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Fünfunddreißigstes Kapitel

Die Baronin Grenwitz war aus mehr denn einem Grunde fest entschlossen, Oswald auf der projektierten Badereise nach Helgoland nicht mitzunehmen, und sie hatte während der dreitägigen Visitentour vielfach bei sich überlegt, wie sie, ohne sich doch selbst gar zu viel zu vergeben, diesen Entschluß ausführen könnte. Wie erfreut war sie deshalb, als Oswald bei ihrer Zurückkunft (es war den Tag nach Melittas Abreise) ihre leiseste Anspielung, ob es ihm nicht lieber wäre, diese Zeit ganz zu seiner Erholung zu verwenden, begierig ergriff; als er erklärte, während dieser Zeit nicht einmal auf dem Schlosse bleiben, sondern eine Reise, vielleicht durch die Insel, die er noch nicht kannte, vielleicht nach Berlin zu seinen Freunden machen zu wollen. Anna-Maria freute sich so sehr über dieses ganz unerwartete Entgegenkommen, daß sie nicht einmal über die Motive, die Oswald dazu bestimmt haben mochten, nachdachte, ebensowenig wie über sein düsteres zerstreutes Wesen und über die Gleichgültigkeit, mit denen er den Vorbereitungen zur Reise zusah und schließlich am Tage der Abreise von allen, selbst von Bruno Abschied nahm. Vielleicht ärgerte er sich, daß man ihn nicht mitnahm, vielleicht wußte er nicht, wo er bleiben sollte. Gleichviel, wenn er nur nicht auf dem Schlosse blieb, wenn er nur, wie er es wirklich tat, in demselben Augenblicke, wo die Familienkutsche, bespannt mit den vier schwerfälligen, von dem schweigsamen Kutscher gelenkten Braunen, langsam und würdevoll zu dem Haupttor hinausfuhr, das leichte Ränzel auf dem Rücken, durch das andere Tor in die weite Welt hineinwanderte.

Aber Herr Albert Timm durfte bleiben! Er machte nicht so lächerliche Ansprüche wie der hochmütige Oswald; er war mit allem zufrieden! Und dann konnte er in der Einsamkeit des Schlosses so ungestört arbeiten, und die schleunige Vollendung der Flurkarten war von so großer Wichtigkeit! Mademoiselle war angewiesen, es Herrn Timm an nichts fehlen zu lassen. Daß es vielleicht nicht ganz schicklich sei, ein junges Mädchen von zwanzig Jahren und einen jungen Mann von sechsundzwanzig Jahren unter der Aufsicht einiger Dienstleute, über die das junge Mädchen das Kommando führte, auf einem einsamen Schlosse zurückzulassen, war sonderbarerweise der so überaus strengen Baronin gar nicht in den Sinn gekommen. Die tugendhafte Frau würde die Nase gerümpft, würde es unverantwortlich, unverzeihlich gefunden haben, wenn sie gehört hätte, daß der junge Graf Grieben mit Fräulein von Breesen fünf Minuten nur in einem Zimmer allein gewesen sei, aber der Geometer Timm und ihre Wirtschafterin Marguerite Roger – du lieber Himmel! Sich um das Schicksal solcher Leute auch noch den Kopf zu zerbrechen – das ist offenbar zu viel verlangt! Und Marguerite hatte nicht einmal Eltern, denen man vielleicht verantwortlich gewesen wäre – sie hatte gar keine Verwandte –, wie kann man für jemand verantwortlich sein, der ganz allein in der Welt dasteht! Man hatte Frau Pastor Jäger gebeten, sich von Zeit zu Zeit zu überzeugen, daß den Befehlen der Frau Baronin strenge Folge geleistet würde – Frau Pastor Jäger war eine vortreffliche Frau, die kleine Marguerite stand unter vortrefflicher Aufsicht.

Die kleine Marguerite stand unter so vortrefflicher Aufsicht, daß Albert die weise Fürsorge, die die Baronin getroffen hatte, nicht genug loben konnte.

»Ich wollte, sie käme nicht wieder«, sagte er zu der hübschen Genferin, während sie Arm in Arm im Garten umherspazierten; »ich wollte, sie kippten zwischen Helgoland und der Düne, wo es am tiefsten ist, mit dem Boote um, und wir könnten hier, wie jetzt, herrlich und in Freuden leben bis an unser seliges Ende. Was meinst du, kleine Marguerite, möchtest du wohl Frau Rittergutsbesitzerin Timm von Grenwitz auf Grenwitz sein? Das wäre doch famos! Dann wollte ich dir Wagen und Pferde halten, ja, und auch eine Wirtschafterin, die du ebenso quälen könntest, wie du jetzt gequält wirst.«

»Ich bin schon zufrieden mit wenigem, wenn ich es nur kann teilen mit Sie.«

»Sehr edel gedacht, aber besser ist besser, und übrigens heißt es in diesem Falle nicht Sie, sondern Ihnen, oder vielmehr dir, denn bei uns zulande nennen sich Leute, die sich lieben, du, besonders wenn sie die respektable Absicht haben, sich gelegentlich zu heiraten.«

»Und Sie mich wirklich wollen 'eiraten? Ach, ich kann es glauben kaum! Was will ein Mann, comme vous, dem die ganze Welt offen ist, 'eiraten ein armes Mädchen, die nicht einmal ist 'übsch.«

»Das ist meine Sache. Und nebenbei bist du jedenfalls 'übscher und reicher als ich. Dreihundert Taler –«

»Dreihundertfünfundzwanzig Taler«, sagte Mademoiselle Marguerite eifrig.

»Desto besser – das ist immer schon etwas für den Anfang. Wenn ich mein bares Vermögen dazurechne –« Herr Timm griff in die Tasche und brachte einige Münzen zum Vorschein –, »haben wir dreihundertfünfundzwanzig Taler, siebzehn Silbergroschen und acht Pfennige. Das ist ein ganzes Kapital.«

»Wir uns dafür werden kaufen ein kleines Haus.«

»Versteht sich.«

»Ich werde geben Unterricht im Französischen.«

»Natürlich.«

»Und du wirst sein fleißig und arbeiten.«

»Comme un forçat – oh, es wird ein charmantes Leben werden«, und Herr Timm faßte die kleine Französin um die Taille und walzte mit ihr in der Laube, in der sie sich befanden, umher.

»Ich nun muß hinein, den Leuten zu geben Vesperbrot«, sagte Marguerite, sich losmachend.

»So lauf, du kleiner Grasaff; aber komm bald wieder«, sagte Herr Timm.

Herr Timm sah der Enteilenden nach. »Dummes kleines Frauenzimmer«, sagte er, »glaubt wahrhaftig, ich werde sie heiraten. Das fehlte auch noch – für dreihundert Taler, die ich früher an ein paar Abenden verspielt habe! Es ist wirklich großartig, was sich diese Mädchen nicht alles einbilden! Und dabei ist diese gar nicht so dumm, wie sie aussieht, und scheint trotz ihres fürchterlichen Deutsch den Goethe gründlich studiert zu haben: ›Tut keinem Dieb nur nichts zu Lieb, als mit dem Ring am Finger –‹ Hm, hm, ich werde ihr wahrhaftig einen Ring kaufen müssen. Die dreihundert Taler wären freilich so übel nicht. Diese verdammten Gläubiger! Nicht einmal in diesem Winkel lassen sie einen ungeschoren.«

Herr Timm faßte in die Brusttasche und holte einige Briefe von verdächtigem Aussehen hervor, die er, nachdem er sich in die Ecke einer Bank gesetzt, einen nach dem andern entfaltete und eifrig studierte. Sein sonst so lustiges Gesicht verdüsterte sich dabei zusehends. »Verdammt«, murmelte er, »die Kerle werden wirklich unverschämt. Wenn ich den brummenden Bären doch nur so ein paar hundert Taler in den Rachen werfen könnte, so schweigen sie doch für eine Weile wenigstens. Die dreihundert, welche die kleine Marguerite im Sparkassenbuche hat, kämen mir wirklich gelegen. Es wäre am Ende nur zu ihrem Vorteil, wenn ich sie darum ärmer machte. Denn daß ich mein Versprechen, sie zu 'eiraten, ohne die dringendste Not nicht halten werde, liegt doch für jeden Verständigen auf der Hand. Fühle ich mich nun ihr gegenüber nicht nur moralisch, sondern auch anderweitig verpflichtet, so hat sie immerhin eine Chance mehr. Ich kann ihr ja sagen, ich könne das Geld besser anlegen oder dergleichen. Wenn die dummen Dinger verliebt sind, glauben sie ja alles, was man ihnen aufbindet. Und kann sie das Geld besser anlegen, als wenn sie sich damit einen charmanten Kerl von Mann erkauft, der sie im anderen Falle nicht 'eiraten würde. Me herculem! Ich fühle mich ordentlich gehoben durch den Gedanken, auf diese Weise der Wohltäter des Mädchens zu werden. Ich will die Kleine doch einmal ins Gebet nehmen. Weigert sie sich, so werde ich sie freilich ihrer Klugheit wegen achten müssen, aber mit unserer Liebe ist es aus.«

Albert erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken, wie es seine Gewohnheit war, wenn sein scharfsinniger Kopf an der Lösung eines Problems arbeitete, langsam nach dem Schlosse. Marguerite schaltete noch in der Küchenregion; Albert verfügte sich auf sein Zimmer, um noch einige Minuten ungestört über seine Aufgabe nachzudenken.

Er beugte sich über die Karte, die auf dem großen Reißbrett aufgespannt war, und an der er seit der Abreise der Familie nicht das mindeste gearbeitet hatte.

»Wenn das so fortgeht, wird sich Anna-Maria über meine Fortschritte wundern«, murmelte er. »Die kleine Marguerite ist doch nicht allein daran schuld? Richtig, jetzt besinne ich mich – ich brauche eine Karte aus der Registratur und ließ mir schon vor acht Tagen den Schlüssel dazu geben. Die muß ich mir wenigstens holen, sonst – bei meiner heißen Liebe zur kleinen Marguerite! – bleibt diese angefangene Karte ein Fragment in Ewigkeit!«

Albert ging in die Registratur, ein großes Gemach in dem Erdgeschoß des alten Schlosses, dessen Wände von oben bis unten mit Repositorien voll ganz oder halb vergilbter Akten und Schriftstücke der verschiedensten Art bedeckt waren, deren gar manches für einen fleißigen Altertümler von hohem Interesse gewesen wäre. Während er in einem der Repositorien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wohl wie schon einige andere ähnliche in das Versteck, aus dem er sie unversehens hervorgeholt hatte, zurückgeschleudert haben würde, wenn nicht die Aufschrift: »An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren, auf Grenwitz« seine Neugierde erregt hätte. Herr Timm löste ohne weiteres den roten Faden, mit dem die Briefe zusammengebunden waren, und begann sie einen nach dem andern zu lesen – eine Beschäftigung, die ihn so ausnehmend interessierte, daß er alles andere darüber vergaß und selbst das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale stillhielt und dessen höchst unerwartete Ankunft eine nicht geringe Sensation in dem Schlosse hervorrief.


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