Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Viertes Buch

Erstes Kapitel.

Die Sonne war an einem völlig wolkenlosen Himmel strahlend aufgegangen; wohin das Auge schaute, erglänzte die Erde in ihrem machtvollen Lichte. Aus den Roggenstoppeln, in den goldigen Weizenbreiten tönte durch die stille, heiße Luft unablässig das Zirpen und Schwirren der Zikaden; in den kühligen Laubschatten der Bäume und Büsche des Parkes jubilierten die Vögel – es schien eitel Schwarzseherei, heute an die Möglichkeit eines Gewitters zu glauben, ja, nur daß sich am Nachmittage die Wolken im Süden wieder türmen würden, wie sie es nun bereits seit fünf Tagen getan. Und täten sie's – nun, Vadder Deep versicherte, so würden sie sich gegen Abend verziehen, wie die anderen Tage; er erinnere sich, daß dergleichen wochenlang gedauert und das Barometer dabei noch tiefer gestanden wie heute, ohne daß es zum Ausbruch gekommen; er verstünde sich besser auf das Wetter, als die dummen Barometer.

Vadder Deep war heute morgen schon in aller Frühe erschienen, ein bißchen nach dem Rechten zu sehen. In der Tat hatte Julie ihn von Retzow holen lassen; ihr Gatte war gestern nicht zurückgekehrt, es wurde fraglich, ob er überhaupt sich zum Feste einstellen werde; Herr Klempe war bereits seit gestern in einem unzurechnungsfähigen Zustande, und der Baron hatte sich, nachdem er ausgeritten, auf sein Zimmer begeben und nicht einmal zum gemeinschaftlichen Frühstück eingefunden, bei dem es auf Rechnung des Tages ganz besonders lustig herging.

Gerhard konnte sich davon überzeugen, da das Frühstück in der großen Laube eingenommen wurde. Es war nicht seine Schuld, wenn er nicht fröhlich sein durfte mit den Fröhlichen!

Zwar den erdrückenden Alp unaussprechlichen Leides, der gestern abend sein Herz belastet, hatte der holde, allzeit willige Gefährte der Jugend und der Kraft, ein kurzer, traumlos tiefer Schlaf, von ihm genommen. Ja, er empfand heute morgen eine Ruhe, über die er erstaunt war, bis er sich klar wurde, daß sie die Folge eines Entschlusses war, den er unbewußt bereits gestern trotz des Aufruhrs seiner Seele in sich getragen und den die stille Nacht nur gereift hatte.

Völlig gereift, obgleich er ihn in zwei Briefen an seine Brüder noch in die Form einer Frage brachte:

»Würdet ihr unseren Großvater, dessen vorzeitiges, schmähliches Ende mir der wunderbarste Zufall entdeckt hat, rächen wollen, wenn es nur auf Kosten unschuldiger Menschen, zumal eines edelsten Mädchens geschehen könnte, das euer Bruder liebt?«

Er durfte der Antworten auf die beiden gleichlautenden Briefe bald entgegensehen. Fritz wollte seine Ferien in Bonn zubringen, um, nachdem er eben erst glänzend promoviert, sofort an einer Preisaufgabe für den Herbst zu arbeiten; von Max hatte er, als er gestern abend nach Hause kam, einen Brief vorgefunden, den jener bereits aus München geschrieben, wohin er vor wenigen Tagen zurückgekehrt war, da er lange genug, zu lange für des Bruders Börse, unter Palmen gewandelt. – Er war über diese Nachricht im ersten Augenblicke sehr betreten gewesen; er hätte dem Bruder so sehr einen längeren Aufenthalt in dem gelobten Lande der Kunst gegönnt; und der Gedanke, daß jenen ein rechtzeitig abgesandter Brief vielleicht doch noch in Rom gefunden und gehalten hätte, vermehrte die unbehagliche Empfindung. Nun freilich sah er in der übereilten Rückkehr seines Lieblings fast einen Wink des Schicksals, das ihn in seiner Herzensnot nicht allein lassen wollte, ihm den Treuesten der Treuen seinen Wünschen, seiner Sehnsucht erreichbar gemacht.

Die Briefe an die Brüder hatte er zu größerer Sicherheit selbst nach Radebas auf die Post gebracht und war mit einem dritten in der Tasche nach Kosenow hinübergeritten. Unter dem Torwege hatte der alte Kutscher Johann Ewers gestanden; dem hatte er den Brief für Fräulein Edith anvertraut, und Johann Ewers hatte versprochen, ihn sogleich zum Fräulein zu bringen, die schon auf sei; ob der Herr Baron nicht hereinkommen wolle? Gerhard hatte es abgelehnt und sich nach dem Herrn erkundigt. Der Herr war während der Nacht im Vogelhause gewesen, wie auch die beiden Nächte vorher; aber gleich nach Sonnenaufgang wieder zu Walde gezogen. Daß der Herr, selbst wenn er im Laufe des Tages zurückkehrte, an der Gesellschaft bei den Hünengräbern teilnehmen werde, schien Johann Ewers völlig undenkbar; aber Fräulein Edith habe den großen Wagen zurechtzumachen befohlen, also werde sie doch hinfahren wollen, obgleich er, Johann Ewers, nicht wisse, was das zu bedeuten habe. Fräulein Maggie sei noch immer in Basselitz und werde auch wohl sobald nicht wiederkommen, da sie sich gestern durch die Kammerfrau der Frau Baronin einen ganzen Koffer voll Sachen habe holen lassen.

Gerhard war bereits entschlossen gewesen, unter irgend einem Vorwande von dem Feste fern zu bleiben. Nun konnte davon nicht mehr die Rede sein, obgleich er selbst für Ediths Entschluß keine Deutung fand. Aber da alles, was sie tat, gewiß recht und gut war, mußte er sich darein fügen, so schwer es ihm fiel, sein einsames Zimmer zu verlassen und sich zu der Gesellschaft in der Laube zu begeben, von der er denn auch auf Anregung Spatzings, der ihn über den Rasenplatz hatte kommen sehen, mit Hurra und geschwungenen Champagnergläsern empfangen wurde. Spatzing hatte Julien vorgestellt, daß an einem solchen Sonn- und Festtage gar nichts anderes als Champagner getrunken werden dürfe, und Julie war durchaus seiner Meinung gewesen.

»Aber freilich«, sagte Julie, indem sie Gerhard nach der stürmischen Begrüßung etwas auf die Seite zog, »jetzt erst wird der Tag für mich wahrhaft zum Feste. Ich glaube, ich hätte keinen Augenblick vergnügt sein können, wäre der fern geblieben, an den ich doch im stillen bei allen diesen unendlichen Arrangements und Mühen immer nur gedacht habe. Sie brauchen mich nicht so erschrocken anzusehen; es ist die harmloseste Eitelkeit von der Welt: ich bilde mir ein, daß ich die Macht besitze, lauter fröhliche Herzen und Gesichter um mich her schaffen zu können. Sie haben diese meine Macht während der letzten Tage auf eine harte Probe gestellt, und so ganz unnötigerweise! Hören Sie!«

Sie legte ihren Arm in den seinen und führte ihn noch ein paar Schritte seitwärts:

»Ich hatte heute morgen abermals ein Briefchen von Maggie – ein so herziges Briefchen! Sie kommt – natürlich! wie würde sie ausbleiben! – aber sie kann es nicht hindern, daß sie mit der Baronin und – nun seien Sie einmal wirklich gut! – mit Lafing kommt! Sie bittet, sie beschwört, sie fleht Sie an, ihr nicht anrechnen zu wollen, was zu verhindern sie ja gar nicht die Macht hat. Ich habe ihr geantwortet, daß ich mich für den edelsten, den feinfühligsten der Männer verbürge. Wird mich dieser Mann Lügen strafen?«

Ein lauter Lärm, halb Jubel, halb Zank, von der Laube her enthob Gerhard der leidigen Antwort. Pastor Pahnks waren angekommen. Tining und Lining hatten erklärt, daß sie in der alten Kalesche des Vaters unmöglich zu einem solchen großartigen Feste fahren könnten und lieber zu Hause bleiben wollten, wenn es nicht anders zu machen wäre. – »Und nun meinen Tining und Lining«, sagte der kleine, dicke Pastor, »es wäre eben anders zu machen, wenn die Kantzower Herrschaften die Güte hätten, meine Alte und mich und die beiden Gören auf ihre Wagen zu verteilen.«

Julie war sofort bereit: Herr und Frau Pastor sollten zu ihr in den Wagen kommen, nebst dem Herrn Baron, während ihr Mann, wenn er ja noch zurückkehrte, mit Salchen und Tining und Lining in den zweiten müßten, aus dem dann die jungen Herren in einen dritten zu wandern hätten –

»Der leider nicht da ist, meine Gnädige!« rief Spatzing, »oder doch nur in einer Form, die mir wiederum Kantzows, das durchaus heute den Vogel abschießen muß, nicht würdig scheint.«

In dieser Lage der Dinge, die von allen Seiten als eine sehr schwierige, ja verzweifelte bezeichnet wurde, kam, als Retter aus der Not, Herr Bagdorf von Bulitz. Er hatte ursprünglich nur um die Erlaubnis nachsuchen wollen, sich den Kantzowern anschließen zu dürfen; nun sei er überglücklich, wenn er den Herrschaften bei dieser Gelegenheit einen Dienst leisten könne, der für ihn – den einsamen Insassen seines großen Wagens – eine wahre Wohltat sei.

Herrn Bagdorfs Anerbieten wurde dankbar angenommen; aber wenn auch so drei vortreffliche Plätze, auf die man in keiner Weise gerechnet, hinzukamen, so fehlte doch immer noch ein vierter, den ausfindig zu machen jeder mit einem anderen Vorschlage herbeikam, bis Gerhard auf das bestimmteste erklärte, daß er reiten würde, und sich auch in diesem Entschlusse durch keine Vorstellungen und Bitten, zuletzt auch nicht durch das Schmollen Juliens abbringen ließ. – »Sie wollen nicht mit mir fahren«, sagte Julie, »gehen Sie! ich habe auf Dank nie gerechnet!«

Die Abfahrt war auf den Glockenschlag drei festgesetzt; aber es war bereits zwei, als man noch immer in der Laube an dem Frühstückstische saß, bis Julie meinte, daß die Damen sich jetzt, um Toilette zu machen, zurückziehen müßten. In dem Augenblicke, als sie sich erhob, schlug ein plötzlicher Wirbelwind die Zipfel des Tischlakens übereinander, daß die schlanken Gläser zum größten Teile umfielen und zerbrachen; zugleich zeigten sich über dem Dache des Hauses die gleißenden Zinken und Zacken der Wetterwand. Spatzing schlug vor, den alten Bekannten, dessen Harmlosigkeit man nun doch genügend erprobt, mit dem letzten Reste der Flaschen ein Hoch zu bringen, das er selbst intonierte und in das die anderen jubelnd einstimmten. Da nicht mehr für alle Gläser vorhanden waren, mußten einige Damen sich dazu verstehen, an den Gläsern der Herren zu nippen, während diese wieder sich um die Gläser rissen, woraus die Damen getrunken. Spatzing, der auf einen Stuhl gestiegen, rief, daß so geweihte Gefäße nie wieder in profanen Gebrauch genommen werden dürften und forderte die Herren auf, nicht gefühlloser wie der Wirbelwind, aber ebenso schnell und energisch zu sein, indem er bei diesen Worten sein Glas auf den Boden zu den bereits zerbrochenen schleuderte. Die anderen folgten jauchzend seinem Beispiele, während Gerhard Herrn Zempin entgegenging, der, eben zurückgekehrt, verwundert über den Lärmen, in den Garten getreten war.

»Was bedeutet dies Scherbengericht?« fragte er.

Gerhard antwortete nicht. Herrn Zempins Miene war, trotzdem er die Frage lachend gerufen, finster wie die Wetterwolke hinter ihm über dem Dache seines Hauses; und Gerhard hatte, als er die Gläser auf dem Boden klirren hörte, an das zersprungene Glück von Edenhall denken müssen.


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