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Einundvierzigstes Kapitel

Daß der Rat des Doktors vortrefflich sei, konnte Oswald um so weniger entgehen, als er noch vor kurzer Zeit über seine schiefe und ganz unhaltbare Situation in der Grenwitzschen Familie nicht viel anders gedacht hatte. Aber einen Ausweg aus diesem Labyrinth vermochte er nicht zu entdecken; wenigstens nicht für den Augenblick. Er hatte in der letzten Zeit über seine Liebe zu Melitta alles andere vergessen und an eine Veränderung, die ihn sofort von der Geliebten entfernen mußte, dachte er nicht, ja die Möglichkeit einer solchen hatte er immer als das größte Unglück angesehen. Und auch jetzt, wo durch Melittas Reise und durch den wahrscheinlichen Tod des Herrn von Berkow die Gegenwart und die Zukunft gleich dunkel und verworren schienen, konnte er sich unmöglich über einen Punkt entscheiden, der für Melitta nicht weniger wichtig war als für ihn selbst. Und dann, ganz abgesehen von seinem Verhältnis zu Melitta, hatte er so gar keinen stichhaltigen Grund, die Stellung, zu der er sich auf mehrere Jahre verpflichtet hatte, aufzugeben, daß er einen Bruch hätte gewaltsam herbeiführen müssen. Ein solcher kecker Schritt aber würde zu jeder Zeit für Oswalds Natur etwas Peinliches und Widerliches gehabt haben, und jetzt, wo die Baronin, gegen die er sich doch in einem solchen Falle wenden mußte, offenbar bemüht war, mit ihm, ebenso wie mit aller Welt, in Frieden und Freundschaft zu leben, fehlte es ihm sogar an dem Allerwichtigsten, an einem Gegner, der den von ihm hingeschleuderten Fehdehandschuh hätte aufnehmen können und mögen.

Überdies hatte er noch ganz kürzlich der Baronin den Gang des Unterrichts der Knaben bis zu der Zeit, wo er mit ihnen die projektierte große Reise durch England, Frankreich, die Schweiz, Italien, vielleicht auch Ägypten antreten würde, ausführlich geschildert, mit einem warmen Interesse, das, wenn es seine Absicht war, die Ausführung dieses Planes einem andern zu überlassen, mindestens unerklärlich schien. Auch auf den Wunsch der Baronin, mit Fräulein Helene die durch ihren Fortgang von der Pension unterbrochenen Studien wieder aufzunehmen, war er bereitwilligst eingegangen; und morgen schon sollten diese Lektionen, an denen auch die lernlustige Baronin manchmal teilzunehmen versprach, ihren Anfang nehmen.

Und abgesehen von dem allen, so hätte er doch, ging er von Grenwitz fort, auch Bruno verlassen müssen, Bruno, den er brüderlich liebte, dessen glänzende Fähigkeiten zu entwickeln ihm eine so köstliche Aufgabe deuchte, den in die Wissenschaft und hernach in das Leben einzuführen, bisher einer seiner liebsten Wünsche gewesen war!

Die kurze Reise schien, wie auf alle, so auch auf Bruno, einen sehr wohltätigen Einfluß gehabt zu haben. Er hatte viel von seinem trotzig düstern Wesen abgelegt; er suchte jetzt die Gesellschaft, die er früher im Verein mit Oswald gemieden hatte, und gab auch Oswald gute Worte, an Spaziergängen und an andern gemeinsamen Vergnügungen teilzunehmen. Er ahnte nicht, daß Oswald ihm durchaus kein großes Opfer brachte, wenn er diesen Bitten nachgab, ja, daß dieser sich nur zum Schein bitten ließ, um vor sich selbst die Inkonsequenz, deren er sich in dieser Beziehung schuldig machte, zu beschönigen. Bruno, von Oswald mit seinem Interesse an Dingen und Personen, die ihm sonst gleichgültig oder verhaßt gewesen waren, geneckt, sagte, er wisse nicht, was mit einem Male über ihn gekommen sei; ihm sei zumute wie einem Vogel, der, aus seinem Käfig entflogen, die Freiheit wiedererlangt habe; wie einer Blume, wenn nach Sturm und Regen die Sonne wieder scheine. Und wirklich, Bruno war munter wie ein Vogel und in dieser seiner Munterkeit schön wie eine Blume, die eben dem Lichte den vollen Kelch erschließt. Es war unmöglich, den herrlichen Knaben nicht zu bewundern: seine Freundlichkeit war ebenso hinreißend liebenswürdig, wie sein Trotz abstoßend und oft geradezu beleidigend war. Alle waren miteinander darüber einig, daß eine merkwürdige Veränderung mit Bruno vorgegangen sei; was aber diese Veränderung hervorgebracht hatte – das wußte, das ahnte keiner.

Dennoch hätte der Grund einem scharfsinnigen Beobachter nicht entgehen können und würde auch wohl Oswald nicht entgangen sein, wenn er mit seinen eigenen Herzensangelegenheiten nicht so vollauf beschäftigt gewesen wäre. Schon die Unterhaltung mit Bruno am ersten Abend hätte ihm einen Aufschluß geben müssen. Wie Helenes Name dort wieder- und wiederkehrte, so ließ sich jetzt alles, was der Knabe sagte und tat, schließlich auf Helene zurückbeziehen, obgleich er allerdings, dem Vogel gleich, der durch Hin- und Herflattern den Verfolger von seinem Nest fortzulocken sucht, sorgfältig darauf bedacht war, andere vorzuschieben und sich für Helene gerade am wenigsten zu interessieren schien. Was ist nur mit dem Knaben? fragten sich die andern, wenn sie sahen, wie seine dunkeln Augen leuchteten, wie stolz und kühn seine Haltung, wie elastisch sein Schritt war; wenn sie seine Stimme hörten, die bald so weich war wie ferner Gesang, bald in der Aufregung des Spiels, oder wenn sonst etwas seine Energie herausforderte, klar und scharf und machtvoll wie Drommetenton.

Und wenn es wirklich manchmal schien, als ob Bruno nur seiner schönen Cousine zuliebe dem Einsiedlerleben entsagt habe, so konnte dies um so weniger auffallen, als alle mehr oder weniger dem neuaufgegangenen glänzenden Stern huldigten.

Oder weshalb war die Baronin jetzt ganz Freundlichkeit und Güte? Weshalb erschien sie bei Tisch jetzt stets mit einem lächelnden Gesicht und bemühte sich, die Unterhaltung während der Mahlzeit nicht ins Stocken geraten zu lassen? Weshalb ließ der Baron, zum großen Ärger des schweigsamen Kutschers, sobald nur der Wunsch ausgesprochen war, diesen oder jenen weitergelegenen Punkt zu besuchen, die schwerfälligen Braunen anspannen – während so etwas vor der Reise geradezu ein Ereignis hatte genannt werden müssen? Weshalb hatte Herr Timm jetzt zum ersten Male seinen Frack aus der Ecke des melancholischen Koffers hervorgesucht und mit dem Frack, wie es schien, eine etwas weniger nachlässige Haltung und eine etwas weniger burschikose Sprache? Weshalb klang der Ton von Mademoiselle Marguerites Stimme jetzt etwas weniger scharf wie sonst? Und weshalb hatte sie sich gerade jetzt darauf besonnen, daß sie ein paar recht hübsche seidene Schleifen besitze, die schon seit Jahren in ihrer Kommode müßig gelegen hatten? Weshalb gab sich jetzt selbst Malte beim Reifenspiel Mühe, die Spielregeln beachten und den ihm zugeschleuderten Reifen womöglich aufzufangen?

Ob Fräulein Helene wußte, daß sie die Ursache aller dieser großen und kleinen Veränderungen war? Es war sehr schwer zu sagen, ob Fräulein Helene etwas bemerkt hatte oder nicht; ja, ob sie sich über etwas freute oder nicht; ob sie heiter war oder nicht; ob jemand in der Gesellschaft für sie vorhanden war oder nicht. Ihre stolze ruhige Miene veränderte sich sehr selten, und das Lächeln, zu dem sie sich gelegentlich herabließ, war, obgleich außerordentlich reizend, doch so flüchtig, daß man nicht wohl den Anteil, den ihr Herz etwa dabei hatte, bestimmen konnte. Sie war gegen ihre Eltern ganz die gehorsame, aufmerksame Tochter, gegen ihren Bruder die ältere Schwester, die, wenn sie die Schwächen des Bruders schonen soll, auch ihrerseits respektiert zu werden wünscht; gegen Mademoiselle Marguerite ganz die freundliche Herrin, die sich in jedem Augenblicke des Unterschiedes der Stellung bewußt bleibt; gegen Oswald und Albert ganz die vornehme junge Dame, die von der Pension her noch sehr gut weiß, wie tief die Verbeugung vor Herren in niedrigeren Lebensstellungen sein muß, und nur für Bruno schien sie eine herzliche Zuneigung zu haben, nur ihm gegenüber ließ sie etwas von der ruhig vornehmen Haltung nach, die sie im übrigen so wenig ablegen zu können schien wie die dunkle Farbe ihres reichen Haares oder den tiefen Glanz ihrer großen grauschwarzen Augen.

Aber wenn selbst die Baronin sich gegen ihren Gemahl über Helenes fast allzu schroffes Wesen beklagte, wenn sie die Bemerkung machte, die lange Abwesenheit scheine denn doch Helene ihrer Familie etwas entfremdet zu haben, so war dies freilich nur zu wahr, aber die Schuld daran traf weniger die junge Dame als die Baronin selbst. Sie war es gewesen, auf deren Wunsch Helene so lange Jahre fern von ihrem elterlichen Hause gewesen war; sie hatte dem schwachen Gemahl, wenn er sich nach der geliebten Tochter sehnte, auseinandergesetzt, wie vorteilhaft für die äußere und innere Bildung einer jungen Dame es sei, wenn sie so früh wie möglich in die strenge Schule eines Musterpensionats komme und so lange wie möglich dort bleibe; sie hatte schon vorher, wenn die Kleine sich liebevoll an sie schmiegen wollte, nur eine kalte Miene und ein paar kühle französische Redensarten für sie gehabt, bis das Kind, größer geworden, die Hoffnungslosigkeit des Versuchs, einen Weg zum Mutterherzen zu finden, einsah und sie fortan mit Liebkosungen verschonte, die nicht erwidert wurden. Die arme Kleine mußte das Unrecht, kein Knabe zu sein und nichts zur Sicherung des Majorats in der Familie tun zu können, schwer büßen, und sie hätte wohl noch lange, von der Mutter halb vergessen, in der Verbannung leben können, wenn diese nicht endlich auf den Gedanken gekommen wäre, ob Helene durch eine Heirat mit ihrem Cousin Felix, dem Majoratserben der Grenwitzschen Güter nach Maltes Tode, nicht doch vielleicht mittelbar zur Erhaltung der Herrschaft beitragen könne. Daß dieser Gedanke sich würde ausführen lassen, daran zweifelte die energische Frau nicht. Felix hatte nicht nur das Projekt höchlichst gebilligt, sondern schon alle Schritte getan, die ihm die Baronin als notwendige Vorbereitungen zum abzuschließenden Heiratskontrakt bezeichnete. Er hatte seinen Abschied genommen; er hatte die Garnisonstadt, den Schauplatz seiner Heldentaten, verlassen und sich auf seine Güter begeben, vermutlich, um sich die Stellen anzusehen, wo einst die schönen Waldungen standen, die er erbarmungslos hatte umhauen lassen, die dringendsten Gläubiger zu befriedigen. Baron Felix hatte die Gewohnheit, jedem, der ihm Geld lieh, alles zu versprechen, was man verlangte – warum sollte er nicht der Baronin versprechen, ihre Tochter zu heiraten, wenn sie sich anheischig machte, seine Schulden, die drückendsten wenigstens, zu bezahlen und ihm zu helfen, die in Grund und Boden gewirtschafteten Güter wieder nutzbar zu machen? Von dieser Seite sah die Baronin also nicht das geringste Hindernis der Ausführung ihres Projektes. Von seiten Helenes erwartete sie ebensowenig einen ernstlichen Widerstand, oder genauer, hatte sie bis zu diesem Augenblick einen solchen nicht erwartet. Sie hatte vergessen, daß sie ihre Tochter drei Jahre lang nicht gesehen, daß drei Jahre viel zu ändern vermögen und aus einem trotzigen, aber doch aus Furcht und Gewohnheit gehorsamen vierzehnjährigen Mädchen eine siebzehnjährige stolze junge Dame machen können, die unterdessen verlernt hat, vor ihrer Mutter zu zittern, und unter Leitung einer strengen, aber hochherzigen Erzieherin viel zu selbständig geworden ist, um ihren Willen so ohne weiteres dem eines andern, er sei auch, wer er sei, unterzuordnen.

Dies erkannte die Baronin fast auf den ersten Blick, als sie im Empfangssaale der Pension ihre Tochter zur Tür hereintreten sah. An der Haltung der jungen Dame, die ohne Hast, aber auch nicht zu langsam, auf die Mutter zuschritt, ihr die dargebotene Hand küßte und dann einen Schritt zurücktretend, wie weiterer Befehle gewärtig, in ruhiger Haltung stehenblieb, war sicher nichts auszusetzen; aber die großen Augen blickten so stolz und gelassen, und die Worte fielen so gemessen von den ausdrucksvollen Lippen, daß die Mutter fühlte, bei dieser ihrer Tochter, die ihr so fremd erschien, könne sie auf kindlichen Gehorsam, auf einen Gehorsam aus Liebe, mit Sicherheit nicht rechnen. Das große Projekt, das sie so ganz fertig im Kopfe trug, erschien ihr plötzlich in sehr ungewissem Lichte, und die ersten Worte, die sie nach der Begegnung zu ihrem Gemahl sprach, waren: »Ich glaube, lieber Grenwitz, wir werden in der Heiratsangelegenheit sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen. Du würdest mich verpflichten, wenn du mir die Sache vollkommen überließest. Eine ungeschickte Einleitung, ja nur eine Andeutung zur unrechten Zeit könnte leicht alles verderben.« – Der gute alte Mann kam dieser Aufforderung um so lieber nach, als selbst sein felsenfester Glaube an die Unfehlbarkeit seiner Anna-Maria nicht imstande gewesen war, die Bedenken, die er gegen das Heiratsprojekt hatte, gänzlich zu beseitigen.

Die Baronin sah ein, daß, im Falle Cousin Felix vor Helenes Augen keine Gnade finden sollte – und dieser Fall war zum mindesten nicht unmöglich – durch Einschüchterung, durch Gewaltmaßregeln nichts ausgerichtet werden könnte und daß Güte nicht nur der sicherste, sondern auch der einzige Weg sei. So war sie denn gütig, nach ihren Begriffen äußerst gütig gegen die schöne Tochter, und damit die andern nicht merkten, worauf dies alles hinausging, oder auch nur, um in der Übung zu bleiben, war sie es gegen diese auch. Seltsamerweise indessen schien gerade die, für die eine solche Gnadensonne leuchtete, am wenigsten dadurch erwärmt zu werden. Helene veränderte ihre ruhig abgemessene Haltung, ihr höflich kühles Wesen auch nicht im mindesten; die von der Baronin stets so gerühmte Pension hatte in der Erziehung Fräulein Helenes offenbar ein Meisterstück geliefert.

Und dennoch war dieses junge Herz, das so kalt, so unzugänglich schien, warmer Gefühle wohl fähig. Sie hatte, als sie von ihren Freundinnen und der hochverehrten Lehrerin Abschied nahm, heiße Tränen geweint, die sie freilich, als die Mutter eine Bemerkung darüber machte, sofort trocknete; sie erwies dem Vater manche Aufmerksamkeiten, auf die die bloße Höflichkeit nie verfällt; sie konnte ein armes Kind nicht bloß beschenken, sondern auch an die Hand nehmen und freundlich mit ihm sprechen.

Ihre Freundinnen, deren sie allerdings nur sehr wenige besaß, hatten niemals Ursache gehabt, über Lieblosigkeit von seiten Helenes zu klagen; und die Briefe, die sie von Grenwitz aus nach Hamburg schrieb, waren der Beweis, daß sie wenigstens gegen die, die sie liebte, weder kalt noch verschlossen war. So schrieb sie unter anderem an Mary Burton, eine junge schöne Engländerin, die sie von allen Freundinnen am liebsten hatte und die einen großen Einfluß auf sie ausgeübt hatte:

»Doch das sind tempi passati, meine gute Mary! Ich muß nun lernen, mich an der Musik zu ergötzen, ohne sie zusammen mit dir zu hören, und eine Gesellschaft erträglich zu finden, in der ich nicht deinen holden Augen begegne. Bis jetzt freilich fehlst da mir überall, und auch die andern; bis jetzt halte ich es nur für eine Möglichkeit, auch ohne euch froh sein zu können. Glaube indessen nicht, daß man mir hier unfreundlich begegnet! Im Gegenteil, ich muß gestehen, daß mir die Meinigen über all mein Erwarten liebenswürdig entgegengekommen sind. Von meinem Vater hatte ich es nicht anders erwartet, aber – du hast ja die Briefe meiner Mama gelesen! Du meintest, sie glichen sich wie eine Schneeflocke der anderen – auch sie ist viel weniger streng, als ich sie von früher her kannte und als sie in ihren Briefen erscheint. Sie läßt mir alle nur möglichen Freiheiten; ich kann – was wir uns in der Pension immer als das Höchste dachten – tun und lassen, was ich will. Meine Zimmer liegen im Erdgeschoß des alten Schlosses, dicht über dem Garten, in den aus meinem Salon eine Tür mit ein paar Stufen hinabführt. So lebe ich ganz ungestört, obgleich ich mit wenigen Schritten über die Korridore in die Wohnzimmer gelangen kann. Du weißt, ich fürchtete schon, hier nicht meiner großen Leidenschaft, des Abends spät, wenn alles rings um mich her still ist, zu musizieren, folgen zu können. So bin ich dieser Sorge vollkommen überhoben, und ich habe auch schon jeden Abend von dieser Freiheit den ausgedehntesten Gebrauch gemacht. Ich störe niemand, es müßten denn einige Herren sein, die ebenfalls in diesem Teile des Schlosses irgendwo über mir hausen, und glücklicherweise zur Kategorie derer gehören, die man in eurer aufrichtigen Sprache mit dem Ausdruck Nobody bezeichnet. Es sind nämlich der Hauslehrer, ein gewisser Herr Stein, und ein Geometer, der für Papa arbeitet, und den aristokratischen Namen Timm führt. Sie können beide für hübsche Männer gelten, oder, um ganz aufrichtig zu sein, ich vermute fast, daß du den Herrn Stein handsome and very gentlemanlike indeed finden würdest; aber du brauchst deshalb nicht zu glauben, daß sie oder einer von ihnen, einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich habe eine Antipathie gegen Leute in dergleichen untergeordneten Stellungen wie etwa gegen Kattunkleider und böhmische Diamanten. Das mag recht gut sein für Bürgermädchen und Gouvernanten, aber für uns paßt es nicht. Ich sehe die Herren des Mittags, des Abends – im übrigen existieren sie nicht für mich. Herrn Stein begegne ich außerdem noch jeden Morgen früh im Garten, denn die Vögel singen hier so dicht unter meinen Fenstern, daß man aufstehen muß, man mag wollen oder nicht. Ich wäre dieser Begegnungen gern überhoben, aber was läßt sich tun? Ich kann dem armen Menschen, der hernach von sieben bis elf den Knaben Unterricht erteilt, nicht wohl verbieten, die einzige freie Morgenstunde, die er hat, zu benutzen, und wenn ich selbst später ginge, so käme ich wieder um den schönsten Genuß; also: Ich muß es mir gefallen lassen – non son' rose senza spine! Übrigens ist dieser Stein, trotzdem er nur ein böhmischer Diamant ist, so fein geschliffen, daß ihn ein weniger geübtes Auge leicht mit einem echten verwechseln könnte. Er hat, was man bei Leuten aus den unteren Ständen so selten findet, viel Haltung und Selbstbeherrschung. Er hat eine Weise, mit der ruhigsten Miene von der Welt, jemand, er sei, wer er sei, eine Schmeichelei oder eine Malice zu sagen, die wirklich in Erstaunen setzt.

So sagte er gestern, als wir uns zum dritten Male zur selben Zeit und an demselben Orte auf dem Walle begegneten und dasselbe Gespräch über das Wetter geführt hatten, ob wir nicht in Zukunft bis eine Veränderung des Wetters einträte, ganz einfach: wie gestern sagen wollten? Wir wären dann doch nicht ganz stumm aneinander vorübergegangen, was für Hausgenossen immer etwas Peinliches habe, und dabei wären doch die Kosten der Konversation beinahe bis auf Null reduziert, eine Ersparnis, die selbst für den Geistreichsten – hierbei eine halb ironische Verbeugung – nicht ganz unbedeutend sei. – Das war doch ziemlich stark; aber wie gesagt, er bringt dergleichen mit so ruhigem Lächeln vor, daß man niemals weiß, ob er es im Scherz oder im Ernst sagt. Auch scheinen alle, selbst Mama, einen ziemlichen Respekt vor ihm zu haben. Zwischen Bruno und ihm existiert ein ganz eigentümliches Verhältnis, gar nicht wie zwischen Lehrer und Schüler, sondern wie zwischen Freunden, die innigst verbrüdert sind, etwa wie Orest und Pylades; und wirklich, es ist ein reizender Anblick, wenn man sie Arm in Arm zusammen durch den Garten schlendern sieht. Diese rührende Freundschaft hindert indessen Bruno nicht, sich bei jeder Gelegenheit als mein Ritter zu gerieren. Der Junge sieht mir wahrlich an den Augen ab, was ich will und wünsche; oder vielmehr er ahnt und weiß es, ohne daß er mich nur anzusehen braucht. Es ist mir manchmal ordentlich unheimlich dabei. Wenn ich auf dem Spaziergange denke, du könntest auch wohl ohne Tuch gehen, sagt Bruno sicher: ›Soll ich dir das Tuch ein wenig tragen, Helene?‹ Bei Tisch, wo er neben mir sitzt, reicht er mir nur, was ich gern habe, anderes läßt er vorübergehen und sagt: ›Das issest du doch nicht, Helene!‹ Er ist ein lieber Junge, obgleich eigentlich dieser Name nicht mehr recht auf ihn paßt, denn er wird nächstens sechzehn Jahr und ist groß und stark und schön wie ein junger Achill. Ich glaube, er würde für mich durchs Feuer gehen; ins Wasser wenigstens ist er gestern schon für mich gesprungen. Wir gingen des Abends auf dem Wall spazieren und ein plötzlicher Windstoß warf meinen runden Strohhut – du kennst ihn ja – in den Graben. ›Mein armer Hut!‹ rief ich. – ›Willst du ihn wiederhaben?‹ fragte Bruno? – ›Ei natürlich‹, sagte ich, – aber nur im Scherz, denn ich weiß, daß der Graben sehr tief ist und an dieser Stelle war er noch dazu wohl zwanzig Schritt breit, und der Hut schwamm mitten drauf. Aber Bruno war mit zwei Sprüngen den Wall hinab und ins Wasser hinein. Ich war wirklich erschrocken, und ich glaube, ich stieß sogar einen leichten Schrei aus. ›Beruhigen Sie sich‹, sagte Herr Stein – außerdem war glücklicherweise niemand zugegen – ›Bruno schwimmt wie ein Neufundländer, und selbst wenn er nicht wieder herauskäme, so ist er ritterlich im Dienste der Damen gestorben. Das ist immer ein Trost.‹ – Glücklicherweise kam Bruno nach ein oder zwei ängstlichen Minuten wieder ans Land geschwommen, und Herr Stein half ihm beim Heraussteigen, dann gingen sie beide lachend von dannen und ließen mich mit dem nassen Hut in der Hand – ein rührendes Bild – ganz allein stehen. – Übrigens scheint mir Herr Stein doch übelgenommen zu haben, daß ich seinen Liebling in diese Gefahr brachte. Wenigstens ist er heute morgen nicht auf der Promenade erschienen, bei Tische sehr einsilbig gewesen und hat die Literaturstunde, die er mir wöchentlich zweimal gibt, absagen lassen, ›weil er Kopfschmerz habe‹, was ihn freilich, wie ich von meiner Stube aus beobachten kann, nicht hindert, in der glühenden Nachmittagssonne draußen im Garten mit unbedecktem Haupt eine halbe Stunde lang, die Arme untereinandergeschlagen, auf einem Fleck zu stehen und in das Wasserbecken eines Brunnens zu starren, von dem eine Najade aus Sandstein lächelnd auf ihn herabschaut – er ist ein wunderlicher Heiliger.«


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