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Einundfünfzigstes Kapitel

Es war in der Nachmittagsstunde. Der alle Baron nickte in dem Wohnzimmer. Er saß in dem großen Schaukelstuhl; die Zeitung, in der er gelesen hatte, war ihm aus der welken, herabhängenden Hand geglitten. Er sah recht verfallen aus in diesem Augenblicke; recht wie ein alter Mann, der nicht mehr viele Jahre zu leben hat und dessen Leben die leichteste Krankheit ein rasches Ende machen kann. – So dachte Anna-Maria, die ihm gegenüber auf ihrem gewöhnlichen Platze gesessen und ihn eine geraume Zeit, in tiefes Nachdenken verloren, aufmerksam betrachtet hatte. Jetzt erhob sie sich leise und trat vor die Pendeluhr über dem Kamin. Es war bald vier, die Stunde, in der nach der unwandelbaren Ordnung des Hauses der Kaffee getrunken werden mußte – im Garten, wie stets, wenn das Wetter es erlaubte. Die Baronin stand im Begriff, ihren Gemahl zu wecken, sie besann sich indessen eines anderen, schritt durch die offene Tür in den Garten hinab und fragte den Bedienten, der das Kaffeeservice in die Laube trug, ob Baron Felix schon gerufen sei? »Noch nicht, gnädige Frau!« – »So gehen Sie hinauf; ich ließe ihn bitten, doch womöglich sogleich zu kommen, und hören Sie! Sagen Sie Mademoiselle, ich wollte heut selbst den Kaffee servieren, sie möge nur in der Wäschekammer bleiben.« – »Zu Befehl, gnädige Frau.« – »Und was ich sagen wollte, Sie brauchen die anderen noch nicht zu rufen.« – »Zu Befehl, gnädige Frau.«

Der Mann ging seine Aufträge auszurichten. Anna-Maria schritt an der Laube vorüber in einen langen, ganz überwölbten Buchengang, der von dem großen Rasenplatze aus mehrere hundert Schritte bis an ein Gehölz führte, in dem eine kleine verfallene Kapelle stand. Sie schien ganz vergessen zu haben, daß sie Felix in die Laube beschieden hatte, denn sie ging immer weiter, die Augen auf den Boden geheftet, bis sie das Ende des Ganges und die Kapelle erreicht hatte.

Es war eine liebliche, süß melancholische Stelle. Uralte Riesenbäume umwölbten den Platz mit ihren breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenstrahl sich hineinstehlen konnte. Der Boden war mit dichtem Moos bedeckt; langes Gras wuchs zwischen den umhergestreuten Steinfliesen; die weitklaffenden Spalten des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Efeu übersponnen; hier sind da ragte ein hoher blühender Busch aus den Ruinen. Auf dem morschen Kreuz in einer der leeren Fensternischen saß ein Vögelchen und sang. Das war der einzige Laut, den man vernahm. Er schien die Stille ringsumher nur noch stiller zu machen.

Einen Liebhaber der Einsamkeit würde der Platz entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum einmal die Augen vom Boden, sich flüchtig umzusehen. Sie hatte überhaupt sehr wenig Sinn für Sonnenstrahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für blaue Schatten und andere Requisiten landschaftlicher Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geist von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Sie setzte sich auf die Steinbank unmittelbar unter der leeren Fensternische, in der das Vögelchen sang, nahm aus der Tasche ihres Kleides einen Brief und begann ihn noch einmal zu lesen.

Es war der Brief, den Helene heute morgen in dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, sie werde sich nie um ihre Korrespondenz kümmern, eine Wahrheit sei, geschrieben und in dem vollen Vertrauen auf die Heiligkeit des Briefgeheimnisses ihrem Kammermädchen übergeben hatte mit dem Auftrage, ihn in die Küche zu tragen, wo der Postbote sich an einer Tasse Kaffee erquickte. Das Mädchen war der Baronin auf dem Flur begegnet und von dieser gefragt worden, von wem der Brief sei? Auf die Antwort: Von dem gnädigen Fräulein, hatte die Baronin sich den Brief geben lassen, mit der Weisung, den Postboten hernach zu ihr aufs Zimmer zu senden, sie selbst habe noch mehrere Aufträge für ihn.

Und hier saß sie nun auf der steinernen Bank neben dem alten Gemäuer unter der Fensternische, in der das Vögelchen so lustig zwitscherte, und studierte den Brief, den unseligen Brief, den sie nun schon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntnis, die sie so freventlich gestohlen, war bitter, sehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte sie ihre Tochter. Also wirklich! Ihr schlimmster Verdacht bestätigt! Für alle ihre Güte mit schwarzem Undank belohnt! Des Egoismus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! In allen ihren Plänen von diesem Starrkopf durchkreuzt! Helene im besten Einverständnis mit den beiden Verhaßten! Fräulein von Grenwitz in Liebe zu einem Mietling, einem gemeinen Menschen, der bei ihren Eltern in Lohn und Brot stand! Denn was bedeuteten zuletzt all die schönen Phrasen von Oswalds Herzensgüte, von dem Anteil, den sie an seinem geheimen Kummer nahm? Die Baronin verstand sich freilich schlecht auf die Sprache der Liebe; soviel aber wußte sie, die Gleichgültigkeit spricht so nicht. Dahin also war es gekommen! Helene wollte Krieg! Gut – sie sollte ihn haben. Es sollte sich zeigen, wer die Stärkere war: die Mutter oder die Tochter. Jetzt zurückweichen? Zugeben, daß dieses ungeratene Kind ihren Willen durchsetzt? Den jahrelang erwogenen Vorsatz einer törichten Mädchenlaune opfern? Nimmermehr!

Aber was jetzt tun? Noch einmal es mit scheinbarer Güte versuchen oder die Maske fallen lassen und befehlen, wo mit Bitten nichts auszurichten war? Und vor allem: wie weit Felix in das Geheimnis einweihen? Würde sich nicht sein Stolz regen, wenn er erführe, wie tief er in den Augen Helenens stand, wie sehr sie ihn verachtete? Konnte er nicht zurücktreten und setzte dann Helene nicht doch ihren Willen durch? Triumphierte die Tochter dann nicht doch über die Mutter?

Ehe die Baronin über diesen Punkt mit sich ins klare kommen konnte, vernahm sie Schritte ganz in ihrer Nähe. Sie faltete eiligst den Brief zusammen und verbarg ihn hastig in der Tasche ihres Kleides.

Felix hatte niemand in der Laube gefunden und, zufällig einen Blick in den Buchenwald werfend, die Baronin in der Tiefe zu erblicken geglaubt.

»Also doch«, sagte er, als sich die Baronin bei seiner Annäherung erhob, »ich wußte wahrlich nicht, ob Sie es waren. Der Kaffee steht in der Laube; aber, wie König Philipp auf dem Thron, einsam und allein. Es scheint sich alle Welt, wie ich, verschlafen zu haben.«

»Setzen Sie sich hierher zu mir, lieber Felix«, sagte die Baronin, »es hat mit dem Kaffee keine so große Eile. Wir können hier ungestörter sprechen als dort.«

»Ein allerliebst verschwiegenes Plätzchen zu einem ehrbaren Rendezvous«, erwiderte Felix lachend, neben der Baronin auf dem Bänkchen Platz nehmend.

In diesem Augenblick verstummte das Vögelchen, das oben in der Fensternische gesessen hatte und flog in einen der Bäume. Das bleiche, von dunkeln Locken eingerahmte Gesicht eines Knaben erschien in der Höhlung und schaute herunter, um sofort, nachdem es die beiden erblickt hatte, wieder zu verschwinden.

»Daß Sie doch noch immer zum Scherz aufgelegt sind, lieber Felix«, sagte die Baronin.

»Noch immer?« erwiderte Felix. »Was ist denn geschehen, weshalb ich weinen sollte? Sie können wohl nicht vergessen, was ich neulich abends sagte? Pah! Ich habe mich lange von dem Schreck erholt; es war ein blinder Schuß, glauben Sie mir!«

»Ich wollte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen, lieber Felix; aber ich habe meine guten Gründe, anderer Meinung zu sein. Ich habe Helene seitdem genauer beobachtet; ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen, daß doch etwas an der Sache ist.«

»Aber, verzeihen Sie mir, Tante; Sie haben ein bewunderungswürdiges Talent, alles schwarz zu sehen. Es war ein kindischer Einfall von der kleinen Breesen; sie wollte mich ärgern – voilà tout! Ich kann Helenen nicht zutrauen, daß sie mir einen Schulmeister vorzieht. Es wäre ja lächerlich, horriblement lächerlich«, sagte der Exleutnant und betrachtete wohlgefällig seine lackierten Stiefel.

»Und gesetzt auch, Helene könnte sich nicht so weit vergessen, – daß es nur die törichte Laune eines Augenblicks wäre, versteht sich ohnehin von selbst –, sind Sie denn mit ihrem Betragen, Ihnen gegenüber, zufrieden?«

»Sie wird ihr Betragen ändern, sobald sie sieht, daß wir Ernst machen.«

»Und wenn sie sich nicht ändert?«

»Nun, so sind wir Gott sei Dank noch nicht verheiratet«, sagte Felix in der Bewunderung seiner Stiefel verloren, wahrscheinlich nicht genau wissend, was er sagte.

»Dann dürfen wir ja auch unser Gespräch abbrechen«, sagte die Baronin sich erhebend, »wenn Sie mit einer solchen Gleichgültigkeit von dem Scheitern eines Planes sprechen können, an dessen Ausführung, sollte ich denken, uns beiden gleich viel gelegen sein muß, so verlohnt es sich auch nicht der Mühe, weiter darüber zu reden.«

»Aber teuerste Tante«, sagte Felix aufspringend und der Baronin die Hand küssend, »Sie sind auch wahrlich heute in einer schauerlichen Laune. Wie können Sie ein Wort, bei dem ich mir, auf Ehre, nicht das mindeste gedacht habe, so übelnehmen? Es fuhr mir so heraus. Sie wissen ja, daß meine Zunge vieles spricht, was ich beileibe nicht verantworten möchte. Setzen Sie sich wieder, ich bitte Sie. Sie sagten, wenn Helene ihr Betragen nicht ändert? Meine ernste Antwort ist: So heirate ich sie doch. So etwas findet sich, wenn man nur erst im Wagen sitzt; auf der ersten Station wird geweint; auf der zweiten wird geschmollt; auf der dritten fängt man an zu lächeln; auf der vierten –«

»Genug!« sagte die Baronin. »Sie sind ein unverbesserlicher Leichtfuß, der –«

»Überall da hingelangt, wo er hingelangen will. Und deshalb lassen Sie Ihre Bedenken fahren und uns zum Kaffee gehen, der sonst wahrlich kalt wird.«

»Nicht so schnell!« sagte die Baronin, »Wozu raten Sie denn nun?«

»Wozu ich immer geraten habe. Sagen Sie Helenen – da ich ja doch einmal mich auf keinen Fall direkt in die Sache mische« soll –, du heiratest deinen Vetter, Baron Felix von Grenwitz, und zwar binnen hier und irgendeiner beliebigen Zeit. Abgemacht, Sela.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Mein wohlerwogener Ernst. Wann wollten Sie den großen Ball geben?«

»Übermorgen.«

»Gut. Das ist eine vortreffliche Gelegenheit, der Gesellschaft unsere Verlobung anzukündigen. Sagen Sie Helene, wenn du am Donnerstag abend nicht Felix' Verlobte bist, gehst da am Freitag früh in die Pension zurück. Sie sollen sehen, das hilft.«

»Ich fürchte, die Drohung dürfte den entgegengesetzten Erfolg haben. Man hat Helene in Hamburg viel zu sehr verwöhnt. Ich glaube, sie ginge lieber heute zurück als morgen.«

»Eh bien! So schicken Sie die kleine Widerspenstige nach Sundin in die Musterpension von Fräulein Bär. Es ist das freilich, wie mir die kleine Breesen, die dort erzogen ist, neulich mitteilte, eher eine Strafanstalt als eine Pension; aber je schlimmer, desto wirksamer – ich meine, die Drohung, denn daß es ma chère cousine nicht zum Äußersten kommen lassen, sondern sich, genau zur rechten Zeit, besinnen wird, daraufhin will ich mich hängen lassen. Verzeihen Sie, Tante; ich weiß, Sie lieben die starken Ausdrücke nicht.«

»Es ist wirklich eine recht üble Angewohnheit von Ihnen«, sagte die Baronin, sich erhebend, während Felix ihrem Beispiele folgte.

»Die ich Ihnen zu Gefallen ablegen werde«, erwiderte er, der Baronin den Arm bietend.

»Noch eins«, sagte diese, stehenbleibend, »glauben Sie, daß Grenwitz darein willigen wird?«

»Ob ich das glaube?« rief Felix mit einem für den alten, guten Baron wenig schmeichelhaften Lachen. »Ob ich das glaube? Ma foi, chère tante, da müßte mein sehr würdiger Onkel doch nicht beinahe zwanzig Jahre unter Ihrem Kommando gestanden haben. Wie lange habe ich denn die Ehre, unter Ihnen zu dienen? Ein paar Wochen, und ich dächte, ich wäre schon ganz passabel gedrillt.«

»Sie sind ein Schmeichler«, sagte die Baronin gütig, »aber man kann Ihnen nicht bös sein.«

Und das Paar entfernte sich, Arm in Arm.

Als die Stimmen nicht mehr zu vernehmen waren, schaute das Knabengesicht wieder vorsichtig zu der Fensternische heraus. Es war noch bleicher als vorhin. Der Knabe streckte nach den Davongehenden drohend den Arm aus, und seine Lippen murmelten einen grimmigen Fluch. Dann, als die beiden nicht mehr zu sehen waren, ließ er sich aus der Fensternische herab auf die Bank, wo sie gesessen hatten. Neben der Bank, in dem dicken Moose, lag ein schlechtzusammengefalteter Brief, den die Baronin aus der Tasche verloren hatte. Der Knabe hob ihn auf, und als er sah, daß er von Helenes Hand war, drückte er ihn mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen. Dann verbarg er ihn sorgsam in seiner Brusttasche, blickte sich noch einmal vorsichtig um, und war im nächsten Augenblick im dichten Gebüsch verschwunden.


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