Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel

Der Graf hatte dem Hausmeister einen Wink gegeben, worauf sich dieser mit den beiden Dienern entfernte. Zu seinem Platze an der Tafel zurückgekehrt, legte er, sich setzend, die mitgebrachten Papiere neben den Dessertteller und sagte, nachdem er sich die Lippen mit ein paar Tropfen Champagner gefeuchtet:

»Ich habe die Leute weggeschickt, liebe Alix, weil das wichtige Dokument, das ich vorzulegen um die Erlaubnis bitte, trotzdem es ein französischer Brief ist, mir in deutscher Version von Onkel Exzellenz vermutlich in der guten Absicht gesandt ist, mir die kleine Mühe des Übersetzens zu ersparen, falls ich mich veranlaßt finden sollte, das Schriftstück einem und dem anderen Herrn Nachbar mitzuteilen, von denen man ebensogut die Quadratur des Zirkels, als Kenntnis einer fremden Sprache fordern könnte. Und diese Mitteilung wird, wie Onkel Exzellenz vorausgesehen, allerdings wohl nötig werden, da nur die intimste Erinnerung an Land und Leute vor einigen dreißig Jahren, die ich, abgesehen davon, daß ich ein Eingewanderter bin, unmöglich haben kann, eine Lösung des Rätsels verspricht. Um nun sofort zur Sache zu kommen – ich sehe, liebe Alix, daß du bereits ungeduldig wirst – es handelt sich darum, in unserer Gegend ein Gut, vielmehr das Gut zu entdecken, auf welchem der besagte Brief – etwa vom neunzehnten Januar bis Ende desselben Monats, spätestens bis Anfang Februar 1813 – denn der Brief besteht aus mehreren, an verschiedenen Tagen während eines Zeitraums von etwa zwei Wochen entstandenen Absätzen – geschrieben ist, von dem Vicomte Victor Amadé de Brissac, Oberst in dem Korps des Marschalls St. Cyr und sein persönlicher Adjutant, auf dem Rückzuge der französischen Armee nach der Katastrophe an der Beresina. Ich bemerke für dich, liebe Alix, der die einzelnen Daten dieser schrecklichen Ereignisse weniger gegenwärtig sein möchten, daß die Katastrophe am 12. Dezember 1812 stattfand, und der Kaiser, der der Armee vorauseilte, bereits am 14. durch Dresden kam, um sich eiligst nach Paris zu begeben, von seiner Nation die ungeheueren Opfer zu fordern, die der bevorstehende Revanchefeldzug kosten mußte. Zu diesen Opfern gehörte natürlich Geld und abermals Geld; und da die zum Teil noch recht gefüllten Kriegskassen, welche die dem Kaiser mit ihren Stäben zuerst folgenden Marschälle und Generäle bei sich führten, in Paris notwendiger und vor allem sicherer waren, als unterwegs – wo man sich noch immer durch Requisitionen schadlos halten konnte – mochte es geschehen, daß einzelne, besonders gewandte und vertrauenswerte Offiziere mit diesen Kassen vorausgeschickt wurden. Eine solche, unter jenen Verhältnissen unendlich verantwortliche und schwierige Mission wurde auch dem Vicomte de Brissac zuteil – wie der Erfolg zeigte, zu seinem persönlichen Verderben und zum nachträglichen tiefsten Kummer seiner Familie. Um von der letzteren, einem Edelmanne schlimmsten Kalamität zuerst zu sprechen, so geschah in Frankreich damals, was ja auch bei uns leider Regel ist: daß der große Haufe, der keine Achtung vor dem Unglück hat, zumal wenn es gilt, edle Namen in den Staub zu ziehen, die Ursache und Schuld des nationalen Verderbens einigen wenigen, das heißt: den Führern, aufbürdete und über Verrat schrie, wo der Finger Gottes auch dem blödesten Auge hätte sichtbar sein müssen. Und – tout comme chez nous – den Aberwitz der Pöbelphantasie adoptierte eine hocherleuchtete sogenannte liberale Geschichtsschreibung, die alten albernen Märchen unermüdlich wieder aufwärmend zum Gaudium der großen Menge und zum tiefsten Leide der doch gewiß unschuldigen Nachkommen von Braven, die sich aus ihren Gräbern nicht mehr verteidigen konnten. Dieses Leid traf denn nun auch die Brissacs in einem um so schlimmeren Grade, als das Grab des Vicomte völlig unbekannt war. Man behauptete mit frecher Stirn, der Vicomte habe sich mit der gefüllten Korpskasse bei passender Gelegenheit, an der es ja in dem unglaublichen Wirrwarr nicht fehlen konnte, von Berlin aus, bis wohin man seine Spur genau verfolgen konnte, davongemacht und auf der doppelt schimpflichen Flucht ein schmähliches Ende genommen. Die Vicomtesse, die sich der glücklichsten Ehe kaum ein halbes Jahr erfreut hatte, hüllte sich, wie es Frauen ziemt, den schmählichen Verleumdungen gegenüber in ihren Witwenschleier und das Gefühl einer Würde, zu deren Höhe das Geschrei des Pöbels nicht hinaufreicht; der junge Vicomte aber, dem die Mutter noch während des unglückseligen Feldzuges das Leben gab, und der jetzt also ein Mann von zweiunddreißig Jahren ist – in hochangesehener Stellung, wie ich nebenbei bemerken will – ruhte und rastete nicht, bis er den Flecken abgewaschen, womit Bosheit und Niedertracht sein Wappenschild befleckt hatten. Seinen unermüdlichen, durch seine Stellung und seine persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu den höchsten Familien Frankreichs unterstützten Bemühungen gelang es, in den Archiven des Kriegsministeriums eine Kopie des Passes aufzufinden, der dem Obrist Vicomte de Brissac vom Marschall Augereau, damals Oberbefehlshaber in Berlin und in den Marken, ausgestellt war, und in welchem alle Kommandanten, Behörden und so weiter aufgefordert wurden, dem genannten Vicomte auf seiner, die höchste Eile erfordernden wichtigen Mission jeden möglichen Vorschub zu leisten. Daß diese Mission nur einen Zweck haben konnte: die Beförderung der Korpskasse nach Paris, lag zwar von vornherein auf der Hand, wurde aber noch durch die gerichtliche Aussage eines alten Zahlmeisters, der bei der Überlieferung zugegen gewesen und den der Vicomte, ich weiß nicht wo, entdeckt hatte, bestätigt. Selbst die enragiertesten demokratischen Schreier wagten die Tatsache selbst nicht länger anzuzweifeln, und vor ihnen wenigstens hatte man Ruhe. Aber dem pietätvollen Sohne war dies nicht genug: bis dahin kam mein Vater auf seiner Fahrt, und kam nicht weiter, weil er sein Leben für seinen Kaiser lassen mußte – das war es, was ihm noch festzustellen blieb. Die Vicomtesse wußte, daß, während sie bei der Geburt ihres Knaben mit dem Tode rang, ein langer Brief ihres Gatten auf dem Schlosse angekommen war, den sie in halbem Delirium gelesen, und aus dem sie sich nur so viel erinnerte, daß ihn der Vicomte auf eben jener verhängnisvollen Reise – jedenfalls noch zu Anfang derselben – denn es war viel von grausamer Kälte und tiefem Schnee die Rede gewesen – geschrieben; sie konnte aber nicht sagen, von welchem Orte; sie meinte, es sei kein bestimmter Ort angegeben worden. Dieser kostbare Brief schien unwiederbringlich verloren, entweder sofort in jenen Tagen von den gewissenlosen Leuten oder in einem kurze Zeit darauf, noch während der Krankheit der Vicomtesse, auf dem Schlosse stattgehabten Brande. Der Vicomte, ihr Sohn, ließ sich durch keine Schwierigkeit abschrecken; nach unendlichem Suchen – wer in frommem Glauben sucht, läßt Gott finden! – entdeckte er in einem vergessenen Koffer, vergraben unter wertlosen Dingen, wie sie sich in einem alten Schlosse anhäufen, eben jenen Brief. Sie werden sofort sehen, weshalb die arme Vicomtesse sich keines Ortsnamens erinnern konnte. Bevor ich aber an die Lektüre selbst gehe, muß ich noch bemerken, daß in dem Paß die Route Stettin-Sundin – eine der französischen Militärstraßen jener Zeit, liebe Alix! – genannt und ausdrücklich bemerkt war, daß von Sundin aus die Wahl der einzuschlagenden Route ganz dem Ermessen des Herrn Vicomte anheimgestellt sei. Nun aber ist es überaus unwahrscheinlich, daß bis zu dem letztgenannten Orte den Vicomte irgend ein Unfall getroffen, geschweige denn das Verhängnis ereilt haben sollte; dazu war die Furcht vor den Franzosen innerhalb der von ihnen besetzten Distrikte noch zu groß; auch widerspricht dieser Annahme der Inhalt des Briefes. Von Sundin aus mußte der Weg weiter westwärts, vermutlich nordwestlich nach dem von den Franzosen okkupierten Hamburg, durch das damals noch schwedische Neuvorpommern, das heißt unseren Regierungsbezirk, gehen; und auf diese Folgerungen sich stützend hat eben Onkel Exzellenz gerade mir den Brief gesandt, den der Vicomte mit den nötigen Erläuterungen unserer Gesandtschaft in Paris anvertraut hatte, und der von dieser wiederum nach Berlin an das Ministerium übermittelt wurde. Onkel Exzellenz, der die Angelegenheit – für die sich auch Se. Majestät lebhaft interessiert – mit gewohntem Eifer in die Hand genommen, ersucht mich dringend, alles aufbieten zu wollen, das Geheimnis zu lüften, das leider noch über der Angelegenheit schwebt. Und nun, liebe Alix, mein werter Herr Baron: dies ist der Brief, wenn man so nennen kann, was schon mehr ein unter den seltsamsten – ich darf sagen: tragischsten Verhältnissen abgefaßtes Memoire ist.«

Die Gräfin hatte über dem Interesse, welches ihr diese Mitteilungen denn doch einflößten, das Gefühl der Enttäuschung überwunden, das sich anfangs ziemlich deutlich auf ihren Mienen ausgeprägt; auch Gerhard war, in seine eigenen Gedanken verloren, dem Vortrage des Grafen nur mit halber Aufmerksamkeit gefolgt, bis die Seltsamkeit und das Geheimnisvolle der Begebenheit, deren Schauplatz eben diese Gegend gewesen sein sollte, auch seine Teilnahme erregte und zuletzt fesselte. Hatte doch der Französisch-Russische Krieg in der Geschichte seiner eigenen Familie eine so verhängnisvolle Rolle gespielt! und hier schien es sich um ein Schicksal zu handeln, das dem seines Großvaters in mehr als einem Punkte glich. Selbst die Nachforschungen des Vicomte nach dem verschollenen Vater fanden ein Gegenbild in den Bemühungen seines eigenen Vaters, das Dunkel aufzuhellen, das über dem Tode des Großvaters hing, nur daß diese Bemühungen nicht, wie hier, auch nur mit einigem Erfolge gekrönt waren; und, wären sie es gewesen, schwerlich, wie hier, dazu beigetragen hätten, das Andenken eines ungerecht Verdächtigten und Verurteilten zu reinigen und wiederherzustellen.

Dessen mußte Gerhard schmerzlich gedenken, als jetzt der Graf, nachdem er an dem Kaffee genippt, welchen die Gräfin unterdessen eigenhändig serviert, und bemerkt hatte, daß man ihn nicht für die hier und da auffällige Steifheit der Übersetzung verantwortlich machen wolle, also begann:

 

»Ich schreibe dies, meine Vielgeliebte, von einem Orte aus, den ich nicht nennen darf, um, würde der Brief aufgefangen, die Meute nicht auf unsere Spur zu bringen; unter Verhältnissen, bei deren Schilderung aus demselben Grunde die größte Vorsicht mir die Feder führen muß; – in der Ungewißheit, ob dies jemals in Deine lieben Händen gelangt, ja in der Hoffnung, daß es mir vergönnt sei, noch vorher in Deine Arme zu eilen und Dich an ein Herz zu drücken, welches nur für Dich schlägt. Weshalb ich dennoch schreibe? Könnte die Liebe wirklich so fragen? sollte sie nicht aus eigener Erfahrung wissen, daß nächst dem unaussprechlichen Glück der geliebten Nähe es kein größeres gibt, als sich mit dem Gegenstande seiner Zärtlichkeit in Gedanken zu beschäftigen, die Phantasie gleichsam zu zwingen, ihre luftigen Gebilde an Stelle der Wirklichkeit treten zu lassen? Oh, meine vielgeliebte Sophie, ich sehe Dich im Wachen und im Traume – auf der Terrasse unseres Schlosses im milden Scheine unserer schönen südlichen Wintersonne; in dem abendlichen, kerzenerhellten Salon, bald allein, bald in Gesellschaft der guten Tante, des würdigen Pfarrers, vielleicht auch eines oder des anderen unserer braven Nachbarn; sehe Dich, wie ich Dich zuletzt sah: das holde Gesicht von Tränen der Verzweiflung überströmt, die dann vor einem Lächeln schwinden – einem Lächeln der Hoffnung, meine Liebe – einer süßen Hoffnung, welche zur herrlichsten Erfüllung werden wird, wenn der gute Gott die Gebete erhört, die ich stündlich für Dein Wohl zum Himmel sende.

Müßte ich zweifeln, daß Deine Gedanken bei mir weilen, wie die meinen bei Dir, ich würde diese Stunde nicht überleben mögen; aber ich würde sehr traurig sein, meine Liebe, stände vor dem Auge Deines Geistes meine gegenwärtige Situation in allen Einzelheiten so klar, wie ich Dir auf jedem Schritte Deines Weges folgen darf. Ist doch mein Pfad so dunkel, wie der Deinige hell! so voller Gefahren, wie der Deinige von allen guten Engeln behütet! – so dunkel in der Tat und gefahrvoll, daß ich ihn am liebsten ganz allein gehen möchte, und schon die Begleitung der beiden Menschen, die meine Gesellschaft bilden, mein Herz beschwert und mein Gewissen beunruhigt. Zwar mein getreuer Baptiste würde mich ja nicht verlassen, selbst an den Pforten des Ortes, den ein frommer Christ, Gott sei gelobt, nie betreten wird; und mein Freund, den ich bereits von Paris aus jener Zeit her kenne, als meine Sophie noch nicht als unumschränkte Königin in meinem Herzen regierte, und der während der Kampagne mein Pylades geworden, ist einer von den Menschen, welchen nicht nur die Furcht fremd ist, sondern welche die Gefahr suchen, um der Gefahr willen, und mit ihr spielen wie der Sturmvogel mit den Wellen. Auch sollte ich mich eher seinen Pylades nennen, da er sich zum Orest viel besser qualifiziert, schon deshalb, weil er der Ältere ist, besonders aber, weil seine Bekanntschaft mit den Furien eine nur allzu genaue und von nur allzu langer Dauer. Oh, meine Sophie, wenn ich sehe, wie keine höchste Begabung des Geistes, keine Vorzüglichkeit und Schönheit des Leibes den Menschen vor dem Verderben der Seele schützen kann, so er der Liebe ermangelt, wie soll ich Dir danken, die Du diese reinigende, heiligende Flamme in meinem Busen entzündet hast, auf daß sie dort nur mit meinem Leben verlösche!

Ich möchte dies Geplauder, das freilich nur für mich beglückend ist, so gern fortsetzen, aber...

 
Zwei Tage später, nachmittags.

Darf ich ihn vollenden, den abgebrochenen Satz? Warum nicht? die Wahrscheinlichkeit, den Brief expedieren zu können, ist immer geringer geworden – ich schreibe eigentlich nur noch für uns beide – für den seligen Augenblick, wann wir wieder vor dem traulichen Kamin sitzen, dessen Flamme unsere erste Liebe sah und nun ein glückliches Paar beleuchten wird, doppelt glücklich, weil es wieder vereinigt ist nach so langen Trennungsleiden – dreifach glücklich, wenn auf dem Schoße der jungen Mutter – oh, mein Gott, wohin verirrt sich meine trunkene Phantasie, deren Glut nicht Eis und Schnee eines nordischen Winters, nicht der Schmerz der Wunde – nun! da steht es – das böse Wort, und mag nun stehen bleiben! Sie wird geheilt sein, bevor ich meine Sophie wiedersehe, oder heilen in dem Moment, wo ich sie wiedersehe. Ich brauche mich ihrer nicht zu schämen; sie ist ein rühmliches Angedenken des glorreichen Tages von Borodino; sie hat mir mein Obristpatent eingebracht. Ich muß ihr also manches vergeben, wenn es auch freundlicher von ihr gewesen wäre, nicht gerade jetzt wieder aufzubrechen, wo ich zur Ausführung meiner Mission der freiesten Verfügung über alle meine Kräfte der Seele und des Leibes bedarf, und – das Thermometer beständig zehn Grad unter Null steht. Freilich ist gerade der letzte Umstand die bewirkende Ursache – so sagt Baptiste, der nichts, so sagt mein Freund, der ein wenig, und so sagt schließlich auch unser Wirt, der, glaube ich, ziemlich viel von der Sache versteht –

 
Am folgenden Tage, morgens.

Er ist sonst nicht sehr gesprächig, unser Herr Wirt, und was er sagt, nicht immer sehr angenehm, zum Beispiel, daß wir besser täten, des Abends kein Licht zu brennen – ein Wunsch, der natürlich für uns Befehl ist, und dessen Befolgung mich gestern abermals abbrechen ließ, nachdem ich kaum begonnen. Nicht als ob wir Gefangene wären, meine Liebe, durchaus nicht! Wir könnten jeden Augenblick gehen, wenn der Schnee, welcher alle Wege tief bedeckt hat, die Kälte, welche selbst dem Gesunden das Mark in den Knochen erstarren macht und eine aufgebrochene Wunde tödlich vergiften würde, schließlich die Rachgier einer brutalen Bevölkerung nicht ebensoviel unübersteigliche Hindernisse für uns wären. Das letzte vielleicht das schlimmste, trotzdem es jeder adäquaten Ursache zu entbehren scheint. Was haben wir diesen Menschen getan? gerade diesen, welche – in dem stillsten Winkel des Landes – von den Leiden des Krieges kaum etwas verspürt, den Untertanen noch dazu eines Staates, mit dem wir bis zum letzten Augenblicke die freundlichsten Beziehungen unterhielten, welche man freilich jetzt, wo wir am Boden zu liegen scheinen, schnell genug von jener Seite aufgegeben hat? Ist Deutschland wirklich eine Nation? oder auf dem Wege, eine zu werden, da es patriotische Schmerzen selbst in Teilen fühlt, die längst schon von dem Hauptkörper abgetrennt sind?

Ich habe diese Fragen durch die Interpretation des Freundes unserem Wirte vorgelegt; er aber schüttelte nur das mächtige Haupt und wiederholt seine Warnung, nach Dunkelwerden kein Licht mehr zu brennen.

Es verhält sich aber damit so: Wir sind in einem Schlosse einlogiert, welches zwar nicht an der Landstraße liegt, aber von derselben auch nicht so weit entfernt ist, daß man durch die zahlreichen und gewaltigen, leider jetzt blätterlosen Bäume und die schneebedeckten Büsche etwa erleuchtete Fenster nicht entdecken sollte. Das Schloß steht schon seit Jahren leer, da der Besitzer, was ich sehr begreiflich finde, sich in schöneren Gegenden, als sie diese ultima Thule bietet, behaglicher fühlt. Der Verwalter des Gutes, eben unser Wirt, bewohnt mit seiner Familie ein unbedeutendes Nebenhaus. Jedes Zeichen von Leben nun in dem Schlosse würde die Aufmerksamkeit der Passanten, die Neugier der Nachbarn erregen; und unsere Sicherheit beruht eben darauf, daß dies nicht geschieht, daß das Schloß Tag und Nacht mit verschlossenen, oder doch nur vereinzelt und vorsichtig geöffneten Jalousien daliegt – verlassen und verödet, wie die Leute es seit so langer Zeit zu sehen gewohnt sind. Nur unter dieser Bedingung, wiederholt uns täglich der Wirt, könne er unser Bleiben verstatten und sich für unsere Sicherheit verbürgen. Du magst glauben, meine geliebte Sophie, daß ich für mein Teil so gemessenen Anweisungen mit der Pünktlichkeit nachkomme, welche ich meiner Mission, welche ich Dir schuldig bin, und auch bei meinen Gefährten auf die strikte Einhaltung einer Hausordnung dringe, die freilich dem Leichtsinn des einen und der waghalsigen Kühnheit des anderen gleich lästig und widerwärtig ist.

Und nun fragst Du, geliebtes Herz, welcher unglückliche Zufall uns denn in diese Situation, die einer Gefangenschaft nur zu ähnlich sieht, geführt hat? Es ist mit wenigen Worten gesagt.

Eine militärische Eskorte, wie sie mich bis zu der zweiten Etappe meiner Route begleitet, wäre von dort aus nur noch vom Übel gewesen. Sie würde die Aufmerksamkeit der fanatisierten Bevölkerung auf uns gelenkt und uns doch im Falle des entschlossenen Angriffes einer größeren Schar keinen hinreichenden Schutz gewährt haben. Wir verzichteten also auf jede Begleitung, packten unsere Uniformen in den Koffer – mein Freund war durch die Gnade des Kaisers, mit Überspringung der unteren Chargen, nach dem Tage von Borodino, der uns für das Leben verband, das wir uns gegenseitig retteten, zum Kapitän ernannt worden – und hüllten uns in Zivilkleider. Ein mit zwei tüchtigen Pferden bespannter Leiterschlitten sollte uns noch vor Abend nach der kleinen Stadt X. an der X.schen Grenze bringen, von wo wir nur noch zwei oder drei Tagereisen nach X. gehabt haben würden. Aber bereits in der Mitte unserer Fahrt überfiel uns ein fürchterlicher Schneesturm, der den sinkenden Tag zur Nacht und die bis dahin völlig glatte Bahn unwegsam machte. Wie wir dann vom Wege ab über die Felder, zuletzt durch Wälder hierher gekommen, wüßte ich nicht zu sagen. Aber es war die höchste Zeit, daß wir irgend wohin kamen, besonders für mich, der die Schmerzen der Wunde kaum noch ertragen konnte und durch das hinzutretende Fieber fast der Besinnung beraubt war. Wir waren eben in der kritischen Lage, in welcher man mit jedem Obdach vorlieb nimmt, die erbärmlichste Hütte dem bedrängten Reisenden wie ein Schloß, und ein Schloß, wie uns nun wirklich eines aufnahm, wie ein Feenpalast erscheint. Mich brachte man sogleich in ein Bett, in welchem ich – nun denn, ich will es nur gestehen, geliebte Sophie, mich heute nach sechs Tagen noch befinde, und an diesen Zeilen kritzele – für meinen Zustand schon viel zu lange, sagt der Freund und droht, mir die Feder aus der Hand zu nehmen. Er ist der Stärkere, auch wenn ich gesund wäre, geschweige jetzt, wo ich krank bin; ich weiche der größeren Kraft. Adieu, Geliebte, für heute!

 
Mehrere Tage später.

Es war doch für längere Zeit, daß ich es aufgeben mußte, mich mit meiner geliebten Sophie, wenn nicht im Geiste, so auf dem Papiere zu unterhalten – in der Tat, ich weiß kaum, für wie lange. Frage ich meine Empfindung, war es eine Ewigkeit, nach der Versicherung des Freundes sollen es nur ein paar Tage gewesen sein. Er hatte mir zu spät die Feder aus der Hand genommen, der liebe Freund! Wie kann ich ihm je seine Güte danken! die treue Sorge vergelten, die er mir bei Tag und Nacht widmet, er, der in allem, was ihn persönlich betrifft, keine Sorge kennt! Oh, meine Sophie, welch ein Mann ist dies! Man muß ihn lieben, um so inniger, als er sich selbst zu hassen und die wunderbarsten Gaben nur deshalb aus der Hand der Natur empfangen zu haben scheint, um sie gegen Gott zu wenden und ein Leben zu zerstören, das darauf angelegt war, eine Welt zu beglücken. Welche Widersprüche, oh, meine geliebte Sophie, in einer Menschenseele, die, wie ein Schiff auf ödem Meere, den Leitstern verloren hat und ohne Ziel und ohne Zweck in das Chaos hineinschwankt! Kann man so erhaben und so klein, so großmütig und so grausam, so gefühlvoll und so frivol, so klug und so töricht zu gleicher Zeit sein! Man muß es glauben, wenn man die intime Geschichte von dem Leben dieses Mannes kennt, wie er selbst sie mir erzählt während der langen Stunden unendlicher, durch keinen Lichtstrahl erhellter Winternächte, welche er an meinem Bette durchwachte, ohne, glaube ich, jemals die Augen zu schließen! Denn er, der jede Lust erschöpft hat, erträgt jedes Ungemach mit dem Heroismus eines Indianers und spottet der süßen Bande des Schlafes, wie jeder anderen Fessel.

Ich habe schon ein paarmal versucht, von dem Rechte der Freundschaft Gebrauch zu machen und ihn mit sanfter Gewalt zu zwingen, über diese Widersprüche nachzudenken – es war immer vergeblich. Nun noch eben hat eine kleine Szene zwischen uns stattgefunden, welche für den seltsamen Mann so charakteristisch ist, daß ich sie Dir erzählen muß.

Da in der endlosen Monotonie unseres Daseins selbst ihm, dem geistreichsten Menschen, zuletzt der Gesprächsstoff zu versiegen drohte, hatte er nach Büchern gesucht, die hier nicht zu finden waren, und endlich doch in seinem Koffer eines entdeckt, das sich aus der Bibliothek seines Schlosses durch Zufall dorthin verirrt, oder das er auch, sich eine müßige Stunde zu verkürzen, bei der Abreise mitgenommen – er konnte sich des Umstandes nicht mehr erinnern.

Indessen, da war es, und, wie mir der Freund sagte, zu unserem Glücke eines der wenigen Bücher, auf welche Deutschland mit einigem Stolze blicken kann. Ich gestehe, daß ich mir trotz dieser Versicherung keinen großen Genuß von der Lektüre versprach, und daß es in der Tat einige Zeit dauerte, bis ich derselben auch nur einigen Geschmack abgewinnen konnte. Der Freund meinte lachend, es müsse an seiner Übersetzung liegen; aber diese Entschuldigung durfte ich nicht gelten lassen; ich war im Gegenteil der Überzeugung, daß sich das Original nicht annähernd so gut ausnehmen werde, als seine improvisierte, in keinem Moment um einen Ausdruck verlegene oder gar stockende Version. Dann aber fühlte ich mich bald von einem Zauber erfaßt, der mit jeder Seite, welche der Freund umschlug, mächtiger wurde. Nie hätte ich den Deutschen ein Genie zugetraut, das sich dem eines Voltaire, eines Rousseau getrost an die Seite stellen kann, ja, wenn ich nicht irre, das Pathos des einen mit dem Esprit des anderen vereinigt und noch eine Menge literarischer Tugenden damit verbindet, welche wir bei uns in einer Schar von kleineren, wenn auch noch immer ausgezeichneten Geistern zerstreut finden. Der Freund, dem der tiefe Eindruck, welchen das eminente Werk auf mich machte, nicht entging, verriet den patriotischen Stolz, den er in diesem Moment empfand, durch das Leuchten seiner großen, blauen Augen und das Vibrieren seiner sonoren Stimme. Es war nicht möglich, etwas Schöneres zu sehen, als diesen Mann, der von dem Feuer, welches das größte Genie seiner Nation in seine empfängliche Seele strömte, über sich selbst erhoben, ja der Genius seiner Nation zu sein schien. Auf einmal stockte seine Vorlesung, seine Augen wurden feucht bei einer Stelle, in welcher ein alter, unglücklicher Mann sein Leid klagt, dessen Tiefe keiner ermessen könne, der niemals – so ungefähr lautete der Text – mit Tränen sein Brot netzte und kummervolle Nächte, auf seinem Lager sitzend, weinend verbrachte. – oh, meine heißgeliebte Sophie, hätte ich hier nicht Deiner gedenken sollen, die Du jetzt unzweifelhaft solche traurigen Nächte verbringst? nicht meiner eigenen kummervollen Lage? hätte ich meine Tränen zurückhalten können? hätte ich mich hier entbrechen können, den Freund, den ich so tief gerührt sah, daran zu erinnern, daß er selbst einer schönen, edeln, höchst liebenswerten Frau das furchtbarste Witwentum, das der Verlassenen und Verratenen, bereitet? daß er einen Sohn des Vaters beraubt, der den liebevollsten der Väter verdient hätte, und dem das Verhängnis den grausamsten aller gegeben? Oh, meine Sophie, was habe ich nicht gesagt, dieses Felsenherz zu erweichen! und was war seine Antwort, die er mir lachend gab: Ich bitte um die Erlaubnis, mit den Tränen und dem Kummer warten zu dürfen, bis ich so gebrochen bin und einen ebensolchen langen weißen Bart habe, wie der alte phantastische Schwachkopf in dem Buche – bis dahin, mein Lieber – es lebe die Freude! es leben die Weiber! es lebe der Wein! obgleich wir hier in diesem freudlosen Aufenthalt der Weiber gänzlich ermangeln, und der Wein, den uns unser Wirt bietet, ein ganz Teil besser sein müßte, bevor man ihn gut nennen dürfte.

Damit stand er auf; und jetzt höre ich ihn durch die geöffneten Türen von drei oder vier Zimmern in einem Saale, bis zu dem ich noch nicht gelangt bin, auf einem etwas verstimmten Klavier Arien aus der berühmtesten deutschen Oper des berühmtesten deutschen Maestro spielen, in denen er sich unterbricht, um einem Papagei, der sich seit gestern ebenfalls dort befindet, dieselben Melodien vorzupfeifen und ein paar französische Worte zu lehren. Er hat mir eine Wette proponiert, daß der Papagei eher Französisch lernen werde, als ich Deutsch. Oh, meine Liebe, dieser Mann wird noch am Rande des Grabes scherzen!

Aber auch bis dahin die dämonische Herrschaft nicht verlieren, die er auf jeden Menschen – ja, ich möchte sagen, auf jedes Geschöpf ausübt, das in seine Nähe kommt. Da ist der älteste Sohn unseres Wirtes, ein Junge von zehn bis zwölf Jahren, höre ich, der aber die Größe eines achtzehnjährigen Kindes hat, infolgedessen seine Erscheinung das seltsame Gemisch von Kindlichkeit und Jünglingtum ist, das man sich vorstellen kann. Ich fürchte, der Verstand des armen Jungen hat mit dem schnellen Wachstum seines Riesenleibes nicht gleichen Schritt gehalten. Er hat die treuherzigen Augen eines gutmütigen Hundes und die Scheuheit eines verfolgten Wolfes. Auch ist er während der ersten Tage nicht zum Vorschein gekommen, obgleich er stets hier in dem Schlosse sich aufgehalten hat, da seine übrigen Geschwister, deren noch sieben oder acht sind, in dem kleinen Verwalterhause an irgend einer ansteckenden Krankheit darniederliegen, und die Mutter, wie mir Baptiste sagt, täglich die Familie um ein neues Mitglied vermehren kann! Arme Leute! sie dauern mich von Herzen! Nun, jenen halbwilden Knaben, um auf ihn zurückzukommen, hat der Freund, nachdem er ihn in irgend einem Winkel entdeckt, in der kurzen Zeit so zu zähmen gewußt, daß er, wie durch ein Zaubermittel, an ihn gebannt ist, seine Gesellschaft sucht, wo und wie er kann, ja, wie ich von Baptiste erfahren, die Nächte auf einer Matte vor der Tür unseres Zimmers zugebracht hat, nur um in der Nähe des angebeteten Mannes zu sein. Auch seinen größten Schatz hat er ihm sofort gebracht – eben jenen Papagei, den, wie es scheint, die Herrschaft zurückgelassen, und der nun, ich weiß nicht mit wieviel Recht, in den Besitz des Jungen übergegangen ist. Der Junge ist ein passionierter Vogelfreund, der zur Sommerzeit – wenn es in diesem abscheulichen Lande einen Sommer gibt – mehr Stunden im Walde, fürchte ich, als in der Schule verbringt. Auch versteht er eine Menge Vogelstimmen nachzuahmen – eine Virtuosität, in welcher er vielleicht nur noch von meinem Freunde übertroffen wird, der, als ein Sohn der vogelreichsten Wälder, es in dieser seltsamen Kunst bis zur Meisterschaft gebracht hat. Man kann nichts Wunderlicheres hören, als diese beiden, wie sie sich gegenseitig zu übertreffen suchen und für das Ohr des Lauschenden, der mit geschlossenen Augen daliegt, mitten in dieser winterlichen Öde die holde Musik hervorzaubern, welche im Frühling die duftenden Wälder erfüllt. Und dabei zu denken, daß dieser Mann, der sich mit einem halb kindischen Bauernknaben so harmlos vergnügt und dessen sonores Lachen immer zwischendurch ertönt, derselbe ist, der an den Höfen der Fürsten die glänzendsten Rollen gespielt, der so viele Tränen hat fließen machen, noch fließen macht – oh, meine Liebe, diese Deutschen sind unergründlich! Gedanken und Empfindungen, die bei uns ewig nur in verschiedenen Menschen wohnen und diese Menschen durch eine Welt trennen, finden sich in einem deutschen Kopfe, in einem deutschen Herzen beieinander! Und wir glauben, dieses Volk beherrschen zu können, dessen Sprache uns so unverständlich ist wie seine Ideen!

 
Am folgenden Tage.

Endlich, endlich, meine heißgeliebte Sophie, bin ich so weit hergestellt, daß ich das Bett verlassen und, obwohl noch etwas entkräftet, auf den starken Arm des Freundes gestützt eine Promenade durch die nächsten Zimmer machen konnte. Es sind schöne Räume, die mit einem gewissen Luxus im Stile Louis quinze möbliert sind, und in denen man sich manchmal aus diesem traurigen Lande in unser eigenes Schloß an den sonnigen Ufern des Durance versetzt wähnen könnte. Brauche ich Dir zu sagen, meine heißgeliebte Sophie, wie gern meine Phantasie die Reise macht! wie mein Herz in diesen süßen Illusionen schwelgt. Ach! daß es nur Illusionen sind! aber sie werden es nicht bleiben. Die Gnade des guten Gottes, der so weit geholfen, wird weiter helfen, nicht um meinetwillen, der ich in diesen traurigen Tagen nationalen Unglücks und persönlichen Kummers seine strenge, aber gerechte Hand nur zu wohl erkannt habe, sondern eines Engels willen, den ich anbete, und in diesem Engel ihn, der ihn mir gesandt.

 
Mehrere Tage später.

Meine Prüfungen sind noch nicht zu Ende. Wir hätten reisen können, soweit es mich betraf Aber seit vorgestern ist das Unwetter, welches uns hierher getrieben und das während meiner Krankheit geruht hatte, in noch fürchterlicherer Weise abermals hereingebrochen. Entsetzliche Stürme rasen um das Haus und erschüttern es in seinen Grundfesten, ununterbrochen wirbelt der Schnee herab und türmt sich, wo er Widerstand findet, zu unglaublicher Höhe; die Wege sind unfindbar, vor allem die Seitenwege, welche wir einschlagen müßten. Wir würden keine Stunde weit kommen, versichert unser Wirt. Ich suche mich in Geduld zu fassen, aber unglücklicherweise ist die des Freundes nun plötzlich erschöpft, wie er denn immer nur von momentanen Wallungen sich bestimmen läßt. Er hat gestern mit dem Wirte einen schrecklichen Auftritt gehabt, dem ich nur dadurch ein Ende machen konnte, daß ich mich zwischen die Rasenden warf Ich durfte dem Freunde die Vorwürfe nicht ersparen, die ein so unsinniges Betragen verdiente. Sind wir doch vollständig auf die Willfährigkeit dieses Menschen angewiesen! Sind wir doch gezwungen, ihm zu vertrauen! und hat er sich doch bis jetzt dieses Vertrauens nicht unwürdig gezeigt durch seine rauhe und wortkarge, aber kluge und vorsichtige Gastfreundschaft! Wie mag man einen Menschen reizen, dessen Freundschaft uns notwendig, dessen Feindschaft uns verderblich werden muß? und der ganz gewiß nicht zu jenen gehört, die man ungestraft reizen und beleidigen darf: ein halbwilder, riesenhafter Mann, von herkulischer Stärke, unter dessen blondem Haargewirr hervor ein Paar blauer Augen für gewöhnlich düster niederwärts blicken, um gelegentlich Blitze zu schleudern oder, – wie gestern in dem Streite mit dem Freunde – fürchterliche Flammen des Zornes zu sprühen, die mich schaudern machen. Dazu kommt noch ein Umstand, der meine Sorge erhöht. Meine Liebe: der Mann ist arm, die Not, mit der er wohl stets gerungen, liegt in schweren Falten auf den harten, von der Natur groß und sogar schön gedachten Zügen; aber jetzt ist das Elend seiner kranken Familie grenzenlos, und – er weiß – ich wage es kaum niederzuschreiben, Baptiste hat es mir erst jetzt gestanden: in der Schreckensnacht unserer Ankunft, als der Freund den Kranken in das Haus geleitete, mußte ein wichtiges Stück unseres Gepäcks der Sorge Baptistes anvertraut bleiben. Weder ich, der ich halb besinnungslos war, noch der Freund, der seine liebevolle Sorge ganz mir widmete, hatten bedacht, daß eben jenes Stück, welches der Freund sonst nicht aus den starken Händen ließ, den um so viel schwächeren Baptistes entgleiten würde. Er hatte die Hilfe des Wirtes in Anspruch nehmen müssen, für den freilich auch eine größere Last Kinderspiel wäre. Aber er war denn doch über die Schwere des Koffers verwundert gewesen, er hatte Fragen gestellt, welche Baptiste beantwortete, so gut seine Verlegenheit und sein gebrochenes Deutsch es verstauen wollten. Baptiste sagt, er zweifle nicht, daß der Mann, dessen Verstand gewiß nicht schlecht ist, sehr genau wisse, was der Koffer enthält, der jetzt zu Füßen meines Bettes steht.

Baptiste hat mir bei dieser Gelegenheit noch ein Bekenntnis gemacht, dessen Inhalt wahrlich nicht geeignet ist, meine Sorge zu verringern.

Es existiert hier in dem Schlosse eine junge Person, welche für gewöhnlich der kinderreichen Frau des Verwalters in der Wirtschaft an die Hand gehen mag, und die er zu unserer ausschließlichen Bedienung bestimmt hat. Sie ist vom ersten Abend hier gewesen und hat das Schloß seitdem nicht wieder verlassen; die nötigen Lebensmittel werden in der Nacht von unserem Wirte selbst herbeigeschafft, und er versichert, daß es gelungen sei, das Geheimnis unserer Anwesenheit vor aller Welt, selbst vor den Leuten des Gutshofes, zu bewahren, die nicht anders wüßten, als daß jener Sohn, dessen ich Erwähnung getan, nebst der Haushälterin, um der ansteckenden Krankheit der Pächterwohnung zu entgehen, einen zeitweiligen Aufenthalt in dem Schlosse gefunden. Du siehst, meine Sophie, es war auf alles klüglich Bedacht genommen, nur darauf nicht, daß für die Augen einer eifersüchtigen Liebe kein Geheimnis existiert. Eben jene junge Person aber wird von einem Burschen der Nachbarschaft leidenschaftlich geliebt. So hat sie selbst Baptiste gleich am ersten Tage anvertraut, sei es, um sich in den Augen des Frechen ehrwürdiger zu machen, sei es, um seine Begehrlichkeit noch mehr zu entflammen, Baptiste behauptet das letztere, und daß sie es an keiner bäuerlichen Koketterie habe fehlen lassen, ihn auf eine Probe zu stellen, der sein Leichtsinn freilich nicht gewachsen war. Er würde mir unzweifelhaft diese Episode seines Lebens so wenig gebeichtet haben, wie unzählige ähnliche, wäre nicht ein Umstand dazugekommen, durch welchen leider dieses törichte Abenteuer zu einer sehr ernsthaften Angelegenheit für uns zu werden droht, wer weiß es, bereits geworden ist. Der Ort ihrer Rendezvous ist ein Zimmer gewesen zu ebener Erde, aber hoch genug gelegen, daß, wäre selbst jemand in dem schneeerfüllten Garten, auf welchen das einzige Fenster geht, vorübergekommen, er keinen Blick in das Innere hätte werfen können. Nun haben sie aber die Unvorsichtigkeit so weit getrieben, nicht einmal die Gardinen zu schließen, bis plötzlich gestern abend durch die unverhüllten Scheiben ein Gesicht hereinschaut, um dann sofort wieder zu verschwinden. Zum Überfluß kreischt das erschrockene Mädchen laut, und Baptiste reißt das Fenster auf, dem Neugierigen, dessen dunkle Gestalt eben in die Büsche taucht, einige Soldatenflüche nachzusenden. Das Mädchen kann nicht behaupten, daß der Indiskrete ihr Geliebter gewesen, aber der Verdacht liegt nur zu nahe –

 
Einen Tag später.

Ist es das ungeheure Unglück, welches über unser Vaterland hereingebrochen, und dem – ich bin davon überzeugt – noch weiteres namenloses Leid folgen wird; ist es die Krankheit, welche meine Jugendkraft geschwächt; ist es die fürchterliche Situation, in welcher wir uns einem unbekannten Schrecklichen verteidigungslos gegenüberbefinden – ist es, meine heißgeliebte Sophie, nur der Gedanke an Dich – ich weiß es nicht, aber mein Geist ist verdüstert, und mein Herz ist schwer. Darf ich mich darüber wundern, wenn selbst die scheinbar unverwüstliche Spannkraft des Freundes den auf uns lastenden Druck der Sorge nicht mehr tragen kann?

Er will es natürlich nicht zugeben; er lacht, wenn ich von Sorge spreche; aber sein Lachen klingt weniger sonor, und wenn er sich unbeachtet glaubt, bemerke ich wohl den düsteren, verlorenen Blick seiner sonst so strahlenden Augen. Sein Wesen hat sich seit dem Streite mit unserem Wirte verändert; an die Stelle der souveränen Rückhaltlosigkeit, mit welcher er früher seine Gedanken und Empfindungen äußerte, ist eine gewisse schweigsame Scheu getreten, die mich beängstigt; ja, er, der stets zu allem, was er tat, so toll es auch manchmal war, die Welt zu Zeugen herbeizurufen schien, verbirgt sich vor mir, den er den einzigen Freund nennt, welchen er jemals besaß. Dafür hat er mir vor einer Stunde den Beweis geliefert.

Er hatte sich aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer entfernt, wie ich glaubte, um in dem Gartensaale zu musizieren oder mit seinem jungen Freunde und dem Papagei sich in gewohnter Weise zu unterhalten. Aber er blieb länger aus als gewöhnlich, und ich vernahm weder sein aus Vorsicht stets gedämpftes Spiel, noch eine von den Possen, bei denen es manchmal nur zu laut hergeht. So trieb mich denn eine Unruhe, die ich nicht bemeistern konnte, durch die dazwischenliegenden Zimmer nach dem Saale, in dessen halboffener Tür ich verwundert stehenblieb. Der Knabe war da, aber hielt sich still in einer Ecke, die großen, wunderlichen Augen starr auf den angebeteten Mann gerichtet, welcher an einem Sekretär saß, dessen besondere Zierlichkeit mir schon früher aufgefallen war, wie denn das ganze Gemach mit vorzüglich reichem Geschmack möbliert ist. Vor ihm lag ein Papier, auf welchem er geschrieben zu haben schien, denn er hatte die Feder noch in der hohlen rechten Hand, während er mit Daumen und Zeigefinger von der linken Hand einen Ring zog, den er für gewöhnlich trägt, weil in dem Stein – einem Smaragd von ungewöhnlicher Schönheit – ein Wappen eingraviert ist, mit welchem er zu siegeln pflegt. Er sagte mir gelegentlich, daß es nicht das Wappen seiner Familie, sondern das seiner Frau sei, welche ihrerseits einen gleichen Ring mit seinem Wappen trage, und daß diese Ringe bei der Verlobung zwischen ihnen ausgetauscht worden. Diesen Ring nun betrachtete er in tiefem Nachdenken, um denselben dann an seine Lippen zu drücken und abermals zu betrachten, während ein tiefer Seufzer zu meinen Ohren drang. Ich hoffte, mich unbemerkt, wie ich gekommen, zurückziehen zu können, mußte aber doch ein Geräusch gemacht haben, denn er warf den Ring und das Blatt vor ihm in ein offenes Fach des Schrankes, das er hastig zuschob, indem er sich zugleich mit verstört ärgerlicher Miene erhob. Ich bat um Entschuldigung, wenn ich gestört habe, und entfernte mich sogleich. Er kam mir aber sofort nach und sagte lachend: Wissen Sie, woran ich eben geschrieben? An meinem Testament! Es ist mir heute eingefallen, es könnte doch einmal mit mir ein schnelles Ende nehmen, und da ich gerade über einiges zu verfügen habe, möchte ich, daß es nicht nur in die rechten Hände komme, sondern daß man auch erfahre, ich habe die Absicht gehabt, einiges wieder gut zu machen, was ich schlecht gemacht. Ich werde Ihnen das Dokument anvertrauen, wie in Ihrer Kasse mein Vermögen deponiert ist. – Sollte meine Chance eines schnellen Endes minder groß sein, als die Ihre? erwiderte ich. – Pah, sagte er; Sie sprechen doch nicht von der albernen Geschichte hier? Was wollen Sie, wenn man uns totschlagen wollte, hätte man hier in dem verlassenen Schlosse doch wahrlich die beste Gelegenheit! Unser Wirt ist ein grober Kerl, aber er ist deshalb noch kein Schurke und weiß recht gut, wir sind trotz unserer Zivilkleider bis an die Zähne bewaffnet. Sie können jetzt Ihre Pistolen so gut handhaben wie ein anderer; und Baptiste, ein so großer Nichtsnutz er ist, fürchtet sich vor dem Teufel nicht. Glauben Sie mir: mit drei Männern wie wir bindet man so leicht nicht an. – Aber weshalb läßt man uns nicht fort? fragte ich. – Ich glaube, erwiderte er, es war bisher wirklich unmöglich; der Schnee mußte sich erst ein wenig setzen, die Wege mußten erst ein wenig aufgeräumt werden. Dann ist noch ein anderer Umstand, den mir unser Wirt vorhin mitgeteilt hat. Die Stunde seiner Frau kann jeden Moment eintreten. Dürfen wir es dem armen Schelme verdenken, wenn er sich unter solchen Umständen nicht eben weit vom Hause entfernen will? Er möchte uns deshalb auch nicht, wie er anfangs versprochen, bis nach X., sondern nur bis zu seinem Nachbarn bringen, der uns dann weiterfahren soll. – Aber, rief ich, so ist ja das Geheimnis, das wir bisher so streng gehütet, rettungslos kompromittiert! – Ich fürchte, das ist es schon seit der Affäre des Baptiste, erwiderte er, fügen Sie sich in das Unvermeidliche! Jener Nachbar ist bereits im Schlosse, damit wir ihn kennen lernen. Wenn Sie einverstanden sind, können wir morgen nacht schon fahren.

 
Eine Stunde später.

Ich habe den Mann gesehen, dem wir uns anvertrauen sollen, sobald uns unser Wirt bis zu dem nächsten Gute, dessen Verwalter oder Pächter eben jener Mann ist, gebracht hat. In meinen Leben sah ich keinen Menschen, dem ich mich weniger gern anvertraut hätte! keinen, der aus so hündischen Augen überall hingeblickt, nur nicht in die Augen dessen, der mit ihm spricht! keinen, dessen grobsinnliche Lippen zu einem so widerwärtigen Lächeln so beständig verzerrt gewesen wären. Ach, meine Sophie, ich fürchte die hündische Demut dieses Menschen viel mehr als die Rauheit unseres Wirtes, viel mehr als die Gefahren einer Winterreise auf Schleichwegen durch ein feindliches Land, von dessen brutaler Bevölkerung das Schlimmste zu befürchten steht. Und daß der kühne Freund meine Befürchtungen teilt, hat er mir soeben bewiesen. Einer der verwegensten Spieler der Armee, ist er während des ganzen Feldzuges von fortwährendem Glück begleitet gewesen. Er will die große Summe, die er in meiner Kasse hat – es sind 400 000 Francs in Billetts – den Wölfen opfern, wie er sagt, um das übrige, das ich nicht angreifen darf, zu retten. Ich kann das Opfer nicht annehmen. Das Geld gehört nicht mehr ihm, wie er selbst zugesteht. Es ist ungefähr die Summe, durch die er sich von einem schmählichen Vertrage loskaufen kann, den er zuungunsten seiner eigenen Familie mit einem Vetter auf Widerruf geschlossen hat. Diesen Widerruf hat er vorhin aufgesetzt und ihn eben von mir und Baptiste unterschreiben lassen. Er sagt, daß der Widerruf, ebenso wie die Rückzahlung des Sündengeldes, an keine Zeit gebunden sei, da der Vetter wohl von der Ansicht ausgegangen, für den Verschwender werde diese Zeit niemals kommen – gleichviel! ich will, ich darf mich nicht retten auf Kosten einer unschuldigen Frau, eines unmündigen Sohnes, die durch diesen Mann nur schon zu viel gelitten haben – es hieße, mich zum Mitschuldigen einer Freveltat machen!

So möge denn Gottes Wille geschehen! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wir sollen nicht morgen – wir sollen in einer Stunde aufbrechen? Es gilt, einem Überfall zuvorzukommen, welchen jener betrogene Geliebte der Haushälterin auf morgen geplant hat. So sagt mir Baptiste, der es soeben von dem Mädchen gehört, die es wieder in der vergangenen Nacht von ihrem Geliebten erfahren, mit dem sie sich scheinbar ausgesöhnt. Das erbärmliche Geschöpf, das für ihren neuen Liebhaber eine ernstliche Neigung zu haben scheint, ist außer sich. Ich glaube, sie meint es ehrlich, ich muß ihr vertrauen. Sie hat versprochen – und wenn es ihr das Leben kostete – diesen Brief durch eine Gelegenheit, die ich nicht begriffen, nach unserer letzten Etappe zu befördern. Sie muß ihn augenblicklich mit fortnehmen, da später keine Gelegenheit sein würde, ihn in ihre Hände zu spielen. Ich kann dir nur noch Adieu sagen. Weshalb auch mehr! es sagt ja alles! Adieu, Heißgeliebte, adieu! adieu! –«


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