Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel.

An den Fenstern jenes Zimmers vorüberreitend, in dem gestern die Versammlung stattgefunden, hatte Gerhard den, den er suchte, dort an dem Tische sitzen zu sehen geglaubt. Er war schnell vom Pferde gesprungen, hatte den Zügel durch den eisernen Ring des Ständers geschlungen und war, ohne sich aufzuhalten, in das Haus geeilt. Wußte er doch, wie schnell der schwerfällige Alte war, wenn es galt, jemand auszuweichen, von dem er nicht gefunden sein wollte.

Aber als er jetzt das Zimmer betrat, sagte ihm sein erster Blick: der Mann hatte ihm heute nicht entwischen wollen. Ohne Zweifel hatte er das Klappern der Pferdehufe so gut gehört, wie das Knarren der Tür und den Schritt des, der über die holprigen Dielen herankam. Dennoch hob er die Augen nicht von dem Teller, auf dem er gemächlich ein Ei zerklopfte. Vor ihm stand eine dampfende Kaffeekanne, eine Branntweinflasche, Schinken, Brot und Butter, und was noch sonst zu einem derben Frühstück gehören mochte.

»Herr Deep!«

Er hatte nun doch aufgeblickt; in den kleinen grauen Augen zuckte es, aber er rührte sich nicht von seinem Sitze und fuhr gelassen in seiner Beschäftigung fort, in gleichgültigem Tone sagend:

»Ah! der Herr Baron! wo kommen Sie so früh her?«

»Ich komme von dem See auf der Schwanenwiese, wo sich vor einer Stunde Anna Garloff ertränkt hat.«

In dem verschwommenen Gesicht bewegte sich nichts, die plumpe Hand klopfte vorsichtig weiter, und die mehlige Stimme sagte in genau demselben lässigen Tone:

»Was geht das mich an? Sie sollten die Nachricht dem Förster bringen.«

»Herr Garloff fährt die Leiche eben nach dem Forsthause, auf dem Wagen, den Sie nach Gartendamm geschickt haben.«

»Sie werden mir hoffentlich für den Schaden stehen, der mir daraus erwächst.«

Um die breiten Lippen spielte ein Lächeln; nicht das alte, öde, blödsinnige – ein freches, satanisches Lächeln, das Gerhard das Blut sieden machte.

»Den Löffel niedergelegt, augenblicklich! und auf von dem Stuhle! oder ich schlage Sie nieder wie einen Hund!«

Das Lächeln schwand, das mehlige Gesicht wurde grau; ein tückisch-trotziger Blick schoß zu Gerhard empor; dann aber legte er zögernd den Löffel und das Ei hin und richtete sich langsam empor, indem er sich dabei mit beiden Händen an der Tischkante hielt, die er nicht losließ, als er aufrecht stand.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte er; »aber ich rate Ihnen: nehmen Sie sich in acht! jetzt bin ich Herr auf Retzow; ich könnte Sie wegen Hausfriedensbruch belangen.«

Die dicke Stimme war diesmal kaum verständlich, und die plumpen, behaarten Hände hielten offenbar nur deshalb so fest, damit Gerhard das Zittern nicht gewahren möchte. Die Bestie war feig; Gerhard hatte nie daran gezweifelt.

»Ich denke«, sagte er, »Sie werden froh sein, wenn ich Sie nicht mit den Gerichten in Berührung bringe.«

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, wiederholte Vadder Deep.

»Lassen Sie Ihre verruchten Lügen, die bei mir nicht verfangen!« rief Gerhard. »Sie wissen ganz genau, was ich von Ihnen will; aber damit Sie keinerlei Ausrede haben, sollen Sie es auch noch von mir hören. Ich will, daß Sie den Herren Zempin, beiden Brüdern, zurückerstatten, was Sie ihnen früher oder später gestohlen haben, bei Heller und Pfennig; ich will, daß Sie dann diese Gegend verlassen, um in irgendeinem abgelegenen Winkel Ihr schändliches Dasein zu beschließen, wobei es Ihnen an einer kleinen Pension, die Ihnen die Not des Lebens fernhält, nicht fehlen soll. Haben Sie verstanden?«

»Sie sprechen ja laut genug.«

»Nun wohl! Und was erwidern Sie?«

»Daß ich neugierig bin, zu hören, wie Sie Ihren sogenannten Willen durchsetzen werden.«

»Sie sagen also – Sie wagen also, nein zu sagen?«

Eine lange Pause erfolgte. Vadder Deep stand da, unbeweglich vor sich niederblickend, und er hob die Augen nicht, als er jetzt anfing zu sprechen mit der alten dicken, langsamen Stimme, die aber gar nicht mehr verschwommen murmelte, sondern sehr vernehmlich klang und die einzelnen Worte hinzählte, als wären's Geldstücke, die durch die plumpen, vorsichtigen Finger liefen.

»Ich wüßte nicht, was dabei groß zu wagen wäre! Oder wollen Sie mir vielleicht mit einer alten Geschichte kommen, die drüben in Kosenow gespielt haben soll? Ich würde mich doch wohl hüten, Ihnen zu sagen, wo die Glocken hängen, die Sie haben läuten hören. So dumm bin ich noch lange nicht. Oder wenn Sie etwa glauben, Garloff würde schwatzen, da könnten Sie am Ende länger warten, als Ihnen lieb ist. Und wen hätten Sie denn außer uns beiden, von dem Sie erfahren könnten, was Sie so gern wissen möchten? den Kosenower Herrn? na, meinetwegen! ich wünsche viel Glück dazu! oder die Mutter vom Schulten Jochen? Sehen Sie, Herr Baron, ich habe so bei mir überlegt, ob es sich wohl der Mühe verlohne, der alten mallen Person die Kehle ein bißchen zuzudrücken, damit sie dem Herrn Grafen nicht auch noch solches dummes Zeug vorschwatzt, wie neulich Ihnen. Aber es verlohnt sich nicht; es ist ebensogut, wenn man die Alte ins Irrenhaus steckt, wo sie hingehört, und da haben wir sie denn gestern abend hingeschickt, Zempin und ich. Sie haben sich nicht verhört, Herr Baron: Moritz Zempin und ich. Der kam gestern abend herüber, nachdem er vorher bei seinem Schwiegervater in Swinhöft gewesen war. Da hatte er denn auch nicht viel Gutes in Erfahrung gebracht und war ein bißchen hitzig, wollte sich sogar an mir altem Manne vergreifen, und um ihn etwas abzukühlen, habe ich ihm die bewußte alte Geschichte erzählt, wie alte Leute hierzulande sie sich untereinander noch gelegentlich erzählen, zum Beispiel: der Garloff und ich. Ich sollte es eigentlich nicht: Garloff hatte es mir verboten; aber ich bin dann, als ich Zempin los war, bei Garloff gewesen und habe ihm bewiesen, daß ich es tun mußte, wenn wir Ruhe behalten wollten, das heißt: wir alle, denn wenn man eine Krähe vom Dache schießt, können die anderen nicht sitzen bleiben. Nun, und Sie selbst, Herr Baron, sind ja ein so überaus verständiger junger Herr und hören schon mit halben Ohre. Wie sollen Sie nicht begreifen, daß wir uns alle am besten befinden, wenn die alte dumme Geschichte unter uns bleibt und jeder jeden gewähren läßt. Dann können wir hier in Frieden und Freundschaft leben: Garloff auf dem Forsthause, Zempin auf Kantzow, Sie in Kosenow und ich in Retzow. Ich werde ein bequemer Nachbar sein, und Sie werden mich in jeder Beziehung billig finden. Ich habe Zempins nur abgenommen, was ihnen ein anderer abgenommen hätte, wenn ich es nicht tat. Ich werde sie nun, da ich so ziemlich habe, was ich wollte, weiter nicht drücken: im Gegenteil! ich werde für mein Teil, ich meine: für den Rest meiner Forderungen, die kulantesten Bedingungen stellen; ja, mir jetzt eine Ehre und ein Vergnügen daraus machen, die übrigen Verbindlichkeiten der Herren aus der Welt zu schaffen und zur Regulierung ihrer Verhältnisse die Hand zu bieten. Der Herr Baron wird mich dabei unterstützen. Der Herr Baron spielt keine Karte, wie ich bemerkt habe; aber so viel wird der Herr Baron davon wissen, daß, wenn einer ein so sicheres, unverlierbares Spiel in der Hand hat, wie ich, der andere immer gut tut, mitzugehen. Jetzt hat der Herr Baron wohl auch mich verstanden?«

War das Vadder Deep? Vadder Deep, der sonst nie drei Worte im Zusammenhang sprach und jetzt das alles vorbrachte, ohne zu stocken, ohne um einen Ausdruck verlegen zu sein? Selbst die Gestalt schien eine andere: der große, platte Kopf hatte sich höher aus den runden Schultern gehoben; die Hände, die im ersten Schrecken nach der Tischplatte gegriffen, hatten längst losgelassen und lagen jetzt bequem auf dem breiten Rücken; die kleinen Augen blinzelten nicht mehr, sie blickten starr und grausam, wie die Augen eines Raubvogels auf die sichere Beute.

Gerhard hatte, während der Mann so sprach, mehr als einmal den Grimm, der ihn erfüllte, mit Gewalt niederkämpfen müssen. Dieser Mensch, der von dem Mißduft tiefster Gemeinheit umgeben war, wie das Zimmer erfüllt von dem Dunst des gestrigen Bacchanals – dieser Mensch wagte, ihn in seine Gemeinschaft zu ziehen! wagte, mit ihm zu sprechen, wie mit einem Komplizen! War das Entsetzlichste wirklich? wußte der Mann, weshalb er bis dahin geschwiegen? wußte er, was ihm auch jetzt wieder die zitternden Lippen schloß? las der Mann mit den stechenden, grausamen Augen in seiner gefolterten Seele, als er jetzt nach einer Pause, in der er sich an seinem Triumph über den Gegner geletzt haben mochte, mit einem Lächeln, das immer frecher um die breiten Lippen spielte, fortfuhr:

»Ja, mein Herr Baron, so ein armer alter Mann wie ich muß sehen, wie er sich durch die Welt bringt. Sie haben mich vorhin einen Hund genannt – ganz richtig; man hat mir jahrelang nur die Knochen zugeworfen; ich wollte auch einmal wieder Fleisch essen. Ich hätt's schon längst gekonnt, wäre der Garloff nicht gewesen, der mir das Maul verbot, und daß ich die Zempins auf die alte Geschichte hin ein bißchen schröpfen durfte. Nicht, als ob an der Geschichte ein wahres Wort wäre – der Herr Baron verstehen mich! – nur daß man von seinem Vater dergleichen nicht gerne erzählen läßt. Aber Zempins hätten auch ohne das den alten Freund ihres Vaters kein solches Hundeleben führen lassen sollen. Ich habe immer gedacht, es kommt die Zeit, wo ich euch alle hintereinander bringe, und es war mir ein rechtes Gaudium, als sich am Sonntag die beiden Brüder an der Kehle hatten. Es blieb leider dabei. Nun hat wenigstens Moritz ein übriges getan. Ich wasche meine Hände, wenn sich die Anna ertränkt hat; und wenn mich der Herr Baron über die Nachricht nicht weiter verwundert sah, so ist es, weil das ja gar kein anderes Ende nehmen konnte. Noch gestern abend habe ich zu Moritz gesagt: das wird schlimm ablaufen, du solltest dich beizeiten mit dem Mädchen auseinandersetzten! Er hat ihr auch in meinem Beisein goldene Berge versprochen; aber die Anna ist wie ihr Vater. Die Garloffs waren von jeher verrückt. Der Großvater der Dirn, der Vater von Garloff, hat sich totgeschossen, weil ihn der Oberförster vor den Holzfällern einen Spitzbuben genannt; warum sollte sie nicht ins Wasser gehen, ehe die Leute mit Fingern auf sie wiesen? Wie Garloff selbst es nehmen wird? Ei, Herr Baron, ich will nicht beschwören, daß er's besonders gut nimmt, aber je schlimmer er's nimmt, desto besser für mich.«

Vadder Deep schmatzte mit den breiten Lippen, als ob ihm der letzte Gedanke besonders munde, indem er sich dabei das unrasierte Kinn rieb, wie jemand, der überlegt, ob er das Thema wohl ganz erschöpft habe.

»Ja so«, sagte er, »der Herr Graf! Sehen Sie, Herr Baron, den fürchte ich nun ganz und gar nicht. Was kann der uns tun – ich meine, was kann der aus der alten Geschichte machen – wenn wir alle reinen Mund halten? Dann mag er die Scharteke, die er Ihnen letzten Sonnabend vorgelesen, man in den Papierkorb werfen, oder die Frau Gräfin ihre Locken drein wickeln. Und passen Sie auf: der Herr Graf und ich werden noch die besten Freunde. Gestern ist die Entscheidung aus Berlin gekommen wegen des Retzower Forstes. Der Fiskus hat in zweiter und letzter Instanz gewonnen. Ich könnte, als jetziger Besitzer von Retzow, dem Fiskus trotzdem noch manche Nuß zu knacken geben und den Herrn Grafen schikanieren, da ich die Sache besser kenne, als alle Gerichte zusammen. Aber ich werd's nicht tun, und der Herr Graf wäre ja wohl der einzige, der uns allenfalls hineinreden dürfte.«

»Sie haben einen vergessen, der sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat!« rief Gerhard.

»Ach so!« sagte Vadder Deep mit einem Blick nach der Zimmerdecke. »Na, Herr Baron, Sie sind noch jung; da glaubt man an so was; wenn Sie erst so alt sind wie ich und erfahren haben, wie's in der Welt zugeht, werden Sie just so denken wie ich. Ich denke aber: wer lebt, lebt, und der wäre ein Narr, der sich nicht so viel vom Leben nimmt, als er bekommen kann; und wer gestorben ist, der ist tot; und die Toten stehen nicht wieder auf.«

»Es hat schon manches Grab sich geöffnet, und wären noch so schwere Steine darübergewälzt.«

»So hat der Garloff doch geschwatzt?«

Die Hände hinter dem breiten Rücken ließen einander los; unter den dicken Lidern schoß ein tückischer Blick zu Gerhard hinüber; die freche Stimme schien jetzt die einzelnen Silben zu zählen:

»Sie haben mich noch immer nicht verstanden! Wenn's einmal nötig wird, werde ich selbst das Grab in aller Stille ausräumen; Sie aber werden mit keinem Finger daran rühren. Denn was dabei zutage käme, das würde kein Anblick für das Fräulein in Kosenow sein. Das Fräulein müßte Ihnen dann den hübschen Ring wiedergeben, den Sie ihr am Sonnabend abend geschenkt haben. Die alte Sara ist seit jeher eine gute Freundin von mir, und Sie hatten die Unvorsichtigkeit gehabt, die Tür halb offen zu lassen. Und wenn ich es nicht seitdem schon wüßte: gestern abend haben Zempin und ich ein langes und breites darüber gesprochen, und er hatte es aus der ersten Hand: er hatte es von dem Fräulein selbst.«

Der Alte hatte während der letzten Worte schnell ein paar Schritte seitwärts gemacht, so daß er die Breite des Tisches zwischen sich und Gerhard brachte. Aber Gerhard schämte sich keiner Wallung; er hatte nur schon zu lange die verpestete Atmosphäre dieses Zimmers geatmet.

Als er aus der Tür stürzte, hörte er ein heiseres Gelächter hinter sich. Warum sollte der Teufel nicht lachen? Er hatte sein Spiel glänzend gewonnen!

Und das konnte ein gerechter Gott dulden? Ein armes gutes Mädchen mußte so schwer einen Fehltritt büßen, der so leicht wiegen mußte vor ihm, dem Allwissenden, Allverzeihenden! an dem Vater der Unglückseligen wurde seine Schuld so furchtbar heimgesucht! Menschen, die sich gut zu sein bestrebten aus allen Kräften ihrer Seele, wurden in den trüben Schwall von Verbrechen und Sünde gewaltsam hineingezogen, von der grauenhaften Flut fortgewirbelt, ohnmächtig, widerstandslos – und jenes Scheusal durfte triumphieren! durfte sein verderbliches Netz Masche um Masche weiterweben ungestört! durfte sich das Leben gestalten ganz nach seinem schnöden Sinne! jeder bösesten Lust seines verruchten Herzens frönen ungestraft! Gab es einen Gott?

Aber wie konnte sein erhabenes Gesetz von Schuld und Sühne Wahrheit werden, wenn der Mensch, dem er es offenbart, sich weigerte, es ins Werk zu setzen? Hatte Gott es ihm nicht offenbart? Hatte Gott ihn nicht in den Abgrund blicken lassen, daß die teuflischste Verworfenheit sonnenklar vor seinen schaudernden Augen lag? ihn nicht, wenn je einen Menschen, berufen zum Rächer mit furchtbar vernehmlichen Stimme, welche die Toten hätte erwecken können? Die Toten, die schmählich Hingemordeten! dort im Walde unter den Hünengräbern wie Hunde Verscharrten! Er wußte jetzt die Stätte selbst – das böse Gewissen des Mannes hatte sie verraten auf ein zufälliges Wort hin, das ganz anders gemeint war! So deutlich hatte Gottes Finger gewiesen auf das, was seine Pflicht, seine einfache, zweifellose, heilige Pflicht, er mochte es betrachten, von welcher Seite er wollte – und er weigerte sich!

»O Gott, mein Gott«, stöhnte er aus tiefster Seele; »habe Mitleid mit mir! ich will kein Glück für mich; ich weiß, daß jede Hoffnung, die ich für mich genährt, eine kindische Torheit war; daß ich entsagen muß – ganz und völlig, ohne den Trost gemeinschaftlicher Tränen, ohne ihr sagen zu dürfen, weshalb ich mich von ihr losreiße für immer, um so für immer in ihren Augen ein Meineidiger zu sein und ihr Herz zu vergiften, während das meine sich vor Sehnsucht nach ihr verzehrt! Gott, mein Gott, gibt es keinen Ausweg aus diesem Irrsal? oder, wenn ich als Opfer fallen soll deinem furchtbaren Gebot, daß der Väter Sünden sollen gerächt werden an den Kindern – nimm mich! aber gib sie frei, die Gute, Reine! um deiner selbst willen! Wer soll noch an Menschenhoheit und Menschenwürde glauben, wie soll das Chaos nicht wiederkehren, wenn du deine Engel nicht schützen kannst!«

In der schrecklichsten Seelenangst irrte Gerhard umher; sein Pferd bald hierhin, bald dorthin wendend, nun auf den Wegen, nun über die Felder reitend, ohne dort oder hier ein Ziel zu haben, bis er sich – es waren Stunden vergangen – plötzlich in der Nähe von Kantzow befand. Er wußte nicht, wie er hingekommen; er hatte gemeint, nahe bei Kosenow zu sein. Mochte er es denn für ein Zeichen nehmen: für eine Besiegelung des Entschlusses, des einzigen, der sich mit einiger Klarheit aus dem Nebel seines Inneren losgelöst: Edith nicht wiederzusehen, bevor er nicht auch äußerlich das Band abgestreift, das ihn während der letzten Tage noch an Kantzow gehalten. Er konnte Ediths Wunsch nicht mehr erfüllen: er konnte nicht mehr zu dem Manne stehen, dessen brutale Selbstsucht die arme Anna in den Tod getrieben; zu dem Manne, der die fürchterliche Erbschaft des Vaters antrat – gleichviel, ob mit Widerstreben oder nicht; dem Manne, der sich dem Scheusale in Retzow demütig beugte, von ihm die Regeln und Gesetze seines Handelns empfing,. mit ihm überlegte, wie man den berufenen Rächer stumm machen könne, indem man ihn zur Mitschuld verlockte, und wäre es durch ein Engelsbild.


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