Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Zweites Kapitel

Seitdem in dem Urwalde an den Gräbern ihrer Häuptlinge Menschen der Vorzeit das letzte Totenfest gefeiert, hatte die ehrwürdige Stätte eine so zahlreiche Versammlung nicht gesehen, eine so glänzende sicher nie. Wohl von zwanzig der größten Güter waren sie gekommen mit ›Hütt und Mütt‹ – das heißt: mit sämtlichen Gliedern der Familie, für die man sich ein Vergnügen aus dem großen Feste versprach, und zu denen nicht in letzter Linie die Kinder gerechnet wurden. Und man war gekommen: die Herren in ihren besten Anzügen, die Damen in möglichst geschmackvoller Sommertoilette, die kleinen Jungen in Sammetjäckchen und weißen Höschen, die kleinen Mädchen in luftigen, bändergeschmückten Kleidchen. Und diesem Staate der Herrschaften gemäß waren die Kutscher und Diener, die Gefährte, die Bespannungen gewählt und ausstaffiert worden; ja man hatte nach dieser Seite ebensoviel Pracht und Prunk entfaltet, als es sonst nur bei der feierlichsten aller Gelegenheiten, bei dem Sundiner Rennen, zu geschehen pflegte, wo man mit dem einheimischen, rügenschen, mecklenburgischen, ja mit dem schlesischen Adel: mit den Keffenbrinks und Lankens, den Hahns und Henkels, und wie sie alle hießen, konkurrieren mußte. Die stattlichen, offenen, mit Kränzen geschmückten Karossen waren fast sämtlich mit vier vom Sattel gelenkten Pferden bespannt gewesen; die seidenen Kappen und Jacken der Jockeys in allen Farben des Regenbogens schillernd, die Geschirre der herrlichen Rosse funkelnd von Silber und Messingbeschlägen; nicht wenige hatten Vorreiter gehabt; einige waren sogar sechsspännig gekommen, was indessen als ein Verstoß gegen die Verabredungen von den anderen gerügt wurde. So boten denn die Wagen, die in der breiten, auf den Festplatz stoßenden Schneise in der Ordnung, in der sie gekommen, nebeneinander aufgefahren waren, mit den stampfenden, wiehernden Rossen und den geschäftigen Leuten einen höchst stattlichen Anblick und prächtigen Hintergrund für das überaus belebte Bild, das der eigentliche Festplatz gewährte.

Man hatte soeben den ersten Teil des Programms, den Kaffee, absolviert, allerdings genau zwei Stunden später, als bestimmt war – zu Juliens nicht geringem Verdruß, obgleich sie sich die Schuld allein beimessen mußte. Zwar ihr Gedanke, zwischen den beiden Hünengräbern eine aus Erde und Moos ausgeführte, mit einem bewimpelten Zeltdach versehene Küche zu etablieren, an deren Tisch sie selbst mit Lining und Tining Pahnk den von den Mägden an Ort und Stelle gebrannten und zubereiteten Kaffee servierte, war gewiß sehr glücklich gewesen, nur daß die Bereitung allzuviel Zeit erforderte und die Austeilung des vielbegehrten Trankes an etwa sechzig Erwachsene und ein paar Dutzend Kinder von der einen und noch dazu beschränkten Stelle aus auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieß. Die einen wünschten Kuchen zu ihrem Kaffee, die anderen Kaffee zu ihrem Kuchen; diese hatten sich eine Tasse erobert, in der nur noch der Kaffee fehlte, jene, die sich glücklich bis zur Quelle herangedrängt, würden Kaffee erhalten haben, wenn sie nicht der Tassen ermangelt hätten. Die Kinder baten und lärmten, die älteren Damen schüttelten die Hauben über die mangelhafte Einrichtung; die älteren Herren machten lachend ihre Scherze und riefen Herrn Hinrichs von Radebas Beifall, der von einem der Steine herab verkündete, er habe soeben eine immer fließende Quelle entdeckt, wozu der Zugang völlig frei sei. Diese Quelle aber war ein großes Faß Rotwein, das er bereits tags vorher heimlich hatte anfahren und aufstellen lassen, und bei dem er nun, nachdem es von seiner Mooshülle befreit, das Amt eines Küfers und Oberschenken in Person übernahm, während Diener geschäftig den Durstigen die gefüllten Humpen zutrugen oder die leeren aus den Händen nahmen.

So wurde es, zu Juliens nicht geringem Ärger, um ihre Küche her immer leerer und stiller, gerade als sie den Kaffee kesselweise vorrätig und Geschirr, das sie mittlerweile auf einem Leiterwagen aus Kantzow hatte herbeischaffen lassen, im Überflusse besaß. Denn nun hatten auch die jungen Leute ihre Ungeduld, endlich einmal zum Spielen zu kommen, nicht länger zügeln mögen und: Seht euch nicht um! und: Eins, zwei, drei – das letzte Paar herbei! schallte von hier und dort; und überall huschten jungfräulich weiße Kleider und sommerlich lichte Herrengestalten durch die braunen Stämme, denn das freie Terrain um die Hünengräber hatte sich bald als zu klein erwiesen, besonders da man die Kinder in ihren Vergnügungen nicht stören wollte und das Halbdunkel des Waldes zu verführerisch lockte.

Das Fest war in diesem Moment, wenn auch in den Augen der Eingeweihten, noch keineswegs auf seiner Höhe, so doch für den unbefangenen Beobachter in seinem liebenswürdigsten Stadium. Wohl waren die zechenden Herren bereits ein wenig überlustig und überlaut, aber lustig und laut konnte und sollte es bei einer solchen Gelegenheit hergehen. Und sicher ließen sich die würdigen, in kleinen Gruppen zusammensitzenden und promenierenden Gattinnen der Zechenden durch den Lärmen nicht abhalten, die verunglückte Kaffeeküche einer ebenso gründlichen als scharfen Kritik zu unterziehen, woran sich der naheliegende Wunsch knüpfte, daß das Abendbrot etwas besser ausfallen möge. Die ganz dem Spiele hingegebenen jungen Damen und Herren und nun gar die jauchzenden Kinder hatten den Kaffee vergessen und dachten noch nicht an das Abendbrot. In den Lärmen, das Rufen, das Jubeln auf dem Festplatze tönte von der Schneise her das Wiehern der Vollblutpferde, denen in bereitgehaltenen fliegenden Krippen und Eimern Brot und Wasser gereicht wurde, während die Kutscher und Jockeys die Wahl hatten zwischen den gefüllten Kaffeekesseln aus Juliens Feldküche und einem großen Fasse Bier, das sich durch seinen Laubschmuck vor den danebenliegenden Wasserfässern auszeichnete. Man hatte durchaus die Empfindung, daß es für den Augenblick jedem in seiner Weise wohlig und behaglich war. Dazu die herrliche Umgebung hochragender Tannen; die würzige, wenn auch ein wenig heiße Luft, aus der sich der lästige Rauch und Geruch der Kaffeebrennerei längst verzogen; das sanft gedämpfte Licht des leuchtenden Julihimmels, dessen gen Westen sinkende Sonne man zwischen den Riesenbäumen so wenig sah, wie die Wetterwolke im Süden, derer übrigens außer einigen besonders fürsorglichen älteren Damen niemand gedachte – wahrlich! nur ein gänzlich verstörter Geist, ein durch Kummerüberlast hoffnungslos gedrücktes Herz hätte gegen den berückenden Zauber des Ortes und der Stunde unempfindlich bleiben können!

So sprach Gerhard zu sich, um sich vor sich selber zu rechtfertigen, wenn er in gewissem Sinne jenen Zauber voll empfand, als er jetzt in einiger Entfernung, an dem Stamme einer Tanne lehnend, dem lustigen, bunten Treiben zuschaute. Hatte sich doch seinem lebhaften Geiste von frühester Jugend an der Ernst des Lebens, wahrlich sehr gegen seinen Wunsch und seine Neigung, aufgedrängt! war doch sein empfindsames Herz so gern fröhlich mit den Fröhlichen, nur daß es sich nicht entbrechen konnte, mitzufühlen und mitzuleiden, so oft es in die Berührung mit dem Leide anderer kam, die keineswegs ihm nahestehende Personen zu sein brauchten! besaß doch auch er für das Schöne in jeder Form und Gestalt jenen tief empfänglichen, dankbaren Sinn, der seine sämtlichen Brüder auszeichnete und der ein Erbteil seiner Familie schien – ein Erbteil vielleicht von dem wilden, genialen Großvater her! Ach, daß der Schatten dieses Mannes so schwer und dunkel in sein Leben fiel – schwerer und dunkler jetzt, als je zuvor! Konnte ihn denn nichts aus diesem Dunkel lösen? Gab's denn kein Zauberwort, ihn zu bannen? kein blinkend Schwert, ihn abzuwehren, den bleichen Schemen, der nah und näher huschte, zu trinken von dem Widderblut, das ihm die fürchterliche Kraft verlieh, laut, unwiderstehlich den Racheschrei zu heulen in Ohr und Herz des schaudernden, widerwilligen Lauschers! so laut, daß es den Lärmen der Zecher, die Rufe der Spielenden, das helle Jubelgeschrei der Kinder übertönt haben würde – Lust und Scherz dieser aller, von denen kein einziger je den grausen Gast beleidigt.

Und wie er also bei sich dachte, fiel sein Blick auf eine Gestalt, die nicht weit von ihm, ebenfalls abgesondert von den anderen, stand und ihn beobachtet haben mußte, denn jetzt setzte sie sich in Bewegung mit der Gebärde jemandes, dem eingefallen ist, worauf er sich besonnen, und entfernte sich schlurfenden Schrittes nach der Gruppe der Zechenden, wo sie der Nachschauende alsbald aus den Augen verlor.

Dafür hob sich ihm eine andere Gestalt aus derselben Gruppe heraus: die riesige Gestalt des Freundes, riesig jetzt noch unter all diesen hochgewachsenen, breitschultrigen Männern. Er stand da, in seiner übertriebenen Weise gestikulierend und sprechend, in heftigem Zank, wie es schien, mit Hinrichs von Radebas, der, ein geborener und nicht eben feiner Necker, ihm immer ein Widersacher war und heute leichteres Spiel als sonst haben mochte. Denn Gerhard war vom ersten Moment das düstere und zerstreute Wesen des Freundes aufgefallen, der während des ganzen Nachmittags, ganz gegen seine Gewohnheit, selbst für ihn keinen freundlichen Blick, kein herzliches Wort gehabt hatte und offenbar sehr an sich halten mußte, um seine böse Laune nicht an den anderen auszulassen. Wußte doch Gerhard nur zu gut, was dem Manne die Laune verdorben! ahnte er doch, daß er noch weitaus nicht alles wisse! – Ein paar gemeinschaftliche Freunde, unter ihnen Anton, trennten die Streitenden, indem sie mit gefüllten Gläsern zwischen dieselben traten.

Gerhard wandte sich von seinem Beobachtungsposten am Rande der Lichtung tiefer in den Tann. Er taugte doch wohl nicht für die lärmende Lust – es war ihm, als sei seine Gegenwart hinreichend, diese Lust zu stören.

Und dann, von jener Seite mußte sie kommen! Er hatte freilich die Hoffnung aufgegeben; ja, durfte er nur wünschen, daß sie kam? Sie gehörte nicht in diesen Kreis, so wenig wie er selbst.

Der Lärmen des Festes war hinter ihm geblieben; durch die Stille, die ihn nun umgab, hörte er einen Wagen, den eine Biegung des Weges zwischen den mächtigen Tannen ihm verbarg. Nun sah er die ihm so wohlbekannten prächtigen Braunen, das gute Gesicht von Johann Ewers auf dem Bocke, den offenen Wagen endlich – sein Herz hatte umsonst so freudig erwartungsvoll gepocht: der Wagen war leer.

»Wo ist Fräulein Edith?« rief er.

»Hier«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er wandte sich und erblickte wenige Schritte von ihm entfernt die geliebte Gestalt. Ein süßer Schrecken durchrieselte ihn; er vergaß, ihr entgegenzueilen, und seine Hand bebte, als Edith jetzt, an den Erstarrten, Sprachlosen herantretend, ihm lächelnd die Hand bot.

»Wie freue ich mich, Sie zu sehen! Und wie danke ich Ihnen!«

»Sie haben mein Briefchen bekommen?«

»Es war mein Morgengruß; es hätte mir kein lieberer werden können.«

Er hatte ihre Hand losgelassen und schritt neben ihr, ohne das Glück der geliebten Nähe zu fassen, kaum wagend, die Augen zu ihr zu wenden, als könnte ein Blick den holden Traum zunichte machen. Johann Ewers hatte gehalten, im Falle die jungen Herrschaften vielleicht einsteigen wollten; und er fuhr nun langsam weiter vorauf, ohne sich nach ihnen, die durch die Tannen neben dem Wege herschritten, umzuwenden – sie konnten ihn ja jeden Augenblick abrufen!

»Werden Sie mich anmaßlich schelten«, sagte Edith, »wenn ich bereits gestern abend auf Nachricht von Ihnen hoffte? ja mir einbildete, Sie würden selbst kommen? und daß ich recht traurig war, als Sie nicht kamen? Und einmal hatte ich sogar schon Ihre Stimme zu hören geglaubt – vom Garten her, von wo Sie doch nicht kommen konnten – so deutlich, daß ich in die Tür trat, nach Ihnen auszuschauen. Ist das nicht wunderlich?«

Er durfte ihr nicht sagen, wie nah er ihr in jenem Moment gewesen war; so sagte er denn, er habe sich gescheut, so spät vorzusprechen, und berichtete ausführlicher, als in dem Briefchen möglich gewesen, wie sich der Graf über die Angelegenheit des Vaters geäußert.

»Ich habe es nicht anders erwartet«, erwiderte Edith, »und ich wiederhole, ich wage kaum noch eine Hoffnung zu hegen. Meine Dankbarkeit für Ihre Güte ist deshalb nicht weniger groß.«

Er antwortete nicht; sie gingen schweigend nebeneinander; lautlos glitten ihre Schritte über den moosbedeckten Boden; unter den Rädern des Wagens knackte manchmal ein dürres Ästchen im Geleise; dann vernahm man aus der Ferne und vereinzelt Stimmen vom Festplatze her.

»Ist Maggie bereits da?«

Die Frage war für Gerhard so überraschend gekommen; er blieb unwillkürlich stehen.

»Nein«, sagte er, »weshalb«?

Sie hatte versucht, seinen Blick zu erwidern, dann aber gleich die dunkeln Wimpern gesenkt; und so, mit gesenkten Wimpern und leiser, hastiger sprechend als vorher, sagte sie:

»Es ist mir auch deshalb lieb, daß Sie mir – daß ich Sie vorher getroffen. Ich habe ein Unrecht gutzumachen, ein schweres Unrecht, das ich an Maggie begangen. Ich hatte kein Recht, Maggie zu verurteilen, bevor sie sich verteidigen, bevor sie ihre Gründe darlegen konnte, die vielleicht, die gewiß sehr gewichtig sind. Maggie ist ein so kluges Mädchen und ein so eigenes – ich muß mich so oft bescheiden, daß ich sie nicht verstehe und begreife – im alltäglichen Leben; und nun gar in einem Falle, wo es sich um das Glück ihres Lebens handelt! Und gerade für mich war ruhiges Abwarten naheliegende, gebieterische Pflicht, da ich doch hinreichend in die Situation eingeweiht bin, um, wollte ich mir nur die Mühe geben, wohl selbst einen und den anderen Grund für Maggies Handlungsweise finden zu können. Sie durfte mit der Baronin nicht sofort brechen; sie mußte noch für eine kurze Zeit den Schein des alten Verhältnisses und guten Einvernehmens mit der wunderlichen, heftigen Frau, die sie ohne Zweifel in ihrer Weise sehr liebt, aufrechterhalten; und das konnte sie nur, wenn sie der Bitte, vielmehr dem leidenschaftlichen Drängen derselben nachgab und ihr nach Basselitz folgte – auf ein paar Tage, die wir uns hätten in Geduld fassen sollen. Sehen Sie, das ist es, was ich Ihnen durchaus sagen mußte, und weshalb ich hauptsächlich gekommen bin; und auch Maggie muß ich es sagen, und daß sie nun genug Rücksicht auf die Launen der Baronin genommen hat und heute abend mit mir nach Hause fahren soll. Aber ich bin überzeugt, es wird da meines Zuredens nicht bedürfen; sind Sie es nicht auch?«

»Nein«, sagte Gerhard, »durchaus nicht; obgleich ich es vielleicht schicklicher fände, wenn Fräulein Maggie nicht gerade die ersten Tage ihres Brautstandes im Hause der Schwiegermutter verlebte.«

»Mein Gott«, rief Edith; »wie können Sie nur so sprechen?«

»Weshalb nicht? ich habe es aus bester Hand! von der Gräfin Westen, der es die Frau Baronin, die es doch wissen muß, durchaus nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit geschrieben hat – wenigstens wurde mir die Sache als ein einfaches Faktum mitgeteilt.«

»Ohne schon ein solches zu sein oder auch dadurch zu werden, wie die Baronin vielleicht hofft, die nur zu gern ihre Wünsche an die Stelle der Tatsachen setzt! Aber Maggie wird stets ihren Weg gehen, und keine Kunst der Überredung und keine Furcht vor irgend jemand oder irgend etwas würde sie je bewegen, anders zu handeln, als nach ihrem eigensten Willen. Sie dürfen niemand glauben, als ihr selbst!«

»Verzeihen Sie mir, Fräulein Edith: ich habe, fürchte ich, Ihrem Fräulein Schwester bereits zu viel geglaubt!«

»So haben Sie Mitleid mit einem siebzehnjährigen, verwöhnten Kinde, das nicht so anmutig sein würde. wenn es leichter zu berechnen wäre!«

»Ich war in Herzenssachen nie ein guter Rechner. Der Anmut Ihrer Schwester mache ich mein tiefstes Kompliment; mein Mitleid möchte ich lieber dahin wenden, wo ich sicher wäre, daß es nicht hohnlachend zurückgewiesen wird.«

»Ist es denn wirklich Ihr voller Ernst, mit Maggie zu brechen?«

»Ich habe, solange ich denken kann, noch nie ein Wort gebrochen, mein gnädiges Fräulein; aber der eine Teil allein, er mag so ehrlich sein, wie er will, kann einen Vertrag nicht halten.«

Sie hatten beide lauter, schneller, erregter gesprochen; Johann Ewers wandte sich auf dem Bocke:

»Wir sind nun bald 'ran, Fräulein Edith!«

Aber wenn der alte treue Mensch damit andeuten wollte, daß es für sein liebes Fräulein und den jungen Herrn, dem sein Fräulein entschieden gut war und der ihm selbst so gut gefallen, die höchste Zeit sei, sich zu vertragen, so hatten sie ihn nicht verstanden oder folgten doch seiner Mahnung nicht. Sie gingen den Rest des Weges stumm nebeneinander her, Edith voll ernster Sorge, ob sie, was sie für Pflicht gegen Maggie hielt, nicht aus persönlichem Interesse, schlecht und ungeschickt erfüllt; Gerhard außer sich, daß er aus Ediths Munde hören mußte, was – er sich alles selbst gesagt – beide in tiefster Erregung bedenkend, daß vielleicht bereits der nächste Augenblick die Entscheidung bringen könnte; beide sich voll bangsten Zweifels fragend, was denn nun werden sollte, wenn diese Entscheidung in dem Sinne fiel, welcher der scheinbar einzig wünschenswerte war.

Und da, vor ihnen auf dem Wege zwischen dem Festplatze und der Schneise, hielt die altertümliche Kutsche der Baronin. Sie selbst saß noch breit im Fond, Maggie stand aufrecht und bedrohte mit dem Sonnenschirm einige Herren, die von rechts her den Wagen stürmen zu wollen schienen, während links an dem offenen Schlage inmitten eines großen Damenkreises, für den Julie das Wort führte, den Hut in der Hand, ein jüngerer Herr von mittlerer Größe den kleinen Kopf mit dem bereits sehr spärlichen, schlichten blonden Haare nach allen Seiten neigte. Gerhard brauchte seine stumme Begleiterin nicht zu fragen, wer dieser Herr sei. Auch blieb gar keine Zeit zur Erklärung, denn die Baronin hatte die Kommenden bereits bemerkt und rief überlaut, zu den Maggie und sie bestürmenden Herren gewandt: »Nun laßt es man mit die Redereien! vor Ihnen wären wir noch lange sitzengeblieben; aber nun ist das was anderes, machen Sie mich mal Platz, daß ich aussteigen kann!«

Die stattliche Dame hatte sich so schnell erhoben und so gewaltsam herausgeschwungen – die alte Chaise schwankte in ihren Federn hin und her; Maggie war mit einem kleinen, lachenden Schrei auf den Sitz zurückgefallen, oder hatte sich auch geschickt fallen lassen. Die Baronin war auf Gerhard zugetreten, am Arme Lafings, den sie im Herabspringen aus dem Kreise der Damen gerissen.

»Na, das ist man gut, Herr Baron, daß Sie endlich kommen«, schrie sie – »ich wollte doch nicht wieder fort, ohne Ihnen gesehen und meinen Sohn vorgestellt zu haben. Dies ist nämlich mein Sohn!«

Lafing, der den Hut noch immer in der Hand hielt, verbeugte sich zu wiederholten Malen, indem er dabei sehr rot wurde, einige unverständliche Worte murmelte und jetzt, als die Mutter seinen Arm losließ, in verlegener Weise an seinem dünnen, rötlichen Backenbarte, den er nach der englischen Mode trug, zu zupfen begann.

»Wir sind nämlich sehr bös, mein Lafing und ich«, schrie die Baronin, »daß Sie gestern nun doch beim Grafen gewesen sind, nachdem Sie mich gesagt haben, daß Sie nirgends Visiten machen wollten. Nicht wahr, Lafing, wir sind sehr bös?«

Lafing lächelte, murmelte abermals etwas Unverständliches und zupfte zur Abwechslung an dem überaus hohen und steifen Hemdkragen, wobei er, die kleinen, wasserblauen Augen halb schließend, das Köpfchen so tief als möglich herunterzog wie eine erschreckte Schildkröte, um es dann plötzlich wieder in die Höhe zu recken und die kleinen Augen möglichst weit aufzureißen.

Und das ist der Gegner, vor dem du hast zurückstehen müssen! dachte Gerhard, und im nächsten Moment sagte er sich: es kann nicht sein!

Unwillkürlich suchte sein Blick Maggie, die sich wieder im Wagen aufgerichtet hatte und mit den Herren disputierte, die nun durchaus wollten, daß auch sie aussteigen solle. Plötzlich wandte sie sich – zum ersten Male – nach der Seite, wo er mit der Baronin und Lafing stand, und rief, indem sie ihn, zugleich vertraulich nickend, mit einem schalkhaften Lächeln begrüßte: »Wir bleiben also?«

»Steig man aus, Kleine!« rief die Baronin zurück, »ich habe ein paar Worte mit dem Baron zu sprechen. Geben Sie mich Ihren Arm, wenn ich bitten darf!«

Gerhard konnte nicht wohl anders, als dem Befehle nachkommen; ja er mußte froh sein, aus einer Situation erlöst zu werden, die mit jedem Moment peinlicher wurde. Ein großer Schwarm Herren und Damen hatte sich um sie versammelt, mit neugierigen Ohren und Blicken jedem Worte, jeder Bewegung der Hauptpersonen der Szene folgend. Die Baronin drängte sich in ihrer ungenierten Weise durch den dichten Haufen, indem sie dabei zu Gerhard, aber laut genug, daß es jeder hören konnte, sagte: Das fehlte mich noch gerade, hier vor diese Gesellschaft zum Eulenspiegel zu werden!

Da die wunderliche Frau mächtige Schritte machte, hatten sie bald auf dem Wege, den Gerhard eben mit Edith gekommen, eine Strecke zurückgelegt, die sie völlig aus der Gehörweite der Gesellschaft brachte. Jetzt ließ die Dame seinen Arm los und sagte:

»Na, Herr Baron, nun wollen wir uns mal ordentlich aussprechen! Sie sind mich bös und haben auch Ursach dazu. Aber Sie dürfen es mit der Basselitz nicht so genau nehmen! Sie meint es gut, auch mit Sie; und Sie sind ja so ein feiner, artiger Herr, viel zu fein für die Basselitz; aber das gleicht sich denn sacht aus, und schließlich gibt es die beste Freundschaft. Weshalb sollen wir auch Feinde sein, der Herr Baron und ich – habe ich heute morgen zu die Kleine gesagt –: er hat dich die Cour gemacht, na, das haben schon viele getan, und du läßt dich ja auch gern die Cour machen; und wenn du es in diesem Falle ein bißchen weit getrieben: na, es ist ja ein hübscher Mann, in den ich mir auch verlieben könnte, und ich hatte doch eigentlich hauptsächlich die Schuld, indem ich dir so lange zappeln ließ und du nicht wußtest: will sie mich Lafing geben oder will sie es nicht? Das ist eine dumme Situation für so ein lüttes junges Ding, in der sie dann allerhand Dummheiten macht und andere verständige Leute – mir zum Beispiel – verleitet, auch welche zu machen. Nun werde ich heute nachmittag mit dich rüberfahren, weil er am Ende doch nicht zu uns kommt, und mit ihm sprechen, artig und manierlich, wie ich schon neulich mit so einem feinen Herrn hätte sprechen sollen. Dann ist die Sache gut. – Sehen Sie, Herr Baron, so habe ich zu die Kleine gesagt; und nicht wahr? nun ist die Sache gut. Und nun geben Sie mich wieder Ihren Arm und führen Sie mir zu meinem Wagen zurück.«

»Wollen Sie mir eine Frage erlauben, gnädige Frau?«

»Fragen Sie immerzu!«

»Sie haben das alles in derselben Weise mit Fräulein Zempin durchsprochen?«

»Was ich Ihnen sage!«

»Und Fräulein Zempin hat ihre völlige Zustimmung zu erkennen gegeben?«

»Na, das versteht sich doch von selbst! Würde sie denn sonst mit mich nach Basselitz gekommen sein? und bei mich bleiben? Denken Sie denn, daß Basselitz ein Sklavenschiff ist, und ich der Kapitän davon bin? Sie will es Sie übrigens selbst noch sagen, was ich auch so weit ganz in Ordnung finde.«

»Dann bitte ich um Ihren Arm, gnädige Frau.«

Sie schritten die kurze Strecke zurück; die Baronin sagte: »Sie sollten gleich mit uns kommen, Herr Baron! es ist ja ein Platz im Wagen frei, und dann hat die Schnackerei ein für allemal ein Ende. Ich lasse Sie heute abend nach Kantzow fahren. Was wollen Sie in diese Gesellschaft, besonders, da sie noch alle heute abend naß werden wie die Katzen. Ich dachte schon, es würde losgehen, als wir von Basselitz wegfuhren. Na, wie Sie wollen; aber nun tun Sie mich wenigstens den Gefallen und holen Sie mich die Kleine! Lafing sehe ich da zwischen die Herrens stehen, den will ich mich schon selber langen.«

Sie hatte, nun wieder bei dem Wagen angelangt, Gerhards Arm losgelassen. Gerhard entdeckte Maggie an dem entgegengesetzten Rande des Platzes in einem Kreise der jüngeren Herren. Er schritt sogleich auf die Stelle zu. Sie hatte ihn offenbar sofort gesehen, denn sie schlüpfte, als er auf ein paar Schritte nahe war, aus dem Kreise, rufend: »Da kommt der Herr Baron, der mich holen soll! sagte ich es nicht? Nicht über den Platz, Herr Baron! sie laufen uns sonst mit den Tischen um! bitte, bitte! hier am Rande hin!«

Sie hatte ihn wieder mit dem schalkhaften Lächeln begrüßt; er wußte ja, wie falsch die holde Miene war, und wie falsch das Herz, das unter diesem knospenden Busen schlug; und doch konnte er, wie sehr er sich zürnte, nicht verhindern, daß sein eigen Herz ihm bis in die Kehle pochte, als er an ihrer Seite den Platz, wo man jetzt die Abendtafel herrichtete, umkreisend, unter den dichten Kronen der Riesentannen hinschritt. Hatten sich doch auch Tannenzweige über sie gebreitet, als er sich in dem Überschwang einer Liebe berauschte, die ihm wie ein Trank schien, entwendet von der Tafel der ewigen Götter, und die doch nichts war als hohler Schaum. –

Es kann nicht – kann nicht sein! rief es in seinem Herzen, wie vorhin; nur daß die innere Stimme noch hinzufügte: Und wenn es nicht wäre – was dann? was dann?

Wenige Sekunden waren verstrichen, während sie so nebeneinander hinschritten; doch dünkte es ihm eine Ewigkeit.

»Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen!« sagte ihre leise Stimme.

»In der Tat, mein gnädiges Fräulein –«

»In der Tat? – mein gnädiges Fräulein? – zu mir? zu deiner Maggie? – das? – Wache ich denn, oder träume ich?«

»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein! aber wenn dies, wie unzweifelhaft, abermals eine Komödie ist, so haben Sie Ihre Rolle nicht gut gelernt: Ihre Rede paßt nicht ganz zu dem Stichwort der Frau Baronin.«

»Also ist es wirklich wahr?«

»Was?«

»Daß Sie Edith lieben!«

Sie war stehengeblieben und schaute zu ihm auf. In der grünen Dämmerung glänzten die braunen Augen so seltsam – ein Schauder durchrieselte ihn.

»Gehört das mit zu der Rolle?«

»Wenn's eine wäre, weshalb wagen Sie denn nicht, mich anzusehen? Ihre Augen waren doch sonst so zaghaft nicht! Aber Sie wissen recht gut, daß ich nicht blind bin, und daß Sie sich vor mir nicht verstecken können. Lieben Sie Edith, oder lieben Sie sie nicht?«

»Sie haben sich alles und jedes Rechts zu dieser Frage begeben.«

»Dann will ich für Sie antworten: ja, Sie lieben Edith! Sie haben sie vom ersten Abend an geliebt; und sie hat Sie geliebt in ihrer klugen, stillen Weise, die um so sicherer zum Ziele führt. Deshalb durfte sie vierzehn Tage lang nicht nach Kantzow kommen, während sie doch nach Ihnen verschmachtete, damit auch Sie das Schmachten und Sehnen lernten und sich die Zeit damit vertrieben, der kleinen Maggie weis zu machen, daß sie Ihnen alles sei, und die kleine dumme Maggie Ihnen zuletzt um den Hals fiel – und, und – gehen Sie, oder, bei Gott, sie tut es jetzt auf der Stelle noch einmal!«

Um den reizenden Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen; sie stampfte mit dem kleinen Fuße in das weiche Moos, einem Kinde gleich, dem die Puppe verweigert wird, und das doch klug genug ist, zu wissen, daß ihm das Trotzen nichts helfen wird.

»Nein, fürchten Sie sich nicht! Sie sagen ja alle: ich habe meinen Kopf für mich; aber ich habe auch mein Herz für mich: ich will den Mann, den ich liebe, ganz für mich, oder gar nicht. Und ich habe es gesehen – als wir zurückkamen und die Baronin mich zur Rede stellte – in des Vaters, in Ediths Gegenwart –: an Ediths Benehmen, an ihrem Schweigen, ihren Blicken. Ich kenne diese Blicke! Sie hat mir noch jede Freude im Leben verdorben, ich will ihr nicht Gleiches mit Gleichem vergelten; und wenn ich es auch wollte, es hülfe mir ja nichts. Wie dürfte ich mich mit Edith messen! Sie ist so gut, so edel, so rein, so wahr! ich kann ja nichts, als ein bißchen Komödie spielen!«

Sie lachte hell auf

Tining Pahnk und Luise Sallentin, die eben durch die Tannen kamen und an ihnen vorüberstrichen, riefen: »Was gibt's, Maggie! Sag's uns, Maggie!«

»Eine lustige Geschichte!« rief Maggie zurück, »die euch köstlich amüsieren wird. Laßt sie euch von dem Herrn Baron erzählen; ich muß zur Baronin. Adieu, adieu!«

Sie lief davon, Edith entgegen, welche die Schwester gesucht hatte und ihr etwas mitteilen zu wollen schien; aber Maggie hatte nur eben Zeit, ihr ein paar Worte ins Ohr zu sagen und etwas in die Hand zu drücken, das Edith nicht nehmen wollte und dann doch nahm und in die Tasche gleiten ließ. Dann eilte sie nach dem Wagen, in dem die Baronin bereits Platz genommen. Lafing, der am offenen Schlage stand, half ihr, den Hut in der Hand, hinein, indem er selbst folgte, nachdem er die Gesellschaft, die sie begleitet, wiederholt höflich gegrüßt. Der Bediente schloß den Schlag und kletterte zu dem Kutscher auf den hohen Bock. Die feurigen Pferde zogen mit mächtigem Sprunge an; der Wagen rollte den Waldweg hinauf. Tining Pahnk und Luising Sallentin wehten mit den Taschentüchern, da jetzt der Wagen eben an einer lichten Stelle zwischen den Stämmen sichtbar wurde; aus dem Wagen wehte es zurück, aber es war das Tuch des höflichen Lafing. Maggie hatte sich in die Ecke gedrückt und hielt ihr Tuch vor dem Gesicht. Tining und Luising sahen sich, nach einem Seitenblick auf Gerhard, bedeutungsvoll an.

»Und es ist dennoch alles Komödie«, murmelte Gerhard.

Aber das eitle Herz wollte nicht recht glauben, was der Mund sprach.

Für eine Komödie war es doch gar zu natürlich gewesen; und in dem einen Punkte: daß er Edith liebe, hatte sie sicherlich die Wahrheit gesprochen. Sollte da alles andere Lug und Trug sein?


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