheiten eines Handels behelligen, der über zwei Jahrzehnte geführt ist, und in dem sonderbarere Peripetien vorkommen, als von denen die Rechtsphilosophie sich träumen läßt. Das Ende war eine vom Gerichte beliebte Art von Vergleich oder Kompensation, nach welcher dem Vetter die Hauptmasse, meinem Vater gewisse Güter, deren Konnex mit der Hauptmasse zweifelhaft war, zugesprochen wurden und – vermutlich als eine Entschädigung für den mageren Anteil – das Recht, den Baronentitel zu führen, der ursprünglich nur an der Hauptmasse haftete. Mein Vater hat den Titel nie geführt. Er gehörte zu den Leuten, die, nach des Dichters Worten, einen Strohhalm breit verfechten, wenn Ehre auf dem Spiele; er wollte sein gutes, ganzes Recht, nicht des Rechtes Schein; er hat auch den Besitz jener ihm zugesprochenen Güter nie angetreten, und nur mit äußerster Mühe und tausend Bitten und Tränen hat meine teuere Mutter ihm die Erlaubnis abgerungen, daß sie auf uns, seine Söhne, übertragen werden durften. Dafür hatte er, überzeugt, daß er endlich doch siegen müsse, während des Streites Schulden kontrahiert, die er, als der Sieg sich gegen ihn entschieden, durch den Gewinn aus Unternehmungen landwirtschaftlich-industrieller Natur, die nicht immer einschlugen, abzutragen suchte. So ist sein Leben ein einziger, oft verzweifelter Kampf gegen ein widriges Geschick gewesen; und seine Todesstunde hat nur die Gewißheit verklärt, daß seine Söhne selbst lieber sterben würden, als einen leichtesten Makel auf dem Leben eines Mannes lassen, dessen Herz so rein war wie das Herz der Wasser.«

Gerhards Stimme hatte bei den letzten Worten gebebt, und er konnte, als ihm jetzt Herr Zempin die Hand drückte, nicht gleich die Augen aufschlagen. Wie er es nun tat, sah er, daß die Augen des Mannes selbst voll Tränen standen.

Einer so herzlichen Teilnahme gegenüber schämte er sich nicht länger der eigenen Tränen und der tiefen Bewegung, mit der er dem Freunde, der die mächtigen Arme nach ihm ausstreckte, an die Brust sank.

»Und nun«, sagte Herr Zempin lächelnd, indem er Gerhard wieder auf die Bank zog, »da die frohe Ahnung, die mich bei Ihrem ersten Anblick überkam: daß wir Freunde werden müßten, sich so bald und so ganz erfüllt, darf ich von dem Vorrecht der Freundschaft Gebrauch machen und mich ein wenig in die Angelegenheiten Ihres Herzens mischen, nur um Ihnen einen Wink zu geben, der Ihnen vielleicht gerade in diesem Augenblicke ersprießlich ist? Sie blicken mich erstaunt an; aber ich glaube sehr genau zu wissen, weshalb Sie mir gerade jetzt diese Mitteilung machten. Ich habe ein Paar sehr scharfer Augen; und wenn ich mich auch wenig in die Gesellschaft mische, ich sehe doch so ziemlich alles, was da vorgeht. Sie wissen, worauf ich hinaus will?«

»Ja«, erwiderte Gerhard.

»Das ist recht«, rief Herr Zempin; »das habe ich erwartet. Und so kurz und bündig, wie Ihr vertrauensvolles, ehrliches Ja: Sie lieben meine Nichte Maggie, oder, wenn das zu viel ist, Sie interessieren sich, interessieren sich lebhaft für das schöne Kind. Wie sollten Sie auch nicht? Sie mit Ihrem empfänglichen Herzen? Aber auch das Herz der Kleinen ist empfänglich; und es müßte mich denn alles trügen, oder Sie haben auf dies kleine empfängliche Herz einen großen, dauernden Eindruck gemacht. Hier werden Sie nun, wenn ich Sie fragte, ob Sie derselben Überzeugung sind, natürlich nicht wieder mit ja antworten aus selbstverständlicher Delikatesse und Bescheidenheit. Und doch möchte ich Sie gerade vor dieser Bescheidenheit warnen. In dem Kampfe um Weibergunst so wenig, wie in dem um Ruhm, darf man sich zu sehr auf seinen persönlichen Wert verlassen; selten, kaum jemals wird die schöne Helene dem Würdigsten zuteil, wenn er nicht auch zugleich der Eifrigste, der Kühnste, ja, verzeihen Sie das Wort: der Keckste ist. Die lieben Mägdelein wollen es einmal so, und um so mehr, je umworbener sie sind. Nun wird es Ihnen nicht entgangen sein, daß unsere kleine Prinzessin der umworbensten eine ist. Fügen Sie zu Ihren übrigen Verdiensten noch das einzige, das Ihnen – nicht in meinen, vielleicht aber in den Augen der Prinzessin, fehlt, und das Rätsel ist gelöst, und Turandot wird ja sagen, wie ich von Herzen Amen.«

Herr Zempin hatte mit gewohntem Eifer, aber auch mit einem seinem leidenschaftlichen Wesen sonst fremden, freundlichen Humor gesprochen; Gerhards Herz war von den wechselndsten Empfindungen bestürmt. Zu seiner Beschämung war selbst der Unwille nicht ganz ausgeschlossen, der ihn überkommen, als vor wenigen Stunden Herr Klempe sich jene plumpe Anspielung erlaubte auf ein Verhältnis, das zwischen ihm und Maggie bestehen sollte. Je weniger er aber eines Freundes gutmütigem Eifer zürnen konnte, um so schmerzlicher empfand er das grelle Licht, das nun so plötzlich in Tiefen seiner Seele fiel, in die er selbst nur erst scheue, sehnsuchtsvolle Blicke geworfen. Hatte er sich doch kaum zu gestehen gewagt, daß er das schöne Mädchen liebe, und zu der Möglichkeit, daß sie ihn wiederliebe, aufgeschaut wie zu den Sternen, die man nicht begehrt, weil das Begehren Torheit wäre. Und nun hörte er das alles aus eines anderen Munde als etwas, das sich ganz von selbst verstehe, woran man gar nicht zweifeln könne: ein Geheimnis nicht länger und ein Problem, sondern eine offenkundige Tatsache, über die sich jeder seine Meinung bilden dürfe.

»Ich will mich nicht zieren«, erwiderte er, »und wie ein Kind Verstecken spielen, nachdem Ihr scharfes Auge mich einmal entdeckt hat. Aber Sie selbst können ja nun sofort aus den Mitteilungen, die ich Ihnen soeben – auf mein Wort! – mit keiner Nebenabsicht, nur meinem Wahrheitsdrange folgend, über meine Lage gemacht habe, die Konsequenzen für den Fall ziehen. Das Rätsel wird ungelöst bleiben, wenn meine Keckheit der Schlüssel sein soll. Woher sollte ich die nehmen? Mein Leben wird noch auf Jahre hinaus eine Fortsetzung des Kampfes sein, worin mein edler Vater schließlich unterlegen. Und ich kämpfe diesen Kampf nicht für mich allein, sondern auch für meine drei Brüder, die mir nicht helfen können, denen ich im Gegenteil helfen muß, ja, die für die Entwicklung ihrer schönen Talente gänzlich auf mich und das sehr bescheidene Kapital angewiesen sind, das mir persönlich eine gute alte Tante, deren Pate und Liebling ich war, vermacht hat. In das schwanke Schifflein meines Glückes noch ein geliebtes Weib nehmen – das hieße nicht keck und kühn handeln, das wäre tollkühn, das wäre gewissenlos.«

»Auch wenn die Segel Ihres Schiffleins sich so mit günstigern Fahrwind füllen«, rief Herr Zempin eifrig; »und Sie flott und frei dahintreiben können, wo Sie vorher mühsam rudern mußten? Lassen Sie uns ohne Bilder sprechen, als klare, verständige Männer, die da wissen, daß auch die Herzensangelegenheiten unter die Jurisdiktion der praktischen Vernunft fallen. Ich habe allen Grund anzunehmen, daß trotz einiger sehr kostspieligen Launen, die mein Bruder Johann hat, und trotz seiner geringen wirtschaftlichen Einsicht seine finanzielle Lage eine sehr gute, ja glänzende ist. Ich glaube nicht, daß Edith, die von jeher ein sonderbares Kind war, jemals heiraten wird; aber, täte sie es auch – es ist für beide Mädchen genug vorhanden. Sie sind kein Glücksjäger; Sie wollen sich Ihre Position in der Welt selbst schaffen, nicht von einem reichen Schwiegervater Ihr Nest füttern lassen – das ist ja alles ehrenwert und brav und Ihrer würdig; aber Sie unterschätzen sich selbst dabei in unverantwortlicher Weise: für einen Mann wie Sie ist kein Mädchen weder zu gut, noch zu schön, noch zu reich. Der Tausend! ich sollte in Ihrer Lage sein, oder ich wollte, ich wäre der reiche Mann, der Ihnen eine schönste Tochter zu geben hätte! Mit Freude und mit Stolz wollte ich es tun. Und ich kann Ihnen sagen, daß Ihre Bescheidenheit abermals in der Irre geht, wenn Sie annehmen: es ist nur eben meine Freundschaft und meine Voreingenommenheit, die mir Sie in einem so günstigen Lichte zeigt. Ich kann Ihnen sagen: andere sehen Sie nicht anders; haben im Gegenteil vom ersten Moment in Ihnen den gefährlichsten Mitbewerber um Turandots Gunst richtig herausgefunden. Da ist –«

»Herr Bagdorf«, sagte Gerhard.

»Pah! das ist Ihr Ernst nicht!« rief Herr Zempin.

»Ich würde ihn weniger ernsthaft nehmen, wenn er sich nicht der so mächtigen Protektion einer Dame erfreute, die –«

Gerhard verstummte, da er plötzlich Herrn Zempins Blick auf sich gerichtet sah mit einem Ausdruck, dessen Meinung er nicht verstand.

Nach einer kleinen, von Gerhards Seite etwas verlegenen Pause sagte Herr Zempin – wiederum in einem ganz eigenen Tone:

»So protegiere ich dafür Sie; wir wollen doch sehen, wer mächtiger ist, meine Frau oder ich! ich denke –«

Er nagte an den Lippen und brach plötzlich aus: »Bagdorf – der Fant, der Hohlkopf – der –, lächerlich!«

Und er lachte; das Lachen war laut genug, aber es war ein hohler, häßlicher Klang darin, der Gerhards Ohr unangenehm berührte. Er hatte bereits wiederholt die Bemerkung gemacht, daß Herr Bagdorf bei Herrn Zempin nicht eben in besonderer Gunst stand; doch hatte er den Grad der Abneigung nicht für so groß gehalten. Er hätte das Gespräch, das ihm von Minute zu Minute peinlicher wurde, gern abgebrochen; Herr Zempin schien es nicht zu bemerken.

»Nein«, sagte er; »Sie sind auf einer ganz falschen Fährte, und ich muß Ihnen schon auf die richtige helfen. Ich weiß mit voller Sicherheit, daß Lafing Basselitz – Lafing soll heißen Bogislaf – sich schon seit ein paar Jahren um Maggie – oder genauer gesprochen, da der junge Herr – der nebenbei an die Dreißig ist – hier wie in jedem anderen Falle seiner Mutter die Initiative überläßt – die Frau Mutter für ihn bewirbt; – und das will nicht nur ernst – das will sehr ernst genommen sein. Ich habe, als ich zwanzig Jahre jünger und leichtsinniger, auf einem recht – guten Fuß mit ihr, die damals noch nicht längst Witwe war, gestanden; und wir haben uns, wie vernünftige Leute pflegen, aus unserer kleinen Liaison ein gegenseitiges Wohlwollen für die Folgezeit bis auf den heutigen Tag gerettet. Ich kenne sie also besser als die meisten und finde es völlig begreiflich und in der Ordnung, daß sie hier in unserem ganzen Kreise allerdings nicht geliebt, aber desto mehr gefürchtet wird, jedenfalls allen ohne Ausnahme höchlichst imponiert. Sie ist in der Tat eine ungewöhnliche Frau, trotzdem Dativ und Akkusativ bei ihr in einem unerbittlichen Kriege liegen, in dem von beiden Seiten kein Pardon gegeben wird. Lieber Himmel! sie hatte bis zu ihrem siebzehnten Jahre, wo sie der Baron aus einem Gänsemädchen zur Frau Baronin machte, ein hochdeutsches Wort kaum gehört und ganz gewiß nicht gesprochen, und das Institut in Grünwald, wohin sie der Baron gegeben, mußte sie, da es eine Pension für junge Mädchen, aber nicht für junge Frauen war, nach kaum einem halben Jahre eines schönen Tages schleunigst verlassen. Der Sohn, der dann zur Welt kam, blieb der einzige; einzelne Söhne haben immer einen schweren Stand, besonders wenn der Vater früh stirbt und die Mutter, allen Vormundschaftsgerichten und Majoratskautelen der Welt zum Trotz, unumschränkte Regentin ist und bleibt und bleiben wird und will, auch wenn Lafing sich verheiratet. Und dann erst recht. Zu dem Zwecke muß aber die Heirat ganz von ihrer, der Frau Mutter, Gnade sein; und so ist ihr gerade eine Bürgerliche, gegen die das ci-devant Gänsemädchen ja sonst Einspruch erheben müßte, besonders willkommen. Sie hat bis jetzt freilich die Unerbittliche gespielt, um ihre schließliche Zustimmung desto kostbarer zu machen. Seitdem Sie aber im Felde erschienen und den Sieg an Ihre Fahnen zu heften scheinen, ist man, nach meinen sehr guten Nachrichten, aus der bisherigen Defensive herausgetreten, und wir müssen jeden Augenblick auf einen Gewaltstreich gefaßt sein.«

»Ich glaube, daß der Feind bereits innerhalb der Mauern ist«, erwiderte Gerhard mit einem Lächeln, das ihm nicht vom Herzen kam; – »wenigstens habe ich auf dem Hofe eine große, mir unbekannte Chaise mit einem Baronenwappen auf dem Schlage bemerkt.«

»Das ist sie, bei Gott, das ist sie!« rief Herr Zempin eifrig. »Sie Unglücksmann! und das sagen Sie mir erst jetzt? und sagen es so ruhig, so kühl! Sind Sie Ihres Sieges so sicher? oder – wäre Ihnen an dem Siege wirklich nichts gelegen?«

Gerhard hatte keine Zeit zu einer Antwort, bei der es mit einem einfachen Ja oder Nein freilich nicht getan war; denn bereits während Herrn Zempins letzter Worte hatten sich ganz in der Nähe Stimmen vernehmen lassen, und jetzt zeigte sich die Gesellschaft, die zwischen den Gewächshäusern unbemerkt herangekommen war, auf dem kleinen Platze vor dem Palmenhause und kam auf den Eingang zu; voran, mit eifrigen, mächtigen Schritten, eine große, stattliche Dame – unzweifelhaft die Baronin von Basselitz – hinter ihr, wie das Gefolge hinter einer Königin, die übrigen: Herren und Damen. – Gerhards Herz hatte vergeblich so gewaltsam geschlagen: Maggie war nicht in der Gesellschaft.


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