Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel.

Sie waren ihr entgegengerannt und hatten sie umringt und schalten auf sie ein. Nun trat sie aus dem Kreise hervor, auf Gerhard zu, der sich ebenfalls, wenn auch langsamer, genähert.

War's der Zauber der Stunde und des Ortes, war's die innere Erregung, mit der er, sich selbst kaum bewußt, ihrem Kommen entgegengeharrt – wie ein Neophyt der Erscheinung des Wunders –: er fühlte sich von Maggies Anblick so verwirrt, daß er, als sie mit einem holden Lächeln und einem leisen, freundlichen: »Guten Abend!« ihm die Hand reichte – so unbefangen, harmlos, als hätte sie ihn lange schon gekannt – er seinerseits die kleine Hand kaum zu ergreifen wagte und ein paar Worte stammelte, ohne zu wissen, was er sagte. Und seltsam! er hätte, wäre sie in diesem Moment im Abendschein dahingeschwunden, nicht anzugeben gewußt, wie sie ausgesehen; er hätte nur sagen können, daß er etwas Holdseligeres in seinem Leben nie erschaut, daß er nie für möglich gehalten, es könne das Leben etwas so Holdseliges bieten.

Es war wie ein Traum; und der Traum wurde kaum deutlicher, nur glänzender, als sie jetzt – sie war an Tining Pahnks Platz getreten – in gemessener Entfernung neben ihm stand und ihm die Reifen zuwarf, indem sie sich dabei jedesmal ein wenig auf den Fußspitzen hob und sich leicht vornüber neigte, wie wenn sie einen Pfeil vom Bogen schnellte.

Es war wie ein Traum; und wie im Traum nur immer ein Bild sich dem Chaos zu entringen und vom warmen Blute der Phantasie zu trinken pflegt, während die anderen schattenhaft vorschweben, so war ihm alles sonst in Abendschatten eingetaucht und versunken; und er sah – schimmernd, wie vorhin den einsamen Stern – einzig deutlich die zierliche, knospende Gestalt, in Weiß gekleidet, wie die übrigen Mädchen – nur daß das Kleid kein Kleid zu sein schien, sondern ein Glanz, der sich um sie und mit ihr bewegte. – Und dann schwand auch die reizende Gestalt, und er sah nur noch das liebliche, junge, süß lächelnde Gesicht, aus dem die großen, dunkeln Augen leuchteten. Und dann sah er nur noch die großen, dunkeln, leuchtenden Augen.

»Aber, Herr von Vacha, wie schlecht werfen Sie jetzt!« rief Fräulein Luise Sallentin.

Gerhard erwachte aus seinem Traum. Da war die Szene wieder, die ihn vorhin so entzückt: das Haus drüben, die Büsche, die Bäume, der Rasenplatz, die Gestalten der Spielenden, aber alles dunkler, wie der Himmel droben dunkler geworden, als habe der Abendstern das irdische Licht aufgesogen. An dem Rande des Bosketts, abseits von der Gesellschaft, stand ein Paar in, wie es schien, eifrigem Gespräch: Frau Zempin und ein junger, schlanker Mann, den er vorhin nicht bemerkt hatte.

»Nun werfen Sie wieder gut!« rief Fräulein Sallentin.

Fräulein Sallentin sollte sich der neu erwachten Spiellust ihres Nachbars nicht lange erfreuen. Von dem Wege her, der an dem Garten hinter der hohen Hecke vorüberführte, erschallte lautes Geschrei, Singen, Rufen, Jauchzen und Kreischen. Die Spieler auf dem Rasenplatze warfen Stöcke und Reifen fort und eilten nach dem Durchlaß an der inneren Hecke, der sich ganz nahe beim Hause befand und den Gerhard deshalb vorhin nicht gefunden. In einem Nu war der Platz leer; auch Frau Zempin und der schlanke junge Herr waren wieder verschwunden; Gerhard fand sich mit Maggie allein.

Aber der Zauber war gebrochen, wenn sein Herz auch heftiger schlug, als er den Reifen, den er eben Fräulein Sallentin hatte zuschleudern wollen, in der einen, den Stock in der anderen Hand, mit möglichstes Unbefangenheit fragte: »Was bedeutet dies, mein gnädiges Fräulein?«

»Daß wir zwei allein weiterspielen sollen.«

Sie hatte sich nicht von der Stelle bewegt und hob jetzt den Stock; Gerhard kam der Aufforderung sofort nach; sie fing den Reifen und warf ihn zurück, sich auf den Fußspitzen hebend und vornüber neigend – gerade wie vorhin. Das ging so eine kleine Weile; dann sagte sie:

»Wir haben ja noch kein vernünftiges Wort zusammen gesprochen; es ist so hübsch von den anderen, uns allein zu lassen. Finden Sie nicht?«

»Ganz gewiß, mein gnädiges Fräulein.«

»Nennen Sie mich nicht: Gnädiges Fräulein! Sagen Sie, wie die anderen: Fräulein Maggie! Wollen Sie?«

»Ganz gewiß, Fräulein Maggie.«

»Das ist hübsch von Ihnen; ich finde es überhaupt sehr hübsch, daß Sie nun doch gekommen sind.«

»Wieso: nun doch, Fräulein Maggie?«

»Ich hatte Herrn Stude gesagt, er solle Ihnen schreiben: Sie möchten ja nicht kommen.«

»Er hat mir nichts der Art geschrieben; warum aber sollte er das schreiben? Was hatten Sie gegen mich?«

»Ich? Gar nichts! Im Gegenteil! Aber Sie bleiben nicht bei uns.«

»Für immer?«

»Für die kürzeste Zeit; es ist zu langweilig und häßlich hier.«

»Das dürften Sie nicht sagen, Fräulein Maggie.«

»Dann sagt Ihnen Fräulein Maggie etwas anderes: bei der ersten Schmeichelei, die Sie ihr machen, hat unsere Freundschaft am längsten gedauert.«

Gerhard wußte nicht, wie es gekommen, aber sie waren sich nicht mehr so fern, ja so nahe, daß er ihre Augen, die er kaum noch unterschieden, wieder leuchten sah, glänzender, zaubermächtiger als zuvor.

»Ist es eine Schmeichelei, Fräulein Maggie, wenn ich –«

Er brach ab; das Herz schlug ihm bis an die Kehle; sie stand unmittelbar vor ihm, die dunkel leuchtenden Augen zu ihm erhoben, ein schelmisch trotziges Lächeln auf den knospenden Lippen:

»Nun?«

»Wenn ich an die lange Dauer unserer Freundschaft von vornherein nicht glaube?«

Sie lachte – leis und girrend, wie Schwalben zwitschern.

»Eine Schmeichelei? Freilich! Das tragen Sie zur Strafe für Ihr Kompliment, bis ich's Ihnen wieder abnehme!«

Sie hatte mit schneller Bewegung ihm den Reifen, den sie in der Hand hielt, über den Kopf um den Hals gelegt; im nächsten Moment eilte sie über den Rasenplatz dem Hause zu, in dessen Nähe sie mit einer zweiten weiblichen Gestalt zusammentraf, die nicht minder eilig von rechts herkam, und in der Gerhard Frau Zempin zu erkennen glaubte. Die beiden Damen, die einander untergefaßt hatten, stiegen eben die Treppe zur Veranda hinauf, als Gerhard nicht weit von sich jenen schlanken Mann, den er vorhin im Gespräch mit Frau Zempin beobachtet, auf sich zukommen sah. Er hatte gerade noch Zeit, den Reifen abzunehmen, als jener bereits bei ihm war.

»Ich erlaube mir, mich selbst Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Otto Bagdorf auf Bulitz«, sagte der junge Mann.

Er hatte Gerhard die Hand gereicht, indem er zugleich den hohen Hut höflich lüftete.

»Ich wollte vorhin nicht stören«, fuhr er fort. – »Sie waren so eifrig im Spiel; hatten Sie übrigens durch den ganzen Garten gesucht – Fräulein Maggie und ich – der alte Dämelack von Vadder Deep behauptete, Sie müßten irgendwo im Garten sein. Freue mich ausnehmend, Ihre Bekanntschaft zu machen; hoffe mit Bestimmtheit, werden gute Nachbarschaft halten.«

Herr Bagdorf sprach das alles so schnell herunter – als hätte er's auswendig gelernt – mit einer hohen, schnurrenden Stimme, indem er fortwährend mit der Reitpeitsche in der Luft fuchtelte oder gegen seine Stulpstiefel klappte. Er war, soweit Gerhard bei der matten Dämmerung unterscheiden konnte, ein hübscher Mann mit blondem Schnurrbart und sehr hellen Augen, deren Blick so ruhelos war, wie die ganze Haltung, und ebensowenig Vertrauen einflößte, wie die schnurrende Stimme.

Herr Bagdorf schien die Zurückhaltung, womit Gerhard seine Höflichkeit erwiderte, nicht zu bemerken; er schob sogar, während sie nun dem Hause zuschritten, seinen Arm unter und rief:

»Wir müssen zusammenhalten. Man wird Ihnen sagen: ich sei ein eitler, aufgeblasener Mensch; kehren Sie sich nicht daran! Die Sache ist, daß ich ein bißchen mehr gelernt und von der Welt gesehen habe, als unsere anderen jungen Herren. Und ist man dann noch gar Landwehroffizier, wie ich zum Beispiel – ich nehme an, daß wir Kameraden sind, Herr von Vacha? –«

»Bedaure,« sagte Gerhard, »für uns in den kleinen Staaten hat der Dienst wenig Anziehendes. Wir lassen jemand für uns einstehen: ein System, das ich nicht billige, aber dem man sich, wie die Dinge einmal bei uns liegen, fügen muß.«

»Ab«, sagte Herr Bagdorf – »nun, hat auch sein Angenehmes: diese ewigen Kontrollversammlungen und sechswöchigen Übungen und alle paar Jahre großes Manöver – ich kann Ihnen sagen, das ist eine verdammte Schererei. Indessen, das tut nichts; ich meine, wir müssen doch gute Kameradschaft halten. Sie müssen mich besuchen – sind in einer Stunde in Bulitz – gleich morgen – zum Frühstück – lasse es noch ein paar anderen sagen – wollen Sie?«

»Sehr gütig«, erwiderte Gerhard, »aber ich bin hier nicht mein eigener Herr; ich denke und hoffe, daß Herr Zempin morgen mit der Ernte beginnen wird; es scheint mir die höchste Zeit.«

Herr Bagdorf lachte und rief: »Der Tausend, Sie nehmen das ernsthaft! da werden Sie hier sehr isoliert stehen: halten Sie sich an Vadder Deep, der läßt auf Retzow schon seit Donnerstag mähen. Haben übrigens heute hier auch angefangen: auf der Retzower Scheide – die Leute kamen vorhin nach Hause; sind jetzt jedenfalls auf dem Hofe, und die Gesellschaft – bei der bunten Balge.«

»Was ist das?«

»Ach, das kennen Sie nicht? ein Spaß, den man den Leuten macht, wenn sie das erstemal von der Ernte kommen. Man steckt ein Dutzend Flaschen mit Branntwein und andere, die mit Wasser gefüllt sind, in eine große Bütte – oder Balge, wie wir sagen – die man bis an den Rand vollgießt; tut auch Äpfel hinein, Backpflaumen, dergleichen. Das Ganze wird dicht zugedeckt mit Kletten, Disteln und so weiter, mitten darauf ein größerer Busch. Sie fangen nun an, nach den Flaschen zu krabbeln: großes Hallo, wenn einer eine Branntweinbuddel kriegt, großes Gelächter, wenn's nur eine mit Wasser war. Dabei bespritzen sie sich, schlagen einander die nassen Büsche um die Köpfe, schließlich allgemeine Begießerei. Nun, das wird Sie amüsieren, aber nehmen Sie sich in acht! man kann dabei ausgewaschen werden wie ein Pudel! und dabei fällt mir ein, daß ich vom vorigen Aust her noch ein Hühnchen mit Fräulein Maggie zu pflücken habe. Hören Sie! es ist schon im vollen Gange. Kommen Sie schnell!«

Diese letzten Worte wurden bereits auf dem Hausflur gesprochen, den man durch ein paar Hinterzimmer erreicht hatte. In den verlassenen Zimmern hatten Fenster und Türen aufgestanden, auch der Flur war leer; vom Hofe her kam das Geschrei und Gejuchze, das Gerhard bereits vorhin gehört: nun aber näher und lauter. Herr Bagdorf hatte seinen Arm losgelassen und eilte voran, zur Tür hinaus, rechts am Hause hin und verschwand hinter dem Boskett.

Langsamer folgte Gerhard. Die Neugier, zu erfahren, was nur der Lärm, der immer toller wurde, zu bedeuten habe, trat sehr zurück hinter einer anderen Empfindung.

»Und das ist ihr Verlobter!« murmelte er, »ihr Verlobter! – ein Hühnchen mit ihr zu pflücken! hat der Mensch denn keine Eingeweide! ich möchte, ich brauchte das nicht mit anzusehen; ich möchte, ich wäre nicht gekommen! freilich! bin ich denn deshalb gekommen? und soll ich mich von der hübschen Frau Zempin auslachen lassen? – Pah! sei kein Narr und heule mit den Wölfen.«

Das Bild lag nahe: in das Geschrei der Knechte, das Kreischen der Mägde mischte sich jetzt wütendes Gebell und langgezogenes Heulen der Meute, als ob die wilde Jagd hinter dem Boskett vorüberbrauste. Und als nun Gerhard um die letzten Büsche trat, bot sich ihm ein Schauspiel, das man in der Tat eine wilde Jagd, wenn auch in anderem Sinne, nennen durfte, und über dessen Seltsamkeit er denn doch seine ungesellschaftlichen, ja menschenfeindlichen Regungen bis auf weiteres vergaß.


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