Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Zweites Kapitel.

»Gut Heil in Kantzow!«

Die Stimme des Herrn Zempin war breit und mächtig wie seine Gestalt, die im Hereintreten fast den Rahmen der Tür ausgefüllt hatte; und Gerhard fühlte seine Hand in der ihm dargereichten verschwinden, während er, der sich doch seiner guten Mittelgröße bewußt war, verwundert zu dem Riesen ausschaute.

»Gut Heil! und mögen Sie recht lange bei mir bleiben!« fuhr die Donnerstimme fort – »ich wollte, ich dürfte sagen: für immer! Sie werden diesen egoistischen Wunsch begreiflich finden, bevor Sie noch acht Tage in Kantzow älter geworden sind.«

Herr Zempin hatte Gerhards Hand, die er schier zerdrückt, losgelassen und sich mitten im Zimmer auf einen Stuhl gesetzt; der Stuhl krachte, als wollte er unter der Last zusammenbrechen. Herr Zempin achtete dessen so wenig wie des Umstandes, daß der Stuhl noch mit Gerhards Kleidungsstücken bedeckt gewesen war, die nun zum Teil herunterfielen. Seine eigene Kleidung stand allerdings mit der Unordnung, die er angerichtet, nicht im Widerspruch: eine Art von weiter, einst grau-grün gewesener, jetzt ins Gelbliche verschossener Joppe, deren braune Hornknöpfe zum Teil abgesprungen waren – ein frisches, aber zerknittertes und mit Rotweinflecken arg betupftes Hemd, das sich, von keiner Weste eingeschränkt, aus den trägerlosen Beinkleidern von gelbem Nanking ungebührlich hoch aufbauschte, die obere Brust und den herkulischen Hals zwischen dem weit zurückgeschlagenen Kragen nackt lassend. Die großen Füße, an denen die blauzwirnenen Strümpfe ungebührlich tief hinabglitten, staken in gestickten, sehr abgetragenen und sehr ausgetretenen Morgenschuhen. Um den mächtigen Kopf starrte das dunkelblonde, krause Haar nach allen Seiten wie eine Mähne, und der buschige Bart, der, um den ausdrucksvollen Mund rasiert, an den vollen Wangen herab unter dem massiven Kinn zusammenlief, machte die Ähnlichkeit vollkommen.

»Ein Löwe von einem Menschen!« sprach Gerhard bei sich, seinerseits einen Stuhl herbeitragend und Herrn Zempin gegenüber Platz nehmend.

»Ich danke Ihnen von Herzen für einen so herzlichen Empfang«, sagte er; »und wenn redlicher Wille und Fleiß Ihnen genügen, so weiß ich, daß Sie Ihr großmütiges Vertrauen an keinen Unwürdigen verschwendet haben.«

Der Riese schüttelte das buschige Haupt.

»Was reden Sie von Großmut!« rief er; »ich sage Ihnen: Ihr Kommen ist für mich ein Fest. Sie wissen nicht, Sie können nicht wissen, was es heißt: jahraus jahrein unter Menschen zu leben, denen man – nicht ein Barbar erscheint – zu einer so klassischen Anschauung schwingen sie sich nicht auf – aber ein Sonderling und halb verrückt, nur weil sie uns nicht verstehen, nur weil sie keine Ahnung haben, was in Kopf und Herz von unsereinem vorgeht.«

Da Gerhard selbst keineswegs sicher war, Herrn Zempins Gedanken und Empfindungen in diesem Moment richtig zu verstehen, so begnügte er sich damit, ihn mit achtungsvoller Aufmerksamkeit weiter anzublicken, wobei er denn die Bemerkung machte, daß die lebhaften, dunkelblauen Augen des Mannes durch tiefe Säcke einigermaßen entstellt wurden. Übrigens blieb ihm auch kaum die Zeit für eine Antwort, und Herr Zempin schien keine erwartet zu haben, sondern fuhr mit erhöhtem Eifer fort:

»Ich sage von unsereinem, denn wenn Sie auch so viel jünger sind, als ich, und noch ein Knabe waren, als das große Ereignis eintrat, von dem unsere Ära datiert, so haben Sie doch mit den Vorzügen Ihrer Abstammung von einem alten Kulturvolk, Ihrer adeligen Geburt, Ihrer Schul- und Universitätsbildung immerdar in dem Lichte der Sonne gelebt, die, nachdem sie einmal aufgeglüht, nie wieder untergehen kann: im Lichte der Julisonne!«

Herr Zempin deutete mit weit ausgestrecktem Arm nach dem Fenster, durch dessen Laubgitter die eben untergehende Julisonne rote Strahlen in das Zimmer sandte, Gerhard gerade in die Augen. Er war im Begriff gewesen, ein wenig seitwärts zu rücken, blieb nun aber ruhig sitzen im Gefühl des Komisch-Unschicklichen, das eine derartige Bewegung in diesem Moment gehabt haben würde.

Herr Zempin indessen hatte an nichts weniger, als an die wirkliche Sonne draußen gedacht und mit der energischen Geste nur seine Rede begleitet. Denn jetzt streckte er, wie vorhin den rechten, so den linken Arm aus und rief:

»Der heiligen Sonne des Juli vom Jahre dreißig! Mir hat sie geschienen! vierzehn Jahre sind's nun, und doch ist mir, als wär's gestern gewesen, denn ich habe sie flammen sehen auf den Zinnen des Louvre, des Palais royal mit diesen meinen Augen! und mit diesen meinen Händen habe ich die Barrikaden, wenn nicht bauen – leider! leider! ich war ein paar Tage zu spät von Heidelberg gekommen! – so doch abtragen helfen, damit ein freies Volk zu seinen Tempeln wallen könne, Gott zu danken für den glorreichen Sieg. Denn ich glaube an einen Gott, Herr von Vacha! Wer solcher Tage gewürdigt – Tage, in denen der Baal der Tyrannei von seinem Piedestal der Lüge und Heuchelei gestürzt wird, wie ein tönern Gebild des Aberglaubens und der Pfafferei, der er ist – muß an einen Gott der Freiheit und Gerechtigkeit glauben! muß, Herr von Vacha, muß!«

»Ich glaube an ihn«, sagte Gerhard.

»Das ist es ja, warum ich ›wir‹ und ›uns‹ sage«, rief Herr Zempin; »und warum ich überzeugt bin, daß wir uns verstehen werden – was sage ich: verstehen bereits jetzt, nachdem wir kaum zehn Worte miteinander gewechselt. Denn das ist die wahre Freimaurerei der Bildung, die wahre Demagogie, die keiner äußeren Zeichen bedarf, aber doch vom Eingeweihten zum Eingeweihten in Zeichen spricht, nach welchen das Luchsauge eines Metternich vergeblich spürt. Mögen sie unser herrliches Hambacher Fest beschnödeln und verfluchen; mögen sie das Hambacher Schloß zehnmal in eine Marburg umtaufen, ich sage: Hambach ist überall, wo auch nur zwei vereinigt sind im Namen der wahren Dreieinigkeit und Dreiherrlichkeit: im Namen der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit!«

Die gewaltige Stimme des riesenhaften Mannes bebte, die Säcke unter den Augen traten noch stärker hervor, die Augen selbst schimmerten in feuchtem Glanz. Gerhard konnte und mochte seine Bewegung nicht verhehlen. Es war ja eine wunderliche Situation, in die er so ohne alle Vorbereitung geraten: in diesem Hause, das er vor einer Viertelstunde betreten, in diesem Zimmer, in dem er sich kaum noch umgeblickt, gegenüber dem Herrn des Hauses, den er, der ihn zum erstenmal sah, und der doch mit ihm, dem so viel Jüngeren, dem Untergebenen, sprach wie mit einem vertrautesten Freunde und Gleichberechtigten – sie beide hier sitzend – wie auf der Bühne, dachte Gerhard – während vom Garten die Rufe und das Lachen der Spielenden durch das offene Fenster hell in die sonnige Stille des Zimmers hereinschallte; – Gerhard empfand dies alles vollkommen deutlich, und doch war die Wärme, mit der er jetzt Herrn Zempin die Hand reichte, keine erheuchelte, und es kam ihm vom Herzen, als er mit ebenfalls bebender Stimme Herrn Zempin nochmals seines Dankes versicherte, und daß er es als einen Hochgewinn seines Lebens im voraus begrüße, sich die Freundschaft eines Mannes zu erringen, zu dem er gekommen sei wie der lehrbedürftige und lerneifrige Schüler zu dem anerkannten, verehrten Meister.

Herr Zempin schüttelte das Löwenhaupt; aber das Lächeln, das seine vollen Lippen umspielte, hatte durchaus nichts Abweisendes.

»Ja, ja«, rief er; »ich darf wohl – sans me vanter – behaupten, daß ich mich meiner Künste nicht zu schämen brauche; daß ich ein bißchen mehr von der Sache verstehe wie Krethi und Plethi. Aber ›das Beste, was du wissen kannst‹... nun Ihnen, – Ihnen darf ich es nicht nur – Ihnen werde ich es sagen; und ich hoffe zuversichtlich zu unser beider Gewinn, denn: docendo discimus! In den Augen der anderen freilich, da bin ich, was Sie ebenfalls sein werden, und ich glaube Sie darauf vorbereiten zu müssen, da bin, da bleibe ich ein Studierter, das heißt: ein unpraktischer Mensch, der trotz seiner Bücherweisheit, oder vielmehr gerade dieser wegen, nicht den Hund vom Ofen locken, geschweige denn ein Roggenfeld rationell bestellen kann. ›Rationell‹ – sprechen Sie das Wort nicht aus, lieber Herr von Vacha, in Gegenwart eines unserer Nachbarn! oder Sie bringen sich von vornherein um das bißchen Kredit, das man Ihnen – als einem lateinischen Landmann – allenfalls gönnen möchte! ›Rationell‹ wirtschaften nur Faselanten und Charlatans; was ein ordentlicher, in der Wolle gefärbter pommerscher Landmann ist, der treibt's, wie's sein Vater und vordem sein Großvater trieb; und freilich, ›wie man's treibt, so geht's!‹ Und fragen Sie mich: wie es geht? so muß ich leider sagen: bergunter geht's. Bergunter mit unserem vielgepriesenen pommerschen Wohlstand! bergunter, wie die Lawine, die, wenn sie einmal ins Gleiten gekommen, keine Macht der Erde aufzuhalten vermag in ihrem verderblichen Gang talwärts, wo sie dann zwischen öden Felsen jämmerlich zerschellt.«

Herr Zempin fuhr sich mit der Hand über die Stirn in das buschige Haar und starrte vor sich nieder, hob dann aber gleich wieder die Augen und sagte:

»Doch dies sind trübe und betrübende Dinge, von denen Sie noch mehr erfahren werden, als Ihnen lieb sein wird, und mit denen ich Sie in der ersten Stunde unseres Beisammenseins billig verschonen sollte. Und der Lärm, den das junge Volk da unten treibt, erinnert mich, daß ich Sie hier freventlich für mich allein in Anspruch nehme, während die Gesellschaft die gerechtesten Ansprüche an Sie hat, wie Sie an die Gesellschaft.«

Herr Zempin hatte die letzten Worte mit einem Lächeln und einer Bewegung des mächtigen Hauptes und einer Handbewegung nach dem Fenster hin begleitet, indem er sich gleichzeitig erhob. In seinem Mienenspiel, in seinen Gesten, in der Haltung war ein ritterlicher Anstand, mit dem der grotesk saloppe Anzug auf das sonderbarste kontrastierte. Und als Gerhard, der sich ebenfalls erhoben, nun wie vorhin zu ihm ausschaute, sah er, was ihm in der ersten Überraschung entgangen, daß – eine etwas allzugroße Fülle vielleicht abgerechnet – der Riese mit seinen etwa vierzig Jahren noch immer als ein auffallend schöner Mann gelten mußte, der in seiner Jugendblüte gewiß bezaubernd gewesen war.

Mich soll nur wundern, ob er dich in diesem Aufzug zur Gesellschaft begleiten wird, dachte Gerhard, während sie jetzt die Treppe hinabschritten, wobei jede Stufe unter den Pantoffeln des Riesen erkrachte; und er fühlte sich ordentlich erleichtert, als Herr Zempin, nachdem sie auf den unteren Flur gelangt, stehenblieb und ernsthaft sagte: ›Ich muß Sie für ein paar Minuten um Entschuldigung bitten, bis ich ein wenig Toilette gemacht. Die Wahrheit zu gestehen: man hatte mich aus meinem Nachmittagsschlaf geweckt, und in der Freude, Sie begrüßen zu dürfen – nun, unter Hausgenossen nimmt man das nicht so genau – Stude soll Sie in den Garten geleiten; ich komme sofort nach; wo steckt denn eigentlich der Stude? Es ist mir sehr lieb, daß unsere erste Entrevue unter vier Augen war – es spricht sich da immer besser und freier; aber es wäre seine Pflicht gewesen, mich zu Ihnen zu geleiten. Wo haben Sie ihn verlassen?«

»Ich habe ihn noch nicht gesehen«, erwiderte Gerhard.

»Noch nicht gesehen? wie ist das möglich? noch gar nicht gesehen?«

»In Wahrheit, nein.«

»Aber wie ist das möglich? er hat Sie doch von Radebas abgeholt?«

Gerhard hatte sich bereits im stillen gewundert, daß der Freund, der doch mittlerweile wohl von seiner Ankunft unterrichtet war, noch immer nicht zum Vorschein gekommen. Der Zusammenhang wurde ihm mit einem Schlage klar: Herr Zempin hatte ihm Stude bis Radebas – der letzten Station – entgegengeschickt; der Wagen, der dort vor dem Gasthofe neben dem Posthause gehalten und hernach vor ihm her auf den Hof gefahren, war Herrn Zempins Wagen gewesen; Stude hatte das Zusammentreffen mit ihm verfehlt, oder – was bei der ihm bekannten Leichtlebigkeit des Freundes nicht zu den Unmöglichkeiten gehörte – den ihm gewordenen Auftrag gar nicht ausgeführt.

Während Gerhard, was ihm so blitzschnell durch den Kopf ging, in einen möglichst unbefangenen Ausdruck brachte, stand Herr Zempin da, mit dem etwas gesenkten buschigen Haupt und den niederwärts blickenden funkelnden Augen einem Löwen ähnlicher als je zuvor; und eine Löwenstimme war es, die jetzt in tiefen, wie Donner rollenden, das stille Haus vom Giebel bis zum Grunde erfüllenden Tönen rief: »Vadder Deep! Vadder Deep!«

Als wäre er aus den gescheuerten, mit weißem, zertretenem Sand bestreuten Dielen herausgewachsen, trat jener alte Mann, der Gerhard vorhin empfangen, von hintenher zu ihnen heran und blickte, den großen Kopf etwas seitwärts auf den hohen, abgeschabten Kragen senkend, mit seinem unbestimmten Lächeln zu dem Zornigen auf. Der aber schrie auf ihn ein:

»Habe ich dir nicht gesagt und noch ganz besonders auf die Seele gebunden, daß du den Stude zur rechten Zeit mit dem Wagen wegschicken solltest? Nun scheint der Stude gar nicht einmal mitgefahren zu sein, und der Esel von Jochen hat sich nicht in Radebas gemeldet, trotzdem Herr von Vacha hier ihn noch speziell angeredet, und ist leer zurückgekommen, während Herr von Vacha mit der Post bis hierher sich hat rumpeln lassen müssen. Da sollte man doch gleich des Teufels werden!«

Der alte Mann murmelte mit seiner mehligen Stimme etwas auf plattdeutsch, wovon Gerhard nur so viel zu verstehen glaubte, daß Stude im Moment der Abfahrt nicht zu finden gewesen sei und der Wagen, wenn der Anschluß an die Post erreicht werden sollte, nicht länger habe warten können.

»So hättest du den Jochen wenigstens gehörig instruieren müssen«, schrie Herr Zempin; »du weißt doch, daß man mit dem Kerl die Wände einrennen kann. Aber die Sache ist, es ist auf dich ebensowenig Verlaß wie auf die anderen, und man darf sich nicht eine Viertelstunde hinlegen, ohne daß alles quer geht.«

Gerhard, dem diese Szene um so peinlicher war, als es sich dabei um ihn handelte, nahm alle Schuld auf sich. Warum habe er den Kutscher nicht direkt gefragt! er hätte sich doch denken können, daß Herrn Zempins Gastfreundschaft nicht erst auf der Schwelle seines Hauses beginne!

»Natürlich weiß, oder wenigstens wünscht ein Mann wie Sie dergleichen Ungehörigkeiten zu entschuldigen«, rief Herr Zempin; »aber ungehörig bleibt ungehörig, und wenn Sie erst einmal bei uns zu Hause sind, werden Sie's bald satt bekommen, diese Mohren weiß waschen zu wollen.«

Gerhard konnte sich eines Lächelns nicht erwehren: der alte Mann, auf den doch diese Worte in erster Linie zielten, und der, als ginge ihn die Sache nicht im mindesten an, mit dem halb blödsinnigen Lächeln auf dem mehligen Gesichte dastand und mit den dicken Lidern über den verschwommenen Augen blinkte – sah einem Mohren gar zu wenig ähnlich!

Er versuchte nochmals, der Angelegenheit eine harmlose, womöglich heitere Wendung zu geben; aber der einmal erregte Zorn des Riesen war so leicht nicht zu beschwichtigen.

»Glauben Sie mir«, rief er, »ich lasse oft, vielleicht nur zu oft fünf gerade sein; aber in gewissen Dingen darf man nicht mit mir spaßen; und wer da meiner bestimmten Order zuwiderhandelt, tut es auf seine Rechnung und Gefahr. Mit Freund Stude werde ich hernach ein ernstes Wort sprechen, und der Jochen soll sogleich seinen Denkzettel bekommen. Wo –«

»Auf dem Hofe«, sagte der alte Mann; »er putzt das Sielenzeug.«

»Bitte, kommen Sie mit mir, Herr von Vacha!« rief Herr Zempin.

Er eilte zum Hause hinaus und nun an der Front hin mit gewaltigen Schritten, die bepantoffelten Füße kaum vom Boden hebend, umschwärmt von den Hunden, gefolgt von Gerhard und dem Alten. Gerhard wäre gern zurückgeblieben; aber das hätte, der bestimmten Aufforderung Zempins gegenüber, wie eine Unhöflichkeit ausgesehen. Über den dämischen Alten! Warum mußte er den sonst so schweigsamen Mund so zur Unzeit auftun? Hatte er das Ungewitter von seinem verstäubten Haupte auf den Kutscher ablenken wollen? vermutlich: er war mit seiner Denunziation so schnell bei der Hand gewesen! Sollte der alte Blaurock so harmlos gar nicht sein? oder in dem Hause eine bedeutendere Stellung einnehmen? Schien ihn doch Herr Zempin für alles verantwortlich zu machen, selbst für das Tun und Lassen des Hauslehrers! Aber wenn er ein Anverwandter war: ein Onkel, Vetter, oder auch nur etwas wie Oberinspektor, Hausmeister oder dergleichen, so würde sich Herr Zempin wohl die Mühe genommen haben, ihm eine so einflußreiche Persönlichkeit vorzustellen!

Gerhard wollte durch eine direkte Frage an den Alten seiner Ungewißheit ein Ende machen, als er durch einen lauten zornigen Ruf Herrn Zempins erschreckt wurde. Er eilte um die letzten Büsche des Bosketts, hinter denen die gigantische Gestalt eben verschwunden war, und sah zu seiner großen Freude, daß es sich nicht, wie er gefürchtet, um den Kutscher handelte.

Herr Zempin stand da, eifrig in die Höhe deutend, wo eine große Flucht Tauben, zu einer dichten Wolke zusammengedrängt, mit rasender Schnelligkeit sich in kleinen und immer kleineren Kreisen drehte. Über der herumwirbelnden, im Abendschein blitzenden Wolke hing ein großer Falke – die mächtigen, weitgespannten Schwingen nur so viel regend, um stets über dem Mittelpunkt des Kreises zu bleiben.

»Eine Flinte! meine Büchse!« schrie Herr Zempin.

Vor dem Donner der Löwenstimme, die von dem schrillen, unisonen Warnruf sämtlicher Hähne, dem ängstlichen Quaken der Erpel, dem mißtönenden Gekreisch des Pfaues und dem wütenden Gebell der Hunde begleitet wurde, schien selbst der Falke zu erschrecken. Er stieg langsam; die Taubenschar mochte glauben, dem Feinde entwischen zu können. Sie schoß geradeaus seitwärts; aber eine weiße, am äußersten Rande, mochte das Kommando nicht verstanden haben oder das Manöver nicht ausführen können; sie blieb ein wenig zurück, mit ängstlichem Flügelschlag bemüht, die kleine Entfernung, die sie von dem großen Haufen trennte, einzubringen. Es war zu spät; der Falke stieß schneller, als ein Stein fällt, herab; im nächsten Moment schon stürmte er, nun die Schwingen mächtig regend, die Beute in den Fängen, davon und war alsbald hinter dem Dache des Pferdestalles verschwunden.

»Hätte ich nur eine Büchse gehabt!« schrie Herr Zempin, dem Räuber mit der Faust nachdrohend; – »ich hätte dir den Spaß versalzen! Er stand keine hundertfünfzig Fuß hoch; ich schieße auf zweihundert einer Taube auf dem Dache den Kopf glatt vom Rumpfe weg und pariere auf jeden Schuß. Wollt ihr die Mäuler halten! man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen!«

Er schleuderte einen der ihn umbellenden Hunde mit dem Fuße weg, daß das mehr vor Schreck als vor Schmerz aufheulende Tier weit durch die Luft flog; aber noch weiter flog der Pantoffel von dem schleudernden Fuß, dem Alten entgegen, der jetzt mit der Büchse vom Hause her um das Boskett kam und sich bückte, den Pantoffel aufzuheben.

»Laß nur liegen, Vadder Deep«, schrie Herr Zempin, »und trag die Büchse wieder fort! Sie sind à quatre épingles, Herr von Vacha; Sie brauchen nicht zurück ins Haus; dort links am Hause hin durch ein Pförtchen in der Hecke rechts! Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.«

Mit der Hand winkend, den einen Fuß im Pantoffel, den anderen nur bestrumpft, schritt er davon, im Vorübergehen in den zweiten Pantoffel fahrend, den der Alte bereits zurechtgestellt; ohne den Kopf zu wenden, auf den hinter ihm Herschlurfenden einscheltend mit einer Stimme, die mit Rücksicht vielleicht auf den neuen Hausgenossen gemäßigt schien wie Donner, der in der Ferne grollt.


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