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Siebentes Kapitel

Oswald war mit Bruno aus den Bäumen, die den Rasenplatz umsäumten, dem Schlosse gegenüber herausgetreten. Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben Schulter, der wiederum seinen Arm um Oswalds Hüften geschlungen hatte und lächelnd in das Gesicht des jungen Mannes aufschaute, während dieser angelegentlich zu ihm sprach. Als sie ein paar Schritte auf die Wiese gemacht hatten, blieben sie stehen. Oswald deutete mit der Hand nach der Richtung, aus der sie gekommen waren, und Bruno sprang in das Gehölz zurück. Der junge Mann stand, die Rückkehr seines Freundes erwartend und köpfte mit dem Stäbchen, das er in der Hand trug, zum Zeitvertreib einige Gräser, die allzulang emporgeschossen waren. Er hatte keine Ahnung davon, daß fünfzig Schritte von ihm ein Paar ebenso schöner wie scharfer Augen jeden seiner Züge musterte, jede seiner Bewegungen sorgfältig beobachtete.

Wenn das der neue Hauslehrer ist, so ist er ein Beweis mehr für den alten Satz, daß es zu jeder Regel Ausnahmen gibt. Der sieht wahrlich nicht aus, als ob er zu der Familie der Bemperleins gehörte. Diesen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit aus der Residenz gebracht. Sehr nett, in der Tat, für einen Hauslehrer fast zu nett. Sie scheinen etwas eitel zu sein, mein Herr, und lange Konferenzen mit Ihrem Schneider zu halten. Aber Sie sind hübsch gewachsen, daß muß man Ihnen lassen, und der kleine Schnurrbart steht Ihnen ausnehmend gut. Wollen Sie nicht gefälligst einmal den Kopf in die Höhe heben; ich wünschte Ihre Augen zu sehen. So – sauve qui peut!

Melitta trat, als Oswald jetzt zufällig die Augen aufschlug, schnell zurück, so daß sie hinter der Tür verborgen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in einen Spiegel, der sich in der Nähe befand, und glättete rasch ihr üppiges Haar. Dann näherte sie sich verstohlen wieder der Tür.

Bruno kam aus den Bäumen herbeigesprungen und zeigte Oswald ein Büchelchen: »Hier ist es«, rief er, »aber Sie bekommen es nicht.« Oswald wollte den mutwilligen Knaben haschen, der ihn immer herankommen ließ, um ihm dann jedesmal durch eine blitzschnelle Wendung oder einen Satz, dessen sich ein Unkas nicht hätte zu schämen brauchen, zu entgehen.

Melitta war, durch das hübsche Schauspiel angelockt, aus ihrem Versteck getreten. Sobald Bruno ihrer ansichtig wurde, rannte er auf sie zu, und Oswald, der, über die unerwartete Erscheinung der Dame verwundert, stehengeblieben war, sah, wie der Knabe ihre Hände ergriff und mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen drückte.

»Da bist du ja, mein Wilder!« sagte die Dame und streichelte die dunklen Locken des Knaben. »Wo hast du denn den ganzen Nachmittag gesteckt?«

»Ich bin spazieren gewesen – mit Oswald, wollte sagen, mit Herrn Doktor Stein«, rief Bruno, und dann zu Oswald sich wendend, der grüßend näher getreten war, »dies ist Frau von Berkow, Oswald, von der ich Ihnen nur noch heute morgen erzählte; dies ist Herr Stein, Tante Berkow, den ich sehr, sehr lieb habe, und den Sie auch ein wenig lieb haben sollen.«

»Man darf seine Ware nicht zu sehr anpreisen, Bruno«, sagte Oswald, sich lächelnd vor der jungen Frau verbeugend, »oder der Käufer wird stutzig.«

»Nicht, wenn der Verkäufer so gut akkreditiert ist, wie dieser Wildfang bei mir«, sagte Melitta, leicht errötend. »Wie lange sind Sie schon auf Grenwitz, Herr Doktor?«

»Seit vierzehn Tagen etwa, gnädige Frau.«

»Sagte mir die Baronin nicht, daß Sie aus Berlin kämen?« fragte Melitta, die neugierig war, zu erfahren, ob sich ihre Vermutung wegen Oswalds Anzug bestätigte.

»Nicht direkt, gnädige Frau; ich lebte zuletzt in Grünwald.«

»In Grünwald? Das interessiert mich. Da könnten Sie mir ja gleich die beste Auskunft geben. Die Sache ist nämlich die – aber ich langweile Sie gewiß mit meinen indiskreten Fragen!«

»Bitte, gnädige Frau; ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen irgendwie dienen zu können.«

»Sehr gütig. Die Sache ist die. Ich will meinen Sohn – er ist ungefähr in Brunos Alter –«

»Oho, Tante, drei Jahre jünger!« rief Bruno, der sich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukelbank wiegte.

»Welch scharfes Ohr der Junge hat«, sagte Melitta, ihre Stimme senkend. »Also, ich will meinen Julius nach Grünwald aufs Gymnasium schicken. Oder vielmehr, ich muß, denn sein Lehrer, ein Herr Bemperlein, der schon sechs Jahre bei ihm ist, hat eine Predigerstelle bekommen und wird uns in diesen Tagen verlassen. Nun weiß ich nicht – aber da kommt die Baronin –, ich muß meine tausendundeine Frage über tausendundein verschiedene Dinge, die mir so vollkommen fremd sind wie meinem guten Bemperlein, der längst verlernt hat, wie es in der Stadt aussieht, wenn er es überhaupt jemals wußte, auf eine gelegenere Zeit versparen. Hier kommt man ja doch nicht dazu. Wie wär's, Herr Doktor, wenn Sie mich in diesen Tagen mit Ihrem Besuche beehrten, morgen nachmittag etwa?«

Oswald verbeugte sich.

»Ich habe den Herrn Doktor gebeten, mir morgen seinen Besuch zu schenken«, sagte Melitta, zur Baronin gewandt, die in diesem Augenblick mit Mademoiselle Marguerite wieder ins Zimmer trat. »Es ist wegen der Grünwalder Angelegenheit. Ihr habt doch nicht morgen nachmittag etwas Besonderes vor, denn ich möchte nicht, daß der Herr Doktor Stein mir ein allzugroßes Opfer bringt.«

»Wir etwas vorhaben?« sagte die Baronin. »Sie kennen ja unser stilles Leben, liebe Melitta; im Gegenteil, ich denke, eine kleine Zerstreuung der Art wird Herrn Doktor Stein, der die Einförmigkeit eines ländlichen Aufenthaltes sicher schon empfunden hat, recht willkommen sein. Ich selbst wollte Sie für morgen schon zu einem Besuche zu bestimmen suchen, Herr Stein; bei unserm Pastor, der schon empfindlich sein wird, daß Sie sich ihm noch nicht vorgestellt haben.«

»Nun, das läßt sich ja ganz gut vereinigen«, sagte Melitta, »morgen ist Sonntag, der Pastor Jäger wird entzückt sein, wenn Sie die nicht allzugroße Anzahl seiner Zuhörer durch Ihre Person vermehren. Berkow ist von Faschwitz durch den Wald nur ein halbes Stündchen entfernt. Ich würde Sie gleich zu Mittag einladen, aber ich weiß, daß die Frau Pastorin Sie nicht sobald wieder fortlassen wird. Nun, was sagen Sie, Herr Doktor?«

»Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten Dank aussprechen, daß Sie die Güte haben wollen, über meine Zeit besser zu disponieren, als ich es auf jeden Fall imstande wäre«, antwortete Oswald mit einer höflichen Verbeugung.

»Das heißt: Der Weise schickt sich in das Unvermeidliche«, sagte Melitta lachend. »Und hier kommt der Baron mit Malte, und wir können zu Tische gehen, wonach ich, offen gestanden, großes Verlangen trage.«

Die Tafel war auf dem niedrigen Perron, der nach dem Garten zu dem Schlosse in seiner ganzen Länge angebaut war, unter einem Zeltdach gedeckt. Der Abend war herrlich. Die Sonne war im Untergehen. Rosige Lichter spielten in den Wipfeln der hohen Buchen, die den schattigen Rasenplatz umgaben. Schwalben schossen zwitschernd und zirpend durch die klare Luft. Ein Pfau kam, durch das wohlbekannte Klappern der Teller herbeigelockt, aus dem Gebüsch eilig über die Wiese geschritten, und sammelte die Brocken auf, die der alte Baron ihm über das Steingeländer des Perrons zuwarf.

Die Unterhaltung war heute um vieles lebhafter, als es wohl sonst der Fall war. Die Baronin konnte, wenn sie wollte, eine sehr angenehme Wirtin machen, und sie war, trotz ihrer zur Schau getragenen Abneigung gegen weltlichen Sinn, durchaus nicht so frei von Eitelkeit, daß es ihr gleichgültig gewesen wäre, neben Melitta übersehen zu werden. Melitta aber war in der liebenswürdigsten Laune; sie scherzte und lachte, neckte und ließ necken, unbefangen, harmlos, wie ein Kind. Es fiel Oswald, während er sich dem Zauber von Melittas reizender Erscheinung willig überließ, nicht ein, zu glauben, seine Gegenwart könne etwas zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen, und doch war dies in einem hohen Grade der Fall. Es gibt wenige Frauen, die vollkommen indifferent dagegen sind, welchen Eindruck sie auf ihre Umgebung hervorbringen, und Melitta gehörte durchaus nicht zu diesen wenigen Frauen, wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreglicher Sinnlichkeit, die sich durch gefällige und schöne Formen in einer Weise bestechen lassen, die kälteren Temperamenten unbegreiflich ist. Nun war Oswald, ohne das zu sein, was man einen schönen Mann nennt, von der Mutter Natur nichts weniger als stiefmütterlich ausgestattet, und die gute Gesellschaft, in der er sich stets bewegt, hatte die natürliche Grazie seiner Manieren noch erhöht. Das alles überraschte Melitta um so angenehmer, als sie es bei einem Manne von einer nach ihren Begriffen so untergeordneten Stellung am wenigsten erwartet hatte. Oswald erschien ihr mit jedem Augenblick bedeutender; sie fing an, ihre brüske Einladung von vorhin doch recht unpassend zu finden, und zugleich entzückte sie der Gedanke, den liebenswürdigen jungen Mann so bald bei sich zu sehen. Es schmeichelte ihr, wenn, was über Tische mehrmals geschah, Oswalds Blicke den ihren begegneten, und doch senkte sie jedesmal die Wimpern vor einem Augenpaar, das bei aller Unbefangenheit so beredt und forschend blicken konnte.

Nach der Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin, da Melitta erklärte, noch ein Stündchen bleiben zu können, ein Reifenspiel in Vorschlag; Bruno sprang fort, die Reifen zu holen, die weder verlegt noch außerstande waren, ein Umstand, der gewiß für die musterhafte Ordnung, die in dem Schlosse Grenwitz herrschte, beredt genug spricht; und bald hatte sich die Gesellschaft auf dem Rasen in einem weiten Kreis aufgestellt, und die bunten Reifen flogen lustig durch die weiche, warme Abendluft von einem zum anderen. Alle, selbst der alte Baron, legten eine größere oder geringere Geschicklichkeit an den Tag, mit Ausnahme von Malte, der seinen Reifen in den meisten Fällen, wo er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam, fallen ließ, eine Gelegenheit, die Melitta, seine Nachfolgerin, zum großen Ärger Brunos, der die Spielregeln eingehalten wissen wollte, jedesmal benutzte, ihren Reif aus der Reihe einem der Mitspieler blitzschnell über den Kopf zu schleudern, wobei Oswald nichts umhin konnte, zu bemerken, daß Melitta ihn häufiger wie die übrigen auf diese Weise auszeichnete.

Unterdessen war der Abend tiefer herabgesunken; der alte Baron hatte eine schwache Spur von Tau auf dem Rasen bemerkt; Abendtau aber war nach seiner Meinung reines Gift für Malte, der als kleines Kind eine Zeitlang viel an der Bräune gelitten hatte, und er mahnte deshalb dringend, das Spiel einzustellen. Melitta fand, daß es hohe Zeit für sie sei, aufzubrechen, und bat, ihrem Reitknecht Befehl zu geben, die Pferde zu satteln. Bruno war fortgesprungen, den Auftrag auszurichten; die Baronin mit Mademoiselle in das Zimmer getreten; der Baron beschäftigt, Malte, der sich durchaus erkältet haben sollte, ein dickes Schaltuch um den Hals zu wickeln; Oswald und Melitta waren zum ersten Male seit ihrer unterbrochenen Konversation von vorhin allein geblieben. Melitta hatte von einem Rosenstrauch, der zu den Füßen der Flora wuchs, eine Rose gepflückt und betrachtete sinnend die köstliche Blume.

»Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte sie plötzlich, leise und rasch, aber ohne die Augen aufzuschlagen, »daß ich vorhin die Ungeschicklichkeit beging, Sie ohne weiteres um einen Besuch zu bitten, der Ihnen am Ende beschwerlich fällt, aber –«

»Kein Aber, gnädige Frau; ich wiederhole im Ernst, was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit sagte, daß ich mich glücklich schätzen würde, Ihnen irgendwie dienen zu können.«

»Sie kommen also morgen?«

»Wie Sie befehlen.«

»Nein: wie ich wünsche. – Sehen Sie nur, wie wundervoll diese Rose ist! Lieben Sie auch die Rosen so?«

»Ich liebe alles, was schön ist«, sagte Oswald, nicht auf die Rose, sondern auf Melitta blickend.

Sie hob die langen Wimpern und schaute dem jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen. »Da!« sagte sie plötzlich und hielt ihm die Rose entgegen, als ob er ihren Duft einatmen sollte; er aber fühlte nur, wie sich die schlanken Finger der Dame leicht wie ein Hauch auf seine Lippen legten.

»Die Pferde sind da, Tante!« rief Bruno.

»Ich komme!« antwortete Melitta und eilte von Oswald fort.

Die Rose lag zu seinen Füßen; er bückte sich schnell, hob sie auf und verbarg sie an seiner Brust.

Mademoiselle Marguerite brachte Melitta Federhut, Reitpeitsche und Handschuh.

»Ist die Baronin im Zimmer?«

»Ja..

»So will ich gehen, ihr Adieu zu sagen.«

Der alte Baron, Oswald und die Knaben gingen durch die Gittertür des Parks nach dem Schloßhofe, wo ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte. Oswald bewunderte die Schönheit dieser Tiere, besonders das mit dem Damensattel, ein herrliches Vollblut, Melittas Lieblingspferd: Bella.

Melitta trat, von der Baronin und Mademoiselle gefolgt, aus dem Portale rasch auf ihr Pferd zu. Der alte Baron hob sie in den Sattel.

»Adieu, adieu!« rief sie herunter. »Allez! Bella!« und so sprengte sie aus dem Schloßhof, hinein in den dämmerigen Abend.

Die anderen waren wieder ins Haus getreten. Oswald stand, die Augen nach dem Tor gerichtet, durch das Melitta verschwunden war, in sich versunken da.

»Wollen wir nicht hineingehen, Oswald?« fragte Bruno, seine Hand ergreifend. »Es ist dunkel geworden.«

»Es ist dunkel geworden«, wiederholte der junge Mann und folgte träumend dem Knaben.


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