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Viertes Kapitel

Und ein stilles, klösterlich stilles Leben war es denn auch – das Leben auf dem Schlosse Grenwitz. Alle Unruhe, aller Lärm waren aus dem Bereich verbannt, den der alte Wall wie eine efeuberankte Kirchhofsmauer umgab. Hier ertönte kein Hundegebell, kein Pferdewiehern; still glitten die Stunden dahin, wie die Schatten des Zeigers der Sonnenuhr über dem Portale; still, wie die Blumen im Garten dufteten und blühten. Hier schien selbst der Wind leiser in den Wipfeln zu rauschen, die Vögel in den Zweigen zu singen; und was die Bewohner selbst betraf, so konnte die Wanduhr auf dem Vorsaal in ihrem Eichenschrank nicht freier von aller Neuerungssucht sein und ihr Tagewerk pünktlicher und systematischer vollbringen. Die Dienstboten taten ihre Obliegenheiten mit der Regelmäßigkeit von Automaten. Ja in die Möbel selbst schien dieser strenge Geist der Ordnung gefahren, so daß Oswald sich des Gedankens nicht erwehren konnte, sie rückten sich in aller Stille von selber zurecht, falls einmal eines von seiner ihm angewiesenen Stelle abgekommen sein sollte. So wenig nun Oswald in seinem bisherigen Leben an eine so peinliche Ordnung gewöhnt war, und so sehr sich auch im Grunde seine Natur dagegen sträubte, so leicht wurde es ihm doch bei der Geschmeidigkeit seines Wesens und bei der versöhnlichen, milden Stimmung, in die ihn der tiefe Frieden ringsumher versetzte, sich in sie zu finden. Er tat, was er die Leute um sich her tun sah, und erwiderte die förmlichen Verbeugungen, mit denen man sich hier begegnete, mit demselben Grade von Ernsthaftigkeit, den er auf einer Maskerade in einem Menuett zur Schau getragen haben würde.

Er hatte es in den ersten Tagen mit den Lehrstunden nicht allzu genau genommen und sich desto eifriger mit seinen beiden Zöglingen draußen umher getummelt. Sie hatten den Buchwald, der sich von Schloß Grenwitz eine halbe Stunde bis hart an das Meer erstreckte, nach allen Richtungen durchstreift, hatten ein Hünengrab und eine Höhle entdeckt und waren oft schon von den hohen Kreideufern zum Strand hinabgeklettert, hatten dort, auf einem mächtigen Rollsteine stehend, die Flut heranbrausen sehen und gejubelt, wenn der Donner der Brandung ihre Stimmen übertönte.

Auf diesen Streifzügen, die Oswald scherzend Vorstudien zum Homer nannte, hatte er vielfach Gelegenheit, die Naturen seiner beiden Zöglinge zu beobachten. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar. Bruno war groß für seine Jahre, dabei schlank und geschmeidig und schnell wie ein Hirsch. Malte, der junge Majoratsherr, sah neben seinem stolzen Gefährten zurückgeblieben und verkümmert aus. Seine Schultern waren schmal, seine Brust eingesunken, und seine eckigen und unschönen Bewegungen stachen seltsam gegen die hinreißende wilde Anmut ab, mit der Bruno ging, lief und sprang. Malte scheute vor jeder Gefahr, ja vor jeder Anstrengung, im Gefühl seiner Körperschwäche und aus angeborener oder anerzogener Feigheit zurück; für Bruno war kein Baum zu hoch, kein Felsen zu steil, kein Graben zu breit, ja es schien, als ob er geflissentlich die Glut seiner Seele durch körperliche Ermüdung dämpfen wollte. Oswald flocht eine Krone aus Buchenlaub und drückte sie dem Knaben auf die bläulich-schwarzen Locken, um ihn einem jungen Bacchanten noch ähnlicher zu machen. Aber wie in seinem Heimatlande Schweden aus eisiger Winternacht urplötzlich der duftende, lächelnde Frühlingsmorgen hervorblüht, so wechselten Sonnenschein und Sturm in seinem Gemüte – übermütige Lust und an Schwermut grenzende Niedergeschlagenheit, herzliches, fast kindisches Sichhingeben und düsterer, mehr als knabenhafter Trotz – schnell und unvermittelt, wie Lichter und Schatten auf den Hängen eines Gebirges an einem Tage, wo der Wind die Wolken pfeilschnell an der Sonne vorüberjagt. So fand Oswald den Knaben, einen Fremdling im Hause seiner Verwandten, von den einen gehaßt, von den andern gefürchtet, ein unergründliches Rätsel für alle, selbst für den alten guten Baron, der dem Knaben, oft mehr aus angeborener Großmut als aus Überzeugung, stets das Wort redete. Aber für Oswald hatte ein Blick in das traumumflorte dunkle Auge des Knaben genügt, den verwandten Dämon zu erkennen, und den mystischen Bund, den sie in jenem Augenblick geschlossen, hat jede Stunde ihres Zusammenlebens nur gefestigt. Bruno hatte ihm an dem ersten Tage den düstern Trotz entgegengebracht, den er gegen alle zu zeigen gewohnt war. Er hatte ihn mit scheuem, durchdringendem Blick zwei, drei weitere Tage beobachtet, und dann war vor Oswalds liebevollem, freundlichem Wesen der Argwohn von ihm gewichen, wie die Nebel vor den Strahlen der Sonne; sein dunkles Auge war größer und glänzender geworden, als ob das unverhoffte Glück, einen Menschen zu finden, der ihn liebte und den er wieder lieben dürfe, ihn blende und verwirre; und dann war all die stürmische Zärtlichkeit seiner Seele, die er so lange und so sorgsam hatte verschließen müssen, hervorgebrochen, mächtig – unwiderstehlich, wie ein Bergstrom, der die Felsenschranken gesprengt hat und jauchzend in das Tal hinunterstürmt.

»Wissen Sie«, sagte der Knabe da zu Oswald, »daß ich schon im voraus entschlossen war, Sie zu hassen?«

»Warum, Bruno? Ist der Haß für dich so süß?«

»Ach nein! Aber ich glaubte, es seien alle Erzieher wie unser erster, und da dachte ich, was dem einen recht ist, ist dem andern billig.«

»Und wie war denn Herr Bauer?«

»Nun, er machte seinem Namen Ehre«, sagte der Knabe spöttisch.

»Ei, ei, mein stolzer Junker, willst du mir den Bauer verachten?«

»Gewiß nicht!« rief der Knabe eifrig. »Mein Vater war selbst ein Bauer, trotzdem, daß er ein Edelmann war; ich habe ihn oft genug hinter dem Pfluge hergehen sehen – aber dieser Mann war roh und plump wie ein Bauer und feig dazu. Einmal, nach Tische – ich weiß nicht, was ich wieder verbrochen hatte – schlug er mich ins Gesicht, weil Tante zugegen war und er glaubte, er tue ihr einen Gefallen. Ja, er schlug mich« – und das Auge des Knaben blitzte auf bei der Erinnerung an diese Schmach, und die Zornesader auf seiner bleichen Stirn schwoll.

»Und da, Bruno?«

»Da nahm ich das Messer, das vor mir auf dem Tische lag, und sprang auf ihn ein, und der Elende lief vor mir, um Hilfe schreiend, zur Tür hinaus. Und als ich das sah und die bleichen Gesichter um mich her, mußte ich lachen und ging unbelästigt aus dem Saale. Und ich wäre am liebsten gleich in die weite Welt gerannt, aber Onkel kam hinter mir her und versprach mir, der Mensch solle nun und nimmer wieder Hand an mich legen dürfen. Onkel ist gut; Sie glauben nicht, wie gut er ist; aber er fürchtet sich vor der Tante; alle fürchten sich vor ihr, aber ich habe sie doch lieb, denn sie hat Mut wie ein Mann, und ich hasse nur die Feigen. Malte ist ein Feigling.«

»Malte ist schwach und kränklich, und du mußt Nachsicht mit ihm haben; aber, wenn du die Tante wirklich lieb hast, warum bist du so unfreundlich gegen sie?«

»Bin ich unfreundlich?« Der Knabe schwieg. Eine Wolke zog über seine Stirn, seine Nasenflügel zuckten, und sein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitterwolke, als er jetzt, hastig aufblickend sagte:

»Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie soll ich anders sein? Ich esse hier im Hause Gnadenbrot, soll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich will es nicht, und wenn sie mich aus dem Hause jagten. Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünscht, man jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß sie es doch täten; dann ginge ich in die weite Welt und verdiente mir mein tägliches Brot, wie tausend und tausend andere Knaben, die nicht so stark und mutig sind wie ich. Heute noch, als wir am Strande gingen und der Dreimaster am Horizonte auftauchte und wieder verschwand, da wünschte ich so heiß, so heiß, ich hätte mitsegeln können, als Schiffsjunge, als Matrose – nur fort, fort von hier, gleichviel wohin.«

Wenn so der Knabe die geheimsten Wünsche seines Herzens rückhaltlos seinem Freunde und Lehrer offenbarte, da geschah es denn wohl, daß diesen ein Zweifel beschlich, ob er, der selbst den Weg, den er zu gehen hatte, so wenig deutlich sah, der rechte Mann sei, den wilden, leidenschaftlichen Knaben zu leiten. Aber je weniger er sich imstande fühlte, ausschweifende Wünsche, schimärische Hoffnungen zu bekämpfen, die er selbst im stillen teilte, desto mehr verschwand die Kluft zwischen Lehrer und Schüler, desto brüderlicher wurde nur ihr Verhältnis. Noch hatte kein menschliches Wesen einen so tiefen Eindruck auf Oswald gemacht wie dieser wundersame Knabe. Er liebte ihn wie ein Künstler das Werk, an dem er schafft, wie ein Vater den Sohn, in dem er zu verwirklichen hofft, was ihm selbst zu erreichen versagt war, wie eine Mutter das Kind, für das sie wachen, sorgen und schaffen muß. Allnächtlich, wenn er sich müde gelesen und gearbeitet, ging er, ehe er selbst sein Lager suchte, in das Gemach der Knaben – er hätte nicht schlafen können, ohne seinen Liebling noch einmal gesehen zu haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen verbietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen, machte ihn den Tag über karg mit Liebkosungen; aber jetzt nahm er des Schlafenden Hände und streichelte sie und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.

Dich nennen sie lieblos, dich, meinen Liebling, dessen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe hungert. Und wenn sie alle dich verkennen und hassen, ich verstehe dich und will dich lieben.


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