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Fünftes Kapitel

Die Wirtschaftsgebäude und Häuslerwohnungen, die zu dem Gute Grenwitz gehörten, lagen außerhalb des Walles, den man, um die Verbindung mit dem Schlosse und dem Hofe zu erleichtern, nach dieser Seite durchbrochen hatte. Ein hölzernes Gittertor, das nicht einmal verschlossen, und eine Brücke, die nicht aufgezogen werden konnte, sprachen für den friedlichen Sinn der Nachkommen jener kriegerischen Barone, die das massive Tor auf der anderen Seite mit seiner in schweren Eisenketten hängenden Zugbrücke erbaut hatten. Der Verkehr zwischen dem Schlosse und dem Hofe beschränkte sich so ziemlich auf den Austausch oft höchst energischer diplomatischer Noten zwischen der Wirtschafterin und dem Verwalter, die über das Quantum und die Qualität der Naturalien, welche dieser oder jener zu liefern hatte, stets wesentlich verschiedener Meinung waren. Das Gut war, wie die übrigen Besitzungen der Familie, verpachtet; der Pächter, ein Herr Bader, wohnte auf einem der Nebengüter, das er ebenfalls in Pacht hatte, und kam selten nach Grenwitz, dessen Bewirtschaftung er seinem Inspektor überließ.

Oswald, für den die Landwirtschaft ebenso neu war wie das Leben auf dem Lande, lenkte seine Schritte bald häufig nach dem Hofe, um sich von dem Inspektor durch die Ställe und Scheunen führen und sich von ihm etwas in die Mysterien des Ackerbaues und der Viehzucht einweihen zu lassen. Der Inspektor, namens Wrampe, war ein riesiger Mann, der stets in gewaltigen Stulpenstiefeln einherging und dem Aberglauben zu huldigen schien, er werde seine ungeheure Körperkraft verlieren, wenn er seinen struppigen schwarzen Bart schöre oder dem Regenwasser das ausschließliche Privilegium entzöge, sein sonnenverbranntes Gesicht zu waschen. Das breite Platt jener Gegend war seine Mutter- und Vatersprache, das Hochdeutsche haßte er und hielt alle, die es sprachen, in seinem Herzen für Schelme; seine Stimme glich, aus der Ferne gehört, wesentlich dem Gebrüll eines etwas heiseren Löwen. Seine Feinde sagten ihm nach, daß er die üble Gewohnheit habe, sich von Zeit zu Zeit zu betrinken; da er dies aber jeden Monat höchstens einmal und dann immer gleich auf mehrere Tage tat, um die übrige Zeit desto energischer zu sein, so drückten seine Freunde und zumal sein Brotherr über diese kleine Schwäche freundlich die Augen zu. Oswald unterhielt sich gern mit dem Manne, der in seiner täppischen Gutmütigkeit, seinem derben, oftmals freilich auch rohen Wesen, seiner mit Sprichwörtern reichlich untermischten Rede ein nicht schlechter Repräsentant der Landleute jener Gegend war.

So hatte er denn auch eines Nachmittags mit den Knaben einen Spaziergang nach dem Hofe gemacht. Sie fanden ihn fast ausgestorben. Die Leute und die Tiere waren auf dem Felde. In dem Pferdestall standen nur die vier schwerfälligen Braunen des Barons, die vor lieber langer Weile mit den eisernen Ketten ihrer Halfter ein melancholisches Quartett ausführten. Vor der Tür des Stalles saß der schweigsame Kutscher und starrte in den blauen Himmel, da er, wenn er seine Pferde gefüttert, auf Erden weiter nichts zu tun hatte. Um seine Füße strich spinnend ein großer schwarzer Kater, der ihn, als sein spiritus familiaris, überallhin begleitete und selbst auf dem Bocke zwischen seinen Füßen unter dem Schurzfell saß. In dem Kuhstall fanden sie nur eine Kuh, die ihr heute geborenes Kälbchen durch fleißiges Lecken in eine Verfassung zu bringen suchte, wie sie dem Ehrgeize einer respektablen Kuhmutter, die etwas auf sich und die Ihrigen hält, wünschenswert scheinen mag. Auf dem Dünger vor dem Stalle scharrten die Hühner, unbekümmert um den Streit zweier junger Hähne, die über einen unglücklichen kleinen Käfer, der auf dem Rücken liegend, in ruhiger Ergebung sein Schicksal erwartet, in Unfrieden geraten waren. Ein alter Hahn, welcher der Vater der beiden feindlichen Brüder sein mochte, war auf die Wagendeichsel geflogen und krähte einmal über das andere, entweder aus Freude über den ritterlichen Sinn seiner Sprossen, oder um eine Wolke zu signalisieren, die eben über das Scheunendach heraufkam. Auf dem einen Ende des Daches saß eine Störchin auf ihrem Nest. Der Storch kam eben herbeigeflogen und brachte die Beute seiner Jagd, eine kleine Schlange, mit nach Hause. Die Störchin klapperte bei diesem Anblick vor Vergnügen; der Storch, im Bewußtsein erfüllter Pflicht, blieb ihr die Antwort nicht schuldig. Von dem kleinen Teiche neben dem Pferdestalle hatten die Enten unter dem Vortritt eines vielerfahrenen Enterichs einen Reihenmarsch quer über den Hof begonnen, da sich ein ziemlich gut verbürgtes Gerücht unter ihnen verbreitet hatte, es sei hinter der einen Scheune ein Sack Korn aufgegangen.

Oswald hatte mit vielem Vergnügen das Stilleben eines ländlichen Hofes an einem warmen Sommernachmittag betrachtet; Bruno den schweigsamen Kutscher über die beiden einzigen Themata, bei denen man es mit einiger Aussicht auf Erfolg konnte, über seine Pferde und seinen Kater, in eine Unterhaltung zu verwickeln gesucht; Malte sich unterdessen gelangweilt, da er überhaupt nur sehr wenigen Dingen Geschmack abgewinnen konnte, und zu diesen Dingen Enten und Hühner, wenigstens solange sie im Licht der Sonne wandelten, sicherlich nicht gehörten. Er drang deshalb darauf, den Spaziergang fortzusetzen, und so gingen sie denn von dem Hofe durch das Dörfchen jämmerlicher kleiner Katen, um auf das Feld zu gelangen. In einiger Entfernung vor ihnen auf dem mit Weiden besetzen Wege schien ein Knecht seinen Wagen im Graben umgeworfen oder festgefahren zu haben. Die Pferde standen quer über den Weg, und er zerrte an ihnen herum und fluchte und schimpfte, wie das Leute seines Schlages bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegen. Zuletzt schien dem Manne die geringe Geduld, die ihm die Natur verliehen und der wahrscheinlich reichlich genossene Schnaps noch übriggelassen hatte, vollends auszugehen. Er faßte das eine der Vorderpferde in den Zügel und trat und stieß es unbarmherzig mit seinen plumpen Füßen. Oswald wurde auf das alles eigentlich erst aufmerksam, als Bruno mit dem Ausrufe: »Der Barbar, der Unmensch!« wie ein Pfeil von ihm fort auf den Wagen zueilte. Im Nu hatte er sie erreicht und befahl dem Knecht mit einer mehr vor Zorn als von der Aufregung des eiligen Laufes bebenden Stimme, seine Mißhandlungen einzustellen.

»Ich weiß, was ich zu tun habe!« rief der Knecht und trat das Pferd, das sich vor Angst immer mehr in den Strängen verwickelte, von neuem.

»Im Augenblick läßt du das Tier, oder –«

»Oho« rief der Knecht, »oder was?«

»Oder ich stoße dir mein Messer in den Leib!«

Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück und starrte Bruno voll Entsetzen an. Es war nicht Furcht vor dem Messer, das der Knabe in seiner erhobenen Rechten hielt – denn der Knecht war ein großer starker Mann, der seinen Gegner mit einem Schlage seiner schweren Faust hätte zu Boden schmettern können und er war überdies betrunken – war Furcht vor dem Dämon, der aus Brunos dunklen Augen blitzte, Furcht vor der gewaltigen Leidenschaft, die dem Knaben das Blut aus den Wangen zum Herzen trieb und seine Nasenflügel um die feinen Lippen zucken machte.

»Das Tier ist immer so tückisch«, stammelte der Mann wie zur Entschuldigung.

Aber Bruno würdigte ihn keiner Antwort. Mit hastigen Händen und geschickt, als ob er im Leben nur mit Pferden umgegangen wäre, löste er die Stränge, in denen sich das Tier verwickelt hatte, wobei ihm Oswald, der jetzt herbeigekommen war, eine mehr wegen ihrer guten Absicht löbliche, als durch praktischen Erfolg ausgezeichnete Hilfe leistete. Dann sprang der Knabe nach dem Graben, schöpfte seinen mit Wachsleinen überzogenen Strohhut voll Wasser und wusch dem Pferde die Wunden an den mißhandelten Beinen.

In diesem Augenblicke setzte ein Reiter aus den Weiden an der Seite über den Graben auf den Weg. Es war der Inspektor Wrampe, der die Szene von fern gesehen hatte und im Galopp über die Felder herbeigeritten war.

»Nun komm ich, sagte der Dachdecker und fiel vom Dach! Was ist denn das für 'ne Wirtschaft! Warum fährst du durch den Graben, wenn du zehn Schritte davon über die Brücke fahren kannst. Und die braune Lise malträtiert –« er sagte aber: »malträsiert – ich will dir deine Faulheit eintränken, du Himmeltausendsappermenter!«

Diese energische Rede halten, vom Pferde springen, in die Hand speien, um den Griff seiner schweren Reitpeitsche fester fassen zu können und anfangen, damit den breiten Rücken des Knechts nach allen Regeln zu bearbeiten, war für den diensteifrigen Inspektor das Werk eines Augenblicks.

»Ich lasse mich nicht schlagen, Herr Inspektor«, remonstrierte der Mensch.

»Du läßt dich nicht schlagen, du Lümmel«, antwortete der, unverdrossen weiterarbeitend, »glaub's wohl, aber deine Schläge kriegst du doch.«

Oswald, dem diese Szene peinlich wurde, so reichlich der Mensch seine Züchtigung verdient hatte, bat Herrn Wrampe, es nun gut sein zu lassen. Der verstattete seinem Zorn noch einen letzten kräftigen Hieb und sagte dann, wie zum Schluß einer vernünftigen Auseinandersetzung:

»Na, nu komm, Jochen! Wir wollen den Wagen wieder in Schick bringen!«

Dann stemmte er seine mächtigen Schultern gegen das Fuhrwerk, hob und schob es zurecht, als ob es ein Kinderwägelchen gewesen wäre, die Pferde, die wieder ruhig geworden waren, zogen an, und der Knecht konnte jetzt seinen Weg fortsetzen.

»Fahr langsam nach Hause und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!« rief ihm der Inspektor nach.

»Aber Sie haben ja nur durch Schläge zu ihm gesprochen!« sagte Oswald lächelnd.

»Ja, verstehen es die Kerle denn, wenn man vernünftig mit ihnen spricht!«

»Haben Sie denn je den Versuch gemacht?«

Herr Wrampe schien durch diese Frage einigermaßen in Verlegenheit gesetzt. Er sagte zur Antwort: »Das hat mich warm gemacht!«

Dann zog er eine Branntweinflasche, die mindestens ein halbes Quart hielt, aus der Tasche, setzte den Daumen an die Stelle, bis zu welcher er den Inhalt zu leeren gedachte, trank, hielt die Flasche abermals gegen das Licht und tat, da er zu finden schien, daß er seine Aufgabe nicht vollständig gelöst hatte, noch einen herzhaften Schluck. Dann bestieg er sein Pferd, das, an dergleichen Szenen gewöhnt, ruhig dagestanden hatte, wünschte freundlich guten Abend, setzte wieder über den Graben und ritt im Galopp davon.

Bei Bruno wurde alles zur Leidenschaft. Die Glut seiner Einbildungskraft verdichtete die Schemen der Poesie zu Menschen von Fleisch und Blut. Der Tod Hektors entlockte ihm Tränen des Mitleids und des Zornes, und der moralische Unwille, der ihn erfaßte, wenn er vor seinen Augen eine Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit verüben sah, war so groß, daß er in ihm ein physisches Unwohlsein zuwege brachte.

So fand Oswald, als er in der Nacht nach diesem Vorfall an Brunos Bett trat, daß sein Liebling gegen seine Gewohnheit noch wach war. Das mehr als sonst blasse Gesicht des Knaben und der kalte Schweiß auf seiner Stirn machten ihn besorgt, und der Knabe gestand denn auch nach einigem Zögern, daß er, nur um seinen Freund nicht zu ängstigen, sein Unwohlsein verheimlicht habe und jetzt große Schmerzen leide. Oswald wollte sogleich die Leute im Hause wecken und nach dem Doktor schicken, aber Bruno bat ihn, davon abzustehen, da dergleichen im Schlosse immer sogleich zu einer Haupt- und Staatsaktion gemacht werde, und ihn die Umständlichkeit, die man bei solchen Gelegenheiten beweise, nur beängstige und noch kränker mache.

»Übrigens«, sagte er, »bin ich an diese Anfälle schon gewöhnt und wenn Sie die Güte haben wollen, mir etwas Tee zu bereiten und mir ein paar Tropfen von der Essenz zu geben, die der Doktor neulich für mich verschrieben hat – das Fläschchen steht auf meinem Pult –, so sollen Sie sehen, geht es bald vorüber.«

Oswald beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen. Er gab dem Knaben von der Medizin, er ließ ihn den Tee trinken, er rückte ihm das Kopfkissen zurecht, er holte noch eine Decke herbei, er tat alles mit jener Umsicht und Gewandtheit, mit der feinfühlende Menschen, auch wenn sie nicht daran gewöhnt sind, mit Kranken umzugehen, die professionierten Krankenwärter beschämen.

»Mit Ihnen als Pfleger ist es beinahe ein Vergnügen, krank zu sein«, sagte Bruno, dankbar die Hand seines Freundes drückend.

»Still, still!« sagte der. »Tue mir nur den Gefallen und habe keine Schmerzen mehr.«

»Ich will mein möglichstes tun«, sagte der Knabe lächelnd.

Wirklich ging Oswalds Wunsch bald in Erfüllung. Die kalten Tropfen auf der Stirn des Kranken wurden zu warmen, und alsbald umhüllte ihn die gütige Natur mit tiefem Schlaf, um still und heimlich das gestörte Gleichgewicht des Organismus wieder herzustellen. Manchmal noch zuckte die feine, schmale Hand, die Oswald in der seinen hielt, dann ließ auch das nach, und der Arzt aus dem Stegreife gratulierte sich im stillen zu dem guten Erfolge seiner Kur. Aber er mußte doch wohl noch einige Besorgnis vor einem Rückfalle haben, denn er entzog leise seine Hand der des Knaben, holte aus seinem Zimmer einen Lehnstuhl und setzte sich zu Häupten des Bettes. Die Lampe hatte er ausgelöscht, damit die ungewohnte Helle den Schläfer nicht belästige, und so saß er denn im Dunkeln und sah das Mondlicht, das durch eine Spalte des Vorhangs fiel, langsam an der Wand hingleiten und horchte auf die regelmäßigen Atemzüge des Knaben, bis ihn selbst die Müdigkeit überwältigte.


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