Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Siebentes Kapitel.

Kein leichtestes Lüftchen linderte die brütende Schwüle zwischen den grünen Mauern; kein leisester Ton in dem dämmerigen Revier, als das leise Knistern, wenn der Fuß des Eilenden auf den mit Nadeln bedeckten Sandwegen ein trockenes Zweiglein berührte. Da war auch schon der kleine viereckige, in den Tann geschnittene, von ein paar stattlicheren Bäumen überwölbte Platz mit der aus Latten und Ästen hergerichteten Bank, auf die er sich setzte, die pochenden Schläfen in die Hand stützend.

Die Siegesfreude hatte nur allzu kurze Zeit gedauert – und was war das für ein Sieg, der doch, genau betrachtet, in nichts anderem bestand, als in einem höflichen Ausweichen und klugen Rückzuge? Weshalb hatte er den Hohn der Frechen nicht mit Hohn erwidert? Weshalb ihr nicht seinen Zorn und seine Verachtung in das brutale Gesicht geschleudert – brutal, wie schön es auch einst gewesen sein mochte? Sie hatte fragen dürfen, die herrschsüchtige Megäre, was er sich selbst kaum noch zu fragen gewagt! Er hatte ihr das Recht dazu abgesprochen – freilich! aber auch mit Recht? Durfte sie nicht wissen, was, wie es schien, die Spatzen von den Dächern pfiffen? was unzweifelhaft – wie konnte er jetzt noch daran zweifeln? – schon hundertmal hinter seinem Rücken verhandelt war von dem Quartett der jungen Herren, das allabendlich nach dem Tee bei einer kleinen Extrabowle auf Studes Zimmer bis in die Nacht hinein lärmte? von den jungen Damen in der Laube, deren Gekicher jedesmal verstummte, so oft er herantrat? von den umfangreichen Frau Müttern und behäbigen Fräulein Tanten in endlosem Kaffeeklatsch und obligatem Stricknadelgeklapper? Das war die Gesellschaft, deren Harmlosigkeit und Gutmütigkeit ihm Stude so gerühmt: diese Allerweltsschwätzer und übereifrigen Geschichtenträger und Gebärdenspäher! Und er – er ging durch diese Gesellschaft wie Hans der Träumer, der nichts sieht, nichts hört – ein lächerlicher Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt – ein scheues Wild, das vor dem Gekläff der Meute hinter ihm in den dichtesten Tann fliegt, ob das klopfende Herz da vielleicht zur Ruhe käme! Und doch! und doch! war schleunige Flucht nicht das Klügste und schließlich auch das Tapferste? und – so oder so – das einzige, was ihn aus diesem Irrsal erretten, ihn aus den Banden, in die er sich verstrickt, erlösen, ihn aus dem engen, schwülen Gefängnis der Leidenschaft herausführen konnte in das lichte Leben selbstbewußten Handelns, in den hellen Sonnenschein treuer Pflichterfüllung? Mochte das Licht auch anfangs die verwöhnten Augen schmerzen, mochte die Sonne auch noch so heiß brennen – er würde sich wieder daran gewöhnen! er mußte es! Durfte er denn frei dem Zuge seines Herzens folgend? War er der Märchenprinz, der auf Abenteuer ausgeht und an den Dornenwald gelangt um das Königsschloß, wo die holde Prinzessin den Zauberschlaf schläft, und der sein gutes scharfes Schwert nun schwingt und sich seinen Weg bahnt durch alle Hindernisse; und der Dornen spottet, die ihm das seidene Wamms zerfetzen und die tapferen Hände und die glühenden Wangen blutig ritzen; und der Ungetüme lacht, die ihn aus wütenden Augen anstarren und mit gierigen Zähnen nach ihm hacken? Oh, ein gutes Roß und ein scharfes Schwert und ein seligleichtes Märchenprinzenherz! Dann – ja dann!

Und wie der Träumer nun vor sich hinstarrte, trat – in der schwülen Einsamkeit und lautlosen Stille, die ihn umgaben – aus dem heißen Hirn das Zauberbild seiner aufgeregten Phantasie wie leibhaftig vor sein inneres Gesicht. Die dichte Wand der Tannen wurde zur stachligen Dornenhecke, durch deren grünes Dämmer die roten Sonnenstrahlen vor ihm herschlüpften, den kühnen Ritter weiter und weiter zu locken in das köstliche Abenteuer. Da war's ja schon, das efeuumrankte Tor mit den schlafenden Wächtern, der schattige Hof, das hohe Portal, die weiten Hallen, die enge Wendeltreppe! hinauf! hinauf! bis an die niedere, eisenbeschlagene Tür – die dreht sich in den verrosteten Angeln –

Heiliger Gott! war er wahnsinnig! da! in der schmalen Öffnung der Tannenwand, wie in dem Rahmen einer Tür –

Er sprang empor – beide Arme weit ausgestreckt; – und sie lag an seiner Brust; er preßte die holde, schmiegsame Gestalt an sein rasendes Herz; er drückte den heißen Mund auf die knospenden Lippen, die zu ihm auflächelten; er zog sie zu sich auf die Bank und küßte sie wieder, wie sie ihn, und blickte in die strahlenden, märchenhaften Augen und traute noch immer den eigenen Augen kaum.

»Bist du's! bist du's wirklich? war und wahrhaftig? ich habe, ich halte dich? du liebst mich, glühend und innig, wie ich dich?«

»Hast du daran gezweifelt, Geliebter?«

»Ja, ich hab's! und habe gezweifelt, ob ich dich lieben dürfte – noch vor einer Minute! oder ist's eine Ewigkeit? Kann es denn je anders gewesen sein? oder, wenn es anders war, so war's kein Leben, nur ein wirrer Traum, ein dämmernd Ahnen dessen, was kommen sollte, kommen mußte! Ja, es mußte, mußte kommen! wie Schleier fällt es mir von den Augen, ich war ein töricht-furchtsamer Knabe; mehr noch, ich war feig und schlecht! dich lieben, von dir geliebt sein – das ist Tugend und Tapferkeit, das ist Glück, ist Seligkeit, das ist alles – du, mein alles!«

Er konnte sich nicht genug tun; nicht in jauchzenden, stammelnden Worten, nicht in glühenden, innigen Blicken, nicht in zärtlichen, zaghaft-scheuen Liebkosungen. Er streichelte ihre Hände, ihr Gewand, er berührte ihr weiches, lockiges Haar; sie wieder zu küssen, wagte er nicht; ja, er dachte nicht daran; war es denn nicht genug, war's nicht zu viel für einen Sterblichen, zu wissen, daß dies holdeste Geschöpf nun sein war, sein gewesen war, von Anfang an, sein bleiben sollte alle Zeit?

»Du ewig Nachdenklicher! Bedenklicher!«

»Für dich! für uns! wir können nicht immer hier sitzen in der heiligen Einsamkeit, die selbst die neugierigen Vögel respektieren; wir werden hinaustreten müssen in die Gesellschaft, die so wenig und der so wenig heilig ist, die an unserem süßen Geheimnis bereits genascht hat, bevor wir noch gewagt, davon zu kosten, und die, da wir ihr nun das pikante Vergnügen rauben, uns verketzern und verlästern wird. Mag sie! ich fürchte sie nicht mehr, im Gegenteil: jedes Zagen und Zaudern wäre mir unerträglich, und wie ich vorher jenen Menschen scheu aus dem Wege gegangen bin, so will ich – so wollen wir jetzt offen und kühn vor sie hintreten. Komm, Geliebte! komm!«

Er wollte sie mit sich von der Bank emporziehen; sie hielt ihn an beiden Händen fest mit einem gespannten, fast erschrockenen Ausdruck, der aber sofort wieder in süßes Lächeln sich löste.

»Du Rascher, Wilder! laß die Kleine, Dumme für dies eine Mal die Weitsichtigere, die Klügere sein! Sieh, Geliebter, ich fürchte mich auch vor niemand, weil –«

»Du weißt, daß du alle beherrschst.«

Sie hob die gesenkten Augen mit einem raschen, schelmischen Blick.

»Mag sein – ein wenig; aber ich fürchte für dich! Versteh mich recht: du kennst unsere Art und Weise nicht; du bist aus einer anderen Gegend, wo die Menschen milder sind und feiner, wenn sie dir nur etwas gleichen. Ich habe schon oft für dich gezittert bei ihren Späßen und Scherzen; sie meinen es ja nicht bös, aber es hat dich gewiß manchmal verletzt. Und wieviel schlimmer würde das alles jetzt sein, wo sie – dich nicht für ihresgleichen halten, gewiß nicht, denn sie fühlen wohl den Unterschied – aber so tun dürfen, als ob du zu ihnen gehörtest, weil du dir deine Braut aus ihrem Kreise erwählt hast. Und was mich vor allem besorgt macht – du kennst meinen Vater noch immer nicht.«

»Es ist nicht meine Schuld; sie haben mir so abgeraten: er sei unerbittlich gegen alles, was aus Kantzow kommt. Du hast es selbst gesagt in den ersten Tagen –«

»Ich weiß; aber es ist nun einmal nicht anders; du sollst ihn erst kennenlernen, und er kann sehr hart sein, sehr grausam! Auch stehe ich gar nicht so gut mit ihm, wie Edith, die sein Liebling ist und alles von ihm haben kann und es auch bei ihm durchgesetzt hat, daß wir hierher nach Kantzow dürfen; mir allein hätte er es nie erlaubt. Da müssen wir vorsichtig sein, den rechten Augenblick wählen; – laß mich nur machen: ich finde es schon!«

»Du wirst es deiner Schwester sagen?«

»Auf keinen Fall!«

»Weshalb? sie scheint mir gut und edel; sie wird sich mit uns freuen, sie wird uns helfen, wenn Hilfe nötig ist. Sag es ihr, ich bitte dich!«

»Du weißt nicht, was du forderst; du darfst hier keinem trauen, nur mir!«

»Wenn ich nun aber morgen, vielleicht schon heute doch nach Kosenow komme?«

Sie blickte ihn wieder erstaunt-erschrocken an; er teilte ihr mit, um was es sich handelte, und wie die Sache keinen Aufschub dulde.

Maggie dachte nach. – Wie süß der Ernst dem holden Gesichtchen stand! und doch so süß nicht, wie das Lächeln, mit dem sie jetzt, sich an ihn schmiegend, sagte: »Laß es wenigstens bis morgen! heute nicht; heute auf keinen Fall! Es ist heute jemand bei uns, der – die – denn es ist eine, die – mit einem Worte: die Baronin Basselitz.«

»Die Baronin? bei euch?«

»Ich bin mit ihr gekommen; sie hat mich abgeholt, und ich muß natürlich wieder mit ihr fort – sehr bald – gleich – wir müßten eigentlich schon unterwegs sein. Was ist dir, Lieber?«

Gerhard vermochte nicht alsbald zu antworten; er fühlte sich auf das wunderlichste, ja peinlichste berührt. Er sagte sich, daß er nicht verlangen dürfe, die Geliebte solle alle ihre gesellschaftlichen Verbindungen Knall und Fall abbrechen, womöglich bereits abgebrochen haben, bevor sie sich ihre Liebe gestanden; – nur diese Intimität mit der Frau, die ihn eben so schwer beleidigt – um Maggies willen, die jetzt seine Maggie war – es kam ihm unehrlich, ja unnatürlich vor. – »Du kannst nicht an der Seite einer Frau sitzen«, rief er, »die, nach dem, was eben zwischen uns vorgefallen, wenn sie wüßte, daß du mich liebst, daß du mein sein willst, aus dem Wagen springen oder dich in blinder Wut mit den eigenen Händen aus dem Wagen schleudern würde!«

»Nach dem, was zwischen euch vorgefallen!« rief Maggie, »und soeben! ich weiß ja von nichts; ich war in dem Hause, dich zu suchen, dann hier im Parke – großer Gott, was ist denn geschehen?«

»Ahnst du es nicht? errätst du es nicht?« erwiderte Gerhard; »muß ich es wirklich in Worte fassen, was in der Erinnerung schon mir die Seele empört? und dich empören wird, wenn ich es dir sage!«

»Sprich! sprich doch!« rief Maggie; »sage mir alles, alles! jedes Wort! es kann nicht so schlimm sein wie die Angst, die ich jetzt erdulde!«

Sie hatte seine beiden Hände ergriffen und blickte ihn mit großen, mehr vor Erwartung als vor Schrecken starren Augen an.

»Du hast recht«, sagte Gerhard, »verzeihe! Ich muß es jetzt ja sagen, du mußt jetzt wissen, wie niedrig gesinnt diese Frau ist, wie tief sie – nicht sowohl mich, wenn ich es recht bedenke – denn was bin ich ihr? was ist sie mir? – sondern mein süßes Mädchen gekränkt, das sie doch mit ihrer Gnade beehrt! – einer Gnade, die sich aufs Warten legt, die vielleicht einmal ja sagt, vielleicht auch nicht, je nachdem ihr die Laune steht, oder der gnädige Herr Sohn bei seiner Laune bleibt oder sich auf was anderes besinnt!«

Und er erzählte ihr nun, möglichst ausführlich, jene Szene mit der Baronin.

Sie hatte – schon nach seinen ersten Worten – die langen Wimpern gesenkt, und, während er weitersprach, kam und ging das Rot auf ihren zarten Wangen; um die knospenden Lippen zuckte es wie Hohn, dann wieder umspielte sie ein feines, fast schalkisches Lächeln.

Und dies Lächeln blieb, als Gerhard geendet, und sie zu ihm emporblickte und plötzlich die Arme um seinen Nacken schlang.

»Ich muß dich küssen! für deinen edeln Zorn! für deinen Mut, der Tyrannin zu trotzen! Und nun laß mich lachen! oder darf ich es nicht? Ist es nicht zum Lachen, wenn die Gnädige von mir spricht, wie von einem Vögelchen, dem man das Bauer aufsperrt oder zu, wie's einem beliebt, und das man kirre macht mit einem Stückchen Zucker von Zeit zu Zeit? Denkt sie, daß ich eine Ewigkeit Zeit habe, auf ihren Lafing zu warten? Wenn du Lafing kenntest! ich glaube, du wärest nicht so zornig geworden – Lafing und du!«

Sie streichelte ihm das Haar aus der Stirn, sie drängte ihn an beiden Schultern zurück, um ihn recht zu betrachten, und zog ihn zärtlich an ihre Lippen und küßte ihn und rief immer wieder lachend: »Lafing und du! du und Lafing!«

Gerhard selbst mußte lachen. Sie war ihm nie so reizend erschienen, wie in dieser schelmischen Laune, vor welcher der letzte Rest seines Grolls und Unmuts dahinschwand, um in seiner Seele nichts zu lassen, als eitel Liebe und Anbetung des holden Geschöpfes.

Dem Trunkenen, Seligen waren Minuten wie ebenso viele Augenblicke dahingeschwunden, als sie sich plötzlich seinen Armen entzog: »Horch!«

Man hörte Stimmen rufen, erst aus der Ferne, dann näher und näher, und jetzt ertönte es bereits im Wäldchen: »Maggie! Maggie! Fräulein Maggie!«

»Es ist die höchste Zeit«, sagte Maggie; »und wenn du morgen kommst: kein Wort zu Edith, zu meinem Vater! trau deiner kleinen Maggie! und nun noch diesen Kuß! den letzten heut! und – das nehme ich mit zum Angedenken an diese Stunde! nein! nur um es zu küssen, bis ich dich wieder küssen darf; dann sollst du ihn wieder haben.«

Sie hatte ihm den Ring vom Finger gezogen, den einzigen, den er trug.

»Ist das dein Wappen?«

»Ja.«

»Und bald auch meines!«

Sie küßte den Ring und ließ ihn in den Busen gleiten: »Du bleibst noch ein paar Minuten und gehst nach der anderen Seite! Ade, Ade!«

Sie hatte ihn nun doch noch einmal umarmt; dann aber war sie, schnell wie ein Vogel, von ihm fort quer über den kleinen Platz geeilt und in der schmalen Öffnung der Tannenwand verschwunden.

»Als wär's ein Traum gewesen!« murmelte Gerhard.

Er hatte sich wieder auf die Bank gesetzt. Die Stimmen der Rufenden waren verstummt; es war lautlos still wie vorhin, die roten Sonnenlichter schlüpften durch die grünen Zweige, die kein Hauch bewegte; betäubend starker Harzduft erfüllte die heiße, zitternde Luft.

Ein holder, süßer Traum, zu hold und süß für dieses Leben, und deshalb so bald, zu bald verträumt.

Er schloß die Augen, den Nachklang ihrer Stimme noch ein wenig festzuhalten, die Süßigkeit ihrer Lippen noch einmal zu spüren auf den eigenen bebenden Lippen, den Strahlenglanz ihrer Augen noch einmal leuchten zu sehen durch das purpurne Dunkel, in das er sich versenkte.

Doch das Dunkel wurde dichter und dichter. Er hatte die Empfindung, als ob er in einem Kahn auf spiegelglattem, schnellfließendem Wasser ohne Ruder, ohne Steuer stromab treibe, einer großen, dunkeln Höhle zu, die ihm Kühlung und Erquickung versprach von des Lebens und der Liebe Qual und Lust.

Dann schlug er die Augen auf und blickte vor sich hin auf den sandigen Boden und hinüber zu der Tannenwand und hinauf zu dem dichten Gezweig, durch das nur spärlich das Blau des Himmels leuchtete.

Sonderbar! Wie war das alles in so reinen Linien und klaren Farben, als wär's eben frisch hervorgegangen aus des Schöpfers Hand!

Und von seiner Stirn, in der die Schläfen so gehämmert, war der Druck verschwunden; und in seiner Brust, wo das Herz so wild gepocht, war's still, so still! Und durch die heilige Stille hörte er – fern und süß wie von Engelslippen: Edith!

Er wiederholte laut den Namen, den seine halbwache Seele zu vernehmen geglaubt, und bei dem Klange der eigenen Stimme kam er erst zum vollen Bewußtsein. Wie lange hatte er geschlafen? Er sah nach der Uhr; es waren nur zehn Minuten vergangen, seitdem er sich wieder auf die Bank gesetzt und die Augen geschlossen, um von Maggie zu träumen; und nun, da er erwacht, war Maggies Bild wie ausgelöscht, und das ihrer Schwester stand so deutlich vor ihm da, als sei sie's gewesen, die ihn vorhin verlassen: die dunkle, schlanke Gestalt, die schwermütigen Augen – selbst den weichen Klang ihrer Stimme glaubte er zu hören – sonderbar! sonderbar!

Freilich! auf diesem selben Platze war er ihr begegnet; von dieser selben Bank hatte sie sich erhoben, als er dort aus den Tannen hervortrat. Und das Buch dort hinter der Bank mochte ihr in dem Moment entglitten sein und lag nun da, wie es gefallen, aufgeschlagen, in dem weichen, trockenen Moose.

Er hatte es vorhin nicht gesehen, obgleich es doch kaum zu übersehen war; es konnte während der Zeit niemand den Platz besucht haben, wenn es ihr gehörte.

Er bog sich über die Lehne, es aufzuheben. Dabei klappte er es zu und hielt es so in der Hand, den Titel auf dem Rücken, den Einband in tiefstem Erstaunen betrachtend.

Mein Gott! das war ja genau derselbe Einband, derselbe Schnitt, wie die alte Ausgabe von Goethes Werken in seinem elterlichen Hause! und der Band, der einzige, der in der Ausgabe fehlte! Wilhelm Meisters Lehrjahre! Wie war das möglich? wie kam das Buch hierher? in Ediths Hand und Besitz? denn auf dem ersten Blatte stand ihr Name in schönen, deutlichen Zügen?

Nun, man brauchte deshalb freilich nicht an Wunder zu glauben. Die Ausgabe – von 1806 – war doch ihrerzeit gewiß weit verbreitet gewesen, und weshalb sollte nicht auch ein Exemplar sich hierher verirrt haben in diese Ultima Thule, und in demselben Einband und Schnitt, welche die Verlagsbuchhandlung in ein und derselben Fabrik für viele Exemplare hatte anfertigen lassen, obgleich das, soviel er wußte, damals noch nicht eben gebräuchlich war? Es konnte sich ja nur so verhalten. Er würde sich davon überzeugen, wenn er der Besitzerin morgen ihr Eigentum zurückbrachte.

Er hatte den Band aufgeschlagen und darin geblättert; sein Auge blieb auf einer Seite haften, die Verse enthielt, das Lied des Harfners: ›Wer nie sein Brot mit Tränen aß‹ –

Er konnte es seit der Knabenzeit auswendig, dennoch las er es durch, wie ein neues Gedicht: so eigen anders erschien es ihm – von einer Bedeutung und Tiefe, die er vorher kaum geahnt und ganz gewiß nicht ermessen: – ›denn alle Schuld rächt sich auf Erden‹ –

Er sprach den letzten Vers laut vor sich hin und wiederholte ihn dann im stillen noch mehrmals.

Es war die traurige Weisheit des Mannes aus dem Walde, und fast in dieselben Worte gekleidet. Wie hatte er doch gesagt? – ›Nichts verjährt – nichts in der Natur und nichts im Menschenleben – keine gute und keine böse Tat!‹

Nun denn! so lassen wir den Bösen ihre bösen Taten! und halten wir uns, die wir uns gut zu sein bemühen, an die guten!

Er hatte das Buch zu sich gesteckt und bereits ein paar Schritte gemacht, als er das Knirschen von Rädern in dem tiefen Sandwege vernahm, der hinter dem Wäldchen an der hohen Hecke hin von Kantzow nach Kosenow führte.

Es war zweifellos der Wagen der Baronin – war Maggie an ihrer Seite?

Er konnte sich leicht davon überzeugen: in wenigen Sekunden wäre er an der Hecke gewesen und brauchte nicht zu fürchten, daß er gesehen werde, während er alles sah.

Er wollte es nicht sehen: das nicht!

Stimmen drangen an sein Ohr – Frauenstimmen, ihm Unverständliches lebhaft besprechend, und wurden dann undeutlicher und verklangen, und alles um ihn her war wieder still wie zuvor.

Er atmete tief auf.

Er mochte ja nicht bös sein! es mochte ja geschehen müssen! Er wollte ihr freudig vertrauen, wie sie's von ihm verlangt!

Aber es war keine Freudigkeit in seinem Herzen, als er jetzt langsamen Schrittes das Wäldchen verließ, sich nach dem Hause zu begeben, wo er die Gesellschaft bereits bei Tische anzutreffen fürchten mußte.


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