Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel

Die Meute hatte sich über den Hof zerstreut oder war dem Herrn gefolgt; nur der alte Neufundländer war zurückgeblieben und blickte, die buschige Rute sanft bewegend, zu Gerhard auf. Gerhard mußte lachen. Sah es doch gerade aus, als wollte das gute, verständige Tier den Fremden um Entschuldigung bitten, wenn die Menschen sich hier ein wenig wunderlich gebärdeten!

Da stand er wieder auf dem einsamen Hofe, allein, wie er ihn vor kaum einer Stunde betreten; und er sollte seinen Weg zur Gesellschaft in den Garten allein finden, wie vorhin in das Haus! War es nicht klüger zu warten, bis Herr Zempin sich um- oder vielmehr angezogen? aber das dürfte leicht länger dauern, als einige Minuten, und zu versuchen, ob er des Alten wieder habhaft werden könne, verlohnte sich wohl nicht der Mühe. Welch rätselhafte Erscheinung dieser zugeknöpfte, schweigsame Blaurock! welch fabelhafte Gestalt der halbnackte Riese, der sein Herz so offen trug wie die zottige Brust, und anstatt von Frau und Kindern und Haus und Hof zu sprechen, sich in der ersten Minute über die fernliegendsten Dinge mit wortreicher Leidenschaftlichkeit erging! Hatte er wirklich seine Absicht, den Kutscher zu strafen, über den Raubvogel vergessen, wie er es den unschuldigen Hund entgelten ließ, daß der Alte ihm die Büchse nicht schneller gebracht? Er schien sich auf seine Geschicklichkeit im Schießen nicht wenig zugute zu tun: einen Taubenkopf auf zweihundert Schritt!... Freilich mit den Händen, die wie ein Schraubstock fassen! und mit den blitzenden Augen! Welch ein Kraftmensch! ja, und welch ein Prachtmensch! als hätte die Natur ein halbes Dutzend zusammengeschmolzen, um einmal einen ganz nach ihrem Sinne zu formen! Und seine Freude bei dem Empfang war gewiß echt: der Mann kann nicht heucheln! und wie schmeichelhaft ist diese Freude für mich! da darf ich wohl, ohne mir etwas zu vergeben, über einen gelegentlichen Mangel landesüblicher Höflichkeit gelassen wegsehen; oder übt man Höflichkeit hierzulande nicht? und überläßt deinesgleichen, die Honneurs zu machen? Nun, ich werde es alsbald erfahren!

Gerhard war, immer von dem Hunde begleitet, an der Giebelseite des Hauses und dann, an der hohen, dichten Hecke hinschreitend, bis zu dem ihm bezeichneten Pförtchen gelangt. Es kostete einige Mühe, die schief in den Angeln hängende Holzgittertür zu öffnen, während der Neufundländer, der sich irgendwo durch ein Loch in der Hecke gezwängt hatte, seinen Bemühungen von der anderen Seite teilnahmvoll zuschaute, um, sobald er eingetreten, das Kunststück bei einer zweiten, nicht minder hohen und dichten Hecke zu wiederholen, die mit der ersten parallel lief. Nun verläßt mich der auch noch! dachte Gerhard.

Jene zweite Hecke mußte nach dieser Seite die Grenze des Spielplatzes bilden; wenigstens hörte der junge Mann das Lachen und Rufen der Gesellschaft jetzt aus nächster Nähe. Aber vergeblich spähte er nach einem für Menschen praktikabeln Durchgang: die Hecke war ohne Unterbrechung und blieb ohne Unterbrechung, obgleich er nun bereits in dem schmalen Gang eine ganze Strecke fortgewandert.

Schon war der fröhliche Lärm hinter ihm verstummt, und nun mündete der Gang, anstatt nach rechts in den offenen Garten, geradeaus in ein Wäldchen von halbwüchsigen Tannen und Lärchen, durch deren schlanke Baumstämme die untergehende Sonne hier und da glutrote Lichter warf. In dem dichten Nadeldach oben, durch dessen Lücken der tiefblaue Himmel hoch hereinschaute, sang eine Amsel in leisen, süßen Tönen ihr melancholisches Lied. Ein dürres Ästchen auf dem mit trockenen Nadeln bedeckten Pfad knackte unter Gerhards Fuß; die Amsel verstummte, und eine Dame, die wenige Schritte davon in einer Art von Laube, die viereckig in den Tann geschnitten war, auf einer Bank gesessen hatte, richtete sich lauschend empor, erhob sich vollends, trat aus der Laube und stand jetzt vor Gerhard.

»Verzeihung, gnädige –«

Unzweifelhaft war es dieselbe Dame, die er vorhin an dem Kinderwagen mit dem Kinde beschäftigt gesehen; er hatte sie sofort an der dunkeln Kleidung, dem reichen, braunen Haar und der schlanken Gestalt wiedererkannt; aber das war unmöglich Frau Zempin!

»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein«, verbesserte er sich, »wenn ich Ihre Einsamkeit störe. Es ist nicht ganz meine Schuld. Ich irre hier als ein Fremder in dem Garten umher und würde Ihnen wahrhaft dankbar sein für einen Fingerzeig, der mich zur Gesellschaft weist, die ich aufsuchen soll, und zu der ich nicht gelangen kann. Unterdessen verstatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen.«

Er nannte seinen Namen.

Absichtlich hatte er die Ansprache ein wenig länger gemacht, um der jungen Dame Zeit zu lassen, sich von der Verwirrung zu erholen, in die sie sein plötzliches Erscheinen offenbar versetzt hatte. Ihre Blicke irrten scheu seitwärts; die zarten, im ersten Moment wie vor Schrecken bleichen Wangen waren von einem lebhaften Rot übergossen.

»Ich muß fürchten, daß Ihnen mein Name völlig fremd ins Ohr klingt«, fuhr Gerhard fort; »und daß mithin eine Erläuterung –«

»Nein, nein!« sagte das junge Mädchen; »ich weiß – wir sind ja alle längst auf Ihre Ankunft – ich wundere mich nur, daß Sie so allein – haben Sie denn meinen Onkel – Tante Julie – ich sah sie freilich noch vor kurzem im Garten –«

Die Stimme klang süß und leise; und als sie jetzt plötzlich abbrach, war es wie vorhin, als die Amsel schwieg.

»Ihren Herrn Onkel habe ich bereits gesprochen«, sagte Gerhard; und erzählte dann, wie er von Herrn Zempin auf das gütigste empfangen worden, und wie er sich, jedenfalls infolge seiner Ungeschicklichkeit oder Unachtsamkeit, bis in diesen abgelegenen Teil des Garten verirrt habe.

»Wie unangenehm für Sie!« sagte das junge Mädchen.

»Gar nicht«, erwiderte Gerhard heiter; »ich habe sogleich ein Stück des Terrains kennengelernt, auf dem ich mich doch nun bewegen soll; und wenn ich nun bei diesen Terrainstudien, wie ich nur zu sehr fühle, einer freundlichen Führung in jeder Beziehung dringend bedürftig bin, so wüßte ich nicht, wie ich es glücklicher hätte treffen sollen.«

Gerhard lüftete, wie um seinem Kompliment Nachdruck zu geben, stehenbleibend den Hut; eigentlich aber wollte er die Gelegenheit wahrnehmen, seiner Begleiterin in das Gesicht zu schauen, das er nun, da sie aus dem Halbdunkel der Tannen traten, zum ersten Male von dem Widerschein der Abendglut hell beleuchtet sah. Es war kein eigentlich schönes, ja nicht einmal regelmäßiges Gesicht; aber auf den feinen, bleichen Zügen lag ein Zauber von Anmut und Güte, der Gerhard um so inniger rührte, als selbst ihr Lächeln etwas Schwermütiges, ja Kummervolles hatte.

Sie hob, wie der junge Mann gewünscht und erwartet, die Augen – große, graublaue Augen, die so gütig und mild, aber auch so ernst und nachdenklich blickten, daß er verwirrt, ja gewissermaßen beschämt die seinen senkte: man mußte in der Tat sehr selbstbewußt sein, wenn man vor diesen Augen bestehen wollte!

Er hatte keine Antwort auf seine Frage erwartet, dennoch ängstigte ihn ihr Schweigen, als sie jetzt einen geschlängelten Pfad durch eine Wiese schritten, deren in Samen geschossenes Gras fast so hoch war, wie die niedrige Hecke links, die nach dieser Seite den Garten gegen die Felder abschloß. Jenseits der Felder im Norden zog sich der Wald in manchen Krümmungen hier überall näher, als von der Landstraße aus, aber immer noch so weit, daß er nur als einförmiger, dunkler Rahmen das Bild begrenzte. Gen Westen über dem freien Felde und über einem weit nach Süden vorspringenden Ausläufer des Forstes hing die Abendglut, jetzt nicht mehr purpurn, sondern tief safranfarben, während der Himmel über ihr grünlich schien und nur noch im Zenit seine tiefe Bläue bewahrte. In dem hohen Weizen an der Hecke warnte und lockte der Rebhahn; süßer Würzduft aus Wald und Feld und Wiese und Garten erfüllte die weiche, regungslose Luft.

»Wie schön dies ist!« sagte Gerhard.

»Es freut mich, daß Sie es finden«, erwiderte das Mädchen.

»Finden Sie es denn nicht?«

»Gewiß, aber dafür ist es meine Heimat, und es wäre schlimm für mich, wenn ich die nicht liebte; kenne ich doch nichts weiter von der Welt! Dort hinüber – in der tiefsten Einbiegung, fast schon im Walde – liegt Kosenow, wo wir wohnen; Sie werden die Dächer eben noch sehen; für uns geht die Sonne immer eine Stunde früher unter. Die Weiden dort stehen auf der Grenze zwischen den beiden Gütern. Links in dem breiten Einschnitte zwischen unserem Walde, der Schwanheide, und dem Buchwalde, der Uhle – das ist Retzow; mein Vater und der Onkel bewirtschaften es gemeinschaftlich. Die Felder von Retzow schieben sich zwischen Kosenow und Kantzow herein bis an die Weiden. Rechts von den Weiden, das Kirchdorf, das ist Zarnewitz – ein Herr Sallentin wohnt da. Seine Familie ist heute hier; auch der Pastor Pahnk mit Frau und Tochter; dort – aber ich langweile Sie mit all den Namen, die Sie ja doch nicht auf einmal behalten können.«

»So sagen Sie mir nur noch einen«, rief Gerhard lachend; »und ich versprechen Ihnen, daß ich den ganz gewiß behalten werde!«

»Welchen?«

»Ihren eigenen.«

»Ich heiße Edith.«

»Ein schöner Name und ein seltener.«

»Ich verdanke ihn meiner verstorbenen Mutter. Sie war vor ihrer Heirat mehrere Jahre in England gewesen – als Erzieherin – und hatte wohl die Sprache und die Namen sehr lieb gewonnen. Meine Schwester – wir sind unserer zwei Geschwister – hat einen noch weniger häufigen Namen –«

»Maggie!«

»Woher wissen Sie das?« fragte Edith erstaunt, »aber gewiß hat Ihnen Herr Stude –«

»Mein allzu leichtlebiger Freund hat mich über die Namen der Familie ebenso im dunkeln gelassen, wie über tausend andere Dinge, die zu wissen mir wünschenswert, ja notwendig waren. Nein! ich hörte nur vorhin ›Maggie‹ ein paar dutzendmal rufen in den verschiedensten Stimmen und Tonlagen, ohne übrigens die junge Dame gesehen zu haben, denn nun kam Ihr Herr Onkel, und ich mußte meinen Beobachtungsposten am Fenster aufgeben. Ich habe also richtig geraten? Gleicht Ihnen – ich meine, ist Ihnen Ihr Fräulein Schwester ähnlich?«

»Nein, o nein! Maggie – aber Sie werden sie ja sehen.«

»Meine freundliche Führerin darf mich nicht so auf halbem Wege verlassen, ich finde mich sonst wahrlich in der Gesellschaft so wenig zurecht, wie hier in dem Garten. Ihr Fräulein Schwester ist Ihnen also nicht ähnlich?«

»Sie soll ganz und gar das Abbild unserer verstorbenen Mutter sein, sagen die, welche unsere Mutter gekannt haben. Wir haben von ihr beide wohl nur das dunkle Haar; aber Maggies ist dunkler. Die Mutter starb, als sie Maggie das Leben gegeben – verzeihen Sie!«

»Was, Fräulein Edith?«

»Sie haben selbst Ihre Mutter erst kürzlich verloren?«

»Vor einem Jahre – eine edle, vortreffliche Frau; ich wollte, Sie hätten sie gekannt!«

»Herr Stude hat mir – hat uns oft von ihr erzählt und von Ihrem verstorbenen Herrn Vater, dem er so viel verdankt, und daß Sie nun für alle Ihre Brüder so klug und umsichtig sorgen –«

»Da hat Ihnen der gute Stude wahrlich mehr erzählt, als er verantworten kann«, sagte Gerhard lächelnd; »ich sorge für sie, indem ich hier und da mein bißchen Autorität, als der Älteste, auszuüben mich bemühe, was mir denn auch von Zeit zu Zeit so ziemlich gelingt – das ist alles.«

»Sie haben Ihrer Brüder willen sogar Ihr Studium aufgegeben – Ihre ganze Karriere – und sind Landmann geworden, nur, um das väterliche Gut früher übernehmen und so den Brüdern besser forthelfen zu können, und –«

»Der Stude ist ein Schwätzer«, rief Gerhard ärgerlich, »glauben Sie mir, Fräulein Edith, es ist kein wahres Wort – nein, Ihnen darf ich auch kein unwahres Wort sagen; aber meine Juristerei habe ich nur deshalb an den Nagel gehängt, weil ich Landmann mit Leib und Seele bin, und in der Tat ganz gegen meine Neigung, nur um meinem Vater den Gefallen zu tun, studiert und auch das erste Examen gemacht habe – was nebenbei gar keine Heldentat ist. Sie lächeln, Fräulein Edith?«

»Daß Sie sich so eifrig gegen einen Ruhm wehren, der mir doch so beneidenswert scheint. Sorgen zu können, wo es der Sorge bedarf; helfen zu können, wo Hilfe nötig ist; mit kluger, fester Hand die Fäden zu schlichten, die sich sonst zu einem unentwirrbaren Knäuel verschlingen; die Wolke zu bannen, die man heraufziehen sieht, dunkler und immer dunkler –«

»Aber Fräulein Edith –«

Er hatte die schlaff herabhängende Rechte des jungen Mädchens ergriffen, während sie mit der Linken, sich seitwärts neigend, ihre Augen bedeckte, aus denen die Tränen stürzten. Der zarte, jungfräuliche Busen hob und senkte sich ungestüm; der schlanke Leib erzitterte von dem Schluchzen, das sie vergeblich zu unterdrücken sich mühte.

Das war so plötzlich gekommen – aus dem Lächeln, mit dem das holde Gesicht ihm noch eben zugewandt gewesen, wie Regen aus heiterem Himmel – Gerhard war sehr betreten und zugleich auf das innigste gerührt.

»Mein Gott, was ist Ihnen?« rief er, »ich bitte, ich beschwöre Sie, sagen Sie es mir, wenn Sie es sagen können. Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen – wie dürfte ich das! – aber glauben Sie mir, ich meine es ehrlich.«

Er fühlte einen leichten Druck der schlanken Finger, die sich seiner Hand entzogen. Sie trocknete die Tränen und versuchte, ihm langsam das Gesicht zuwendend, zu lächeln:

»Was müssen Sie von mir denken!«

»Ich denke«, erwiderte Gerhard mit Wärme, »daß, wenn Sie weinen, Sie es nicht ohne Ursache tun, und daß, wenn Sie mich erst besser kennen und Vertrauen zu mir haben, Sie mir vielleicht einmal sagen, welches die Ursache war.«

»Ich habe so großes Vertrauen zu Ihnen«, sagte das junge Mädchen – und ihre schönen Augen blickten ihn groß und ruhig an – »wer gegen seine Brüder so treu und brav ist, der meint es gewiß mit allen Menschen gut – wie sollte er es nicht mit einem armen, schwachen Mädchen? Und warum ich geweint? – ich bin gewiß, Sie sind so klug, wie Sie gut sind; ich kann ja nicht verlangen, daß Sie dies – meine kindische Schwäche – vergessen sollen, aber Sie dürfen mich auch nicht weiter fragen. Sie versprechen mir das, nicht wahr?«

»Ich verspreche es Ihnen, wenn Sie mir versprechen, Ihr Verbot zurückzunehmen in dem Augenblick, wo Sie eines Freundes bedürfen, auf den Sie sich unbedingt verlassen können. Wollen Sie das – so geben Sie mir noch einmal Ihre Hand!«

Sie legte, tief atmend, ihre Hand langsam in seine ausgestreckte. Wieder ruhten ihre Blicke ineinander. Welch liebe Augen, dachte Gerhard; in liebere hast du nie geschaut! Und da zuckte es in diesen Augen wie ein Blitz, der über den Himmel fährt. In demselben Moment hatte sie ihre Hand hastig zurückgezogen und war von ihm einen Schritt weggetreten. Erschrocken wandte sich Gerhard seitwärts: da, wohin der Blitz gezuckt, stand jener alte Mann, der ihn vorhin in Empfang genommen. Hatte er schon länger da gestanden? Jedenfalls hatte ihn Gerhard nicht kommen sehen und kommen hören, gerade wie vorhin auf dem Hausflur. Es war das sicher ein Zufall; der alte Mann konnte nichts dafür; und dann, das mehlige Gesicht lächelte so dämisch, und unter den dicken Lidern blickten die verschwommenen Augen so unsicher, während die breiten, unbestimmten Lippen etwas auf plattdeutsch murmelten.

»Es ist gut«, sagte Edith.

Der Alte lächelte und schlurfte lächelnd an ihnen vorüber, die Richtung einschlagend, aus der sie eben kamen, während sie ihren Weg fortsetzten, um das dichte Gebüsch herum, hinter dem der Alte hervorgetreten sein mußte.

»Sagen Sie mir um Himmels willen«, rief Gerhard, sobald er sich aus der Gehörsweite des Alten glaubte, »wer ist diese sonderbare Gestalt?«

»Herr Deep.«

»Aber mir deucht, ich hörte ihn von Ihrem Herrn Onkel anders nennen?«

»Wohl: Vadder Deep. Vadder ist unser plattdeutsches Vater.«

»Ah so! Nun aber sagen Sie selbst, ob ich hier nicht in der Gefahr bin, aus einem Irrtum in den anderen zu fallen, aus einem Mißverständnis in das hundertste. Ich hätte den würdigen Mann unzweifelhaft bei erster Gelegenheit mit: Herr Vadderdeep angeredet! Also: ein Onkel, vermute ich, oder doch sonst ein näherer Verwandter? ich meine auch verstanden zu haben, daß er du zu Ihnen sagte?«

»Er nennt uns alle du; aber ein Verwandter ist er nicht.«

Edith hatte seine Fragen mit einer fast abweisenden Knappheit beantwortet und in einem Ton, dessen dumpfe Geschlossenheit sein leises Ohr empfindlich traf. Auch ihr Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den er noch eben auf diesen feinen, weichen Zügen für unmöglich gehalten haben würde: einen düsteren Ausdruck von Unwillen oder Scham, oder beidem. War sie unwillig auf ihn? schämte sie sich der kleinen Szene an der Buschecke? konnte sie ihm daraus einen Vorwurf machen? Nun ja; er hätte ihre Hand nicht noch einmal zu ergreifen und so lange festzuhalten brauchen, bis der Alte dazukam! – wer hätte die Hand nicht festgehalten! Oder tat es ihr leid, daß sie sich vorher so hatte hinreißen, den Fremden einen Blick in ihr Herz hatte tun lassen? Dann war er ihr trotz alledem nur ein Fremder, und wenn es einen Moment anders geschienen, sollte er es schleunigst vergessen; aber sie selbst hatte gesagt, daß sie das nicht verlangen könne. Empfand sie diesen Widerspruch nicht? und fühlte sie nicht, wie ihn ihr Schweigen, das er doch nur ungünstig für sich auslegen konnte, peinigte? war es nicht ihre Aufgabe, ihre Pflicht, dies dumpfe, herzbeklemmende Schweigen zu brechen?

Er blickte zu ihr hinüber, die neben ihm, aber am äußersten Rande des Weges ging. Sie hatte den Kopf gesenkt und hob ihre Augen nicht ein einziges Mal vom Boden. Diese Hartnäckigkeit machte Gerhard ärgerlich. Mein Gott, dachte er, wir können doch unmöglich in dieser Stimmung vor die Gesellschaft treten; es sieht ja wahrhaftig aus, als ob wir uns gezankt hätten. Ich werde die traurigste Rolle von der Welt spielen!

Sie konnten nicht mehr weit von der Gesellschaft und von ihr nur noch durch einen großen Rasenplatz getrennt sein, in dessen Mitte ein dichtes Boskett den mittleren Teil des Hauses und die davor spielende Schar verdeckte. Der Weg teilte sich nach rechts und links; Gerhard blieb stehen.

»Mein Fräulein – Fräulein Edith –«

Sie war, offenbar zögernd, seiner Aufforderung gefolgt und stand, halb gewandt, den Blick noch immer auf den Boden geheftet.

»Sagen Sie mir das eine, Fräulein Edith, sagen Sie mir, daß Sie mir nicht zürnen, sagen Sie mir, daß –«

»Herr von Vacha! Herr von Vacha!« erscholl hinter ihnen eine mächtige Stimme.

Auf dem Wege, den sie gekommen, und auf den zwischen den Büschen hervor überall schmalere Pfade mündeten, stand Herr Zempin, in dem Moment, wo Gerhard sich wandte, den Strohhut lüftend, an seinem Arme eine Dame, die dem Riesen weitaus nicht bis an die breite Schulter reichte und mit einer kleinen weißen Hand lebhaft winkte.

»Ihr Herr Onkel!« sagte Gerhard.

»Und Tante Julie«, sagte Edith.


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