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Vierunddreißigstes Kapitel

Mein Herr! Nach allen Seiten gleichmäßig zu reüssieren, gelingt keinem, selbst nicht dem vom Glück am meisten begünstigten Ritter. Werden Sie es daher begreiflich finden, wenn jemand, der mit einigem Staunen die Fortschritte beobachtet hat, die Sie in der Gunst einer gewissen Dame machten, das Geheimnis des Zaubers Ihrer Persönlichkeit kennenzulernen und zu dem Zwecke die Ehre Ihrer näheren Bekanntschaft wünscht? Und würden Sie wohl, um ihm dies Vergnügen zu gewähren, die Güte haben, heute abend 11 Uhr einen Spaziergang aus dem kleinen Tore von Grenwitz zu unternehmen? Sie würden im Schatten der alten Buche auf dem Wege nach Berkow einen Wagen treffen, in den Sie nur zu steigen brauchten, um an den Ort des Rendezvous zu gelangen. Dort sollen Sie alles finden, was zur Anknüpfung eines intimeren Verhältnisses nötig ist.

Es ist wohl nicht besonders notwendig, Sie daran zu erinnern, daß diese delikate Angelegenheit in Geheimnis gehüllt bleiben muß. Der Lenker des Wagens wird aus der Antwort Moi auf seinen Anruf: Qui vive? hören, daß Sie der Rechte sind. Au revoir, Monsieur!

So lautete der Inhalt eines expressen Briefes, den der Postbote aus dem nächsten Städtchen am Abend des folgenden Tages Oswald brachte.

Er las das sonderbare Schreiben mehrmals, bevor er sich von seinem Erstaunen erholen konnte. Wer war der »Jemand«, der seine nähere Bekanntschaft zu machen wünschte? Wer die Dame, um die es sich handelte? War das Geheimnis der Waldkapelle entweiht worden? Hatte jemand die Szene in der Fensternische auf dem Balle in Barnewitz belauscht? Konnte Herr von Cloten der Herausforderer sein? Das auffallend kühle Benehmen dieses jungen Edelmannes bei der zufälligen Begegnung gestern schien dafür zu sprechen. Oder war diese Begegnung nicht zufällig und stand der geheimnisvolle Reiter damit in Verbindung? War es nur ein Spion Clotens? Aber war die Unterredung zwischen Herrn von Barnewitz und dem Baron, bei der Oswald ein so unfreiwilliger Zeuge gewesen war, nicht Beweis genug, daß Cloten nach einer ganz andern Seite hin in Anspruch genommen und mit seinen eigenen Angelegenheiten vollauf beschäftigt war?

Oswald ließ die Reihe der jungen Edelleute, die er auf dem Balle in Barnewitz kennengelernt hatte, an seinem Geiste vorübergehen, und sein Verdacht blieb schließlich auf dem jungen Grafen Grieben haften, jenem langen, blonden Jüngling, der so komische Anstrengungen machte, den starken Geist zu spielen und sich die Gunst der übermütigen Emilie zu erwerben, und in beiden Bemühungen so unglücklich gewesen war. Er konnte am ersten der Erfinder der Phrase von dem »vom Glück begünstigten Ritter« sein.

Was sollte er tun? Sollte er sich der vielleicht nichts weniger als edlen Rache der jungen Edelleute aussetzen? Sollte er in einen Kampf gehen, in dem er die Wahl der Waffen, der Zeugen, des Ortes, kurz alles seinem Gegner zu überlassen gezwungen war? Konnte es ihm ein billig denkender Mann verargen, wenn er die Herausforderung eines Namenlosen unbeachtet ließ?

Aber hatte er es denn mit billig denkenden Männern zu tun? Hatte er nicht längst erfahren, bewies nicht alles, was er sah und hörte, daß in diesen bevorzugten Kreisen subjektives Belieben für Recht galt und die frivolste Laune des Augenblicks die Richtschnur des Handelns war? Fand sich dieser Zug nicht selbst bei denen, welche Geist und Charakter so hoch über den gewöhnlichen Troß ihrer Standesgenossen erhob: bei Oldenburg und Melitta?

Und würde ihm ein Ablehnen der Herausforderung nicht als Feigheit, nicht als ein Mangel jenes feinen Ehrgefühls ausgelegt werden, auf das sich dieser Adel so viel zugute tat?

Nein, nein; er mußte den Fehdehandschuh aufnehmen, wie verächtlich auch die Hand sein mochte, die ihn ihm aus dem Dunkel heraus vor die Füße geschleudert hatte. Er mußte den Junkern zeigen, daß er sich nicht fürchtete, allein, ohne Freunde, waffenlos, ihrer Rache gegenüberzutreten.

Sein Blut kochte. Er ging erregt im Zimmer auf und ab.

»Nur zu, nur zu!« murmelte er durch die Zähne. »Ich wollte, sie stellten sich mir gegenüber, einer nach dem andern, mein Haß würde mir die Kraft geben, sie alle niederzuschmettern. Es ist ganz recht so, ganz recht! Was habe ich hier zu tun unter diesen Wölfen? Zerrissen werden oder zerreißen – das hätte ich mir von vornherein sagen können.«

Oswald fühlte, wie aus dem tiefsten Grunde seiner Seele, in den sein Auge noch nie gedrungen war, es aufstieg mit dämonischer Gewalt. Eine wilde Eigenschaft, ein heißer Durst nach Rache, ein wahnsinniges Verlangen, zu zerstören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatische Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er seinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Pistolen lud, mit denen jener auf die Asse schoß, die ebenso viele Herzen von Adeligen bedeuteten; wenn er auf der Schulbank im Livius von dem Übermut der Tarquinier las oder auf seiner Stube die tränenreiche Geschichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in diesem Schlosse, vielleicht in denselben Zimmern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adeliger Grausamkeit verblutet: Hier hatte die arme, unglückliche, schöne Marie mit tausend heißen Tränen die Torheit bezahlt, den Worten des adeligen Verführers geglaubt zu haben!

Sie war als Opfer gefallen, denn sie war ein schwaches Weib und Tränen waren ihre Waffen, Tränen, die kein Erbarmen fanden. Diese Tränen waren noch nicht gesühnt. Wie, wenn er als Rächer für sie aufstände, wenn er diese Tränen eines Bürgermädchens sühnte in dem Blut eines Adeligen?

Solche Gedanken wirbelten durch Oswalds Gehirn, während er für den Fall eines schlimmen Ausgangs – den er übrigens sonderbarerweise kaum für möglich hielt, so schnell hatte er sich in die Rolle eines Rächers gefunden – einige flüchtige Vorbereitungen traf, das heißt, die Briefe, von denen er nicht wünschte, daß sie jemals in fremde Hände fielen, verbrannte, und überhaupt etwas Ordnung in seine Papiere brachte; schließlich auch ein paar Zeilen an Professor Berger schrieb, die er aber hernach wieder zerriß und in den Ofen warf.

Das Volk ist nicht wert, daß man seinethalben so viel Umstände macht; sagte er bei sich.

Mit Ungeduld erwartete er die bezeichnete Stunde.

Es schlug zehn auf der Schloßuhr. Er hörte, daß die Leute zu Bette gingen, auch aus Alberts Zimmer schimmerte Licht in den dunklen Garten hinab. Es schlug halb elf. Oswald machte sorgfältig Toilette, nahm eine Rose aus einem Blumenstrauß, den er sich heute im Garten gepflückt hatte, und steckte sie ins Knopfloch. Dann ging er leise aus seinem Zimmer die enge Treppe, auf der Marie in jener stürmischen Herbstnacht sich aus dem Schloß gestohlen hatte, hinab in den Garten, durch den Garten nach dem Gittertor, welches neben dem Schloß auf den Hof führte und von dem man nur noch ein paar Schritte zu dem kleinen Tore hatte, vor dem ihn der Wagen erwarten sollte.

Der nächtliche Himmel war mit Wolkendunst bedeckt, durch den nur spärliche Sterne leuchteten; es war so finster, daß Oswald, bis sich sein Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, den so bekannten Weg mit Vorsicht gehen mußte, um nicht rechts oder links in den Graben zu geraten.

Plötzlich tauchte ein großer Gegenstand vor ihm auf, und in demselben Augenblick rief eine tiefe rauhe Stimme: »Qui vive!«

»Moi«, antwortete Oswald.

Er sah die undeutlichen Umrisse einer langen Gestalt, die ihm die Tür des Wagens öffnete und den Schlag herabließ.

Sobald er eingestiegen war, wurde die Tür hinter ihm geschlossen und sofort zogen auch die Pferde an; er konnte nicht erkennen, ob die Gestalt neben dem Kutscher Platz genommen hatte, oder der Kutscher selbst war.

Kutscher und Pferde mußten den Weg sehr genau kennen oder in dunkler Nacht so gut sehen können wie am hellen Tage; denn der Wagen bewegte sich mit einer Schnelligkeit, gegen die selbst ein ungeduldiger Liebender nichts hätte einwenden können. Der Weg war gut, und wenn auch hier und da ein Stein im Geleise lag, so hing der Wagen in so vortrefflichen Federn, daß man den dadurch verursachten Stoß kaum spürte.

Oswald lehnte sich in die schwellenden Kissen. Der weiche Sammet schien einen feinen Wohlgeruch auszuströmen, der den engen Raum erfüllte, wie das Boudoir einer hübschen Frau. Ja, es war Oswald, als ob es dasselbe Parfüm sei, das Melitta immer benutzte. Und plötzlich war es ihm, als säße Melitta neben ihm, als berühre ihre warme weiche Hand seine Hand, als fühlte er das Wehen ihres Atems an seiner Stirn, als legten sich ihre Lippen leicht wie ein Hauch auf seinen Mund.

Und vor diesem wonnigen Traum sank die Wirklichkeit in Nichts. Oswald vergaß, was er vorhatte; er dachte nicht daran, was seiner harrte; er wußte nicht mehr, wo er war – und nur sie, sie allein erfüllte seine Seele. Wie eine Sturmflut von Seligkeit überkam ihn die Erinnerung an ihren Liebreiz, ihre Güte, ihre holde Rede und ihren süßen Kuß. Mit wunderbarer Klarheit zogen die köstlichen Bilder der einzig wonnigen Stunden, die er an ihrer Seite, zu ihren Füßen verlebt hatte, durch seine Erinnerung, von jener ersten Begegnung auf dem Rasenplatze hinter dem Schlosse von Grenwitz bis zu dem Augenblick, wo sie, mit Tränen in den lieben Augen, sich von ihm wandte in jener Nacht unseligen Angedenkens, wo der Dämon der Eifersucht die scharfen Krallen in sein zuckendes Herz schlug.

»Vergib mir, Melitta; vergib mir!« stöhnte er, seinen Kopf in die Kissen drückend.

Da plötzlich hielt der Wagen. Die Tür wurde aufgerissen; die lange Gestalt, die ihm den Schlag herabgelassen hatte, half ihm aussteigen, reichte ihm die Hand, führte ihn einige Stufen hinauf zu einer großen Fenstertür, durch deren rote Vorhänge ein mattes Licht schimmerte. Die Tür tat sich auf, und Oswald sah sich in dem Gartensaal von Melittas Schloß und Melitta schlang ihre Arme um seinen Hals und Melittas Stimme flüsterte: »Vergib mir, Oswald! Vergib mir!«

»Du Grausamer!« sagte Melitta, als der erste wilde Sturm des Entzückens mit seinen Tränenschauern der Wonne vorübergebraust war. »Wie hast du nur so viele Tage dein Herz vor mir verschließen können und wußtest doch, daß ich da draußen stand und um Einlaß bettelte! Aber ich will dich nicht schelten. Du bist ja hier und nun ist alles wieder gut.«

Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schaute durch Tränen lächelnd zu ihm empor: »Nicht wahr, lieb Herz, nun ist alles wieder gut? Nun ist Melitta wieder, was sie dir vorher war, was sie dir ewig sein wird, trotz aller hübschen sechzehnjährigen Mädchen, sie mögen Emilie heißen oder –«

»Melitta!«

»Oder Melitta! Denn es gibt nur eine Melitta und wenn tausend so hießen, und diese eine bin ich. Und daß du diesen wichtigen Umstand vergessen konntest, welche Umstände hast du dir dadurch bereitet, mir und dem alten armen Baumann! Ich will von mir nichts sagen, denn Leid will Freud und Freud will Leid haben, und wenn man rechtschaffen liebt, kommt es auf ein paar Tränen, ein paar durchwachte Nächte, ein paar angefangene und wieder zerrissene Briefe mehr oder weniger nicht an; aber der arme Baumann! Denke dir nur! Ich war am ersten Tage ganz ruhig, denn ich dachte, er wird schon kommen und dich um Verzeihung bitten; als du aber nicht kamst, nicht am zweiten, nicht am dritten Tage, da sank mir der Mut, und ich mag wohl recht trostlos ausgesehen haben, denn wie ich hier, den Kopf aufgestützt, saß, fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und als ich aufschaue, steht der gute alte Baumann da und sagt: ›Soll ich einmal nachsehen, wo er so lange bleibt?‹ – ›Ach ja, lieber Baumann‹, sagte ich. Da ging die treue Seele, ohne weiter ein Wort zu sagen, fort, und kam erst spät am Abend wieder. ›Hat Er ihn gesehen?‹ – ›Zu Befehl; er ist wohl und munter; ich bin mit ihm in die Wette geritten.‹«

»So war der alte Baumann der geheimnisvolle Reiter?«

»Natürlich, und er lachte in seiner stillen Weise, wie er erzählte, daß ihr ihn gejagt hättet, als wollte er sagen: Diese Kinder! Dachten, sie könnten mich überholen auf dem Brownlock!«

»Das war der Brownlock, von dem mir Bruno schon so viel vorgeschwärmt hat, ja freilich, nun erklärt sich alles!«

»Nicht wahr? Nun erklärt sich auch, weshalb sich Baumann hinsetzte und nach meinem Diktat den Brief schrieb. Der Alte wollte nicht und sagte: Ein Duell ist kein Kinderspiel, und das heißt den Scherz zu weit treiben; aber ich lachte und weinte, bis er es doch tat, und heute morgen noch einmal auf den Brownlock stieg und in die Stadt ritt und heute abend nach Grenwitz fuhr.«

»Und wenn ich nun der Herausforderung nicht gefolgt wäre?«

»Das deutete auch Baumann an, und ich antwortete ihm: ›Schäme Er sich, Baumann, so etwas zu sagen‹.«

Oswald lachte: »Natürlich! Wir müssen uns jedesmal schämen, sooft wir etwas sagen oder tun, was nicht in die Welt paßt, wie sie sich in euren Köpfen malt.«

Melitta antwortete nicht und Oswald sah, daß ein Schatten über ihr Antlitz flog. Er ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und sagte, ihre herabhängende Hand ergreifend:

»Habe ich dich beleidigt, Melitta?«

»Nein«, sagte sie, »aber diese Bemerkung hättest du vor acht Tagen nicht gemacht.«

»Wie meinst du das?«

»Komm, steh auf! laß uns ein wenig in den Garten gehen. Es ist so schwül in den Zimmern; mich verlangt nach der kühlen Nachtluft.«

Sie gingen hinab in den Garten und wanderten Arm in Arm zwischen den Beeten, bis sie zu der niedrigen Erdterrasse gelangten, wo Oswald, als er an jenem Sonntag nachmittag den Besuch auf Berkow machte, Melitta getroffen hatte. Sie setzten sich unter den Tannenbaum, der seine Äste schützend über sie breitete, auf eine der Bänke. Die Nacht war lautlos still; die Bäume standen unbeweglich, wie in tiefem Schlaf; würziger Blumenduft erfüllte die warme, taulose Luft; Glühwürmchen irrten wie leuchtende Sterne durch das Dunkel.

»Du hast mir auf meine Frage immer noch nicht geantwortet, Melitta?« sagte Oswald. »Was haben denn die letzten acht Tage an mir verändert? Bin ich nicht mehr derselbe, der ich war, nur daß die bittere Reue, dir weh getan zu haben, meine Liebe zu dir noch tiefer und inniger gemacht hat?«

Melitta antwortete nicht. Plötzlich sagte sie schnell und leise:

»Bist du seit dem Sonntag in Barnewitz oft mit ihm zusammengewesen?«

»Mit wem, Melitta?«

»Nun mit – mit Baron Oldenburg. Gott sei Dank, endlich ist es heraus! Es ist recht kindisch und töricht, daß ich mich bis jetzt stets gesträubt habe, Oldenburgs zu erwähnen und dir zu sagen, welches meine Beziehungen zu dem Manne waren, und doch fühlte ich, daß du ein Recht hattest, es zu wissen, und daß ich die Pflicht habe, von meiner Vergangenheit, wo sie dir dunkel scheinen muß, den Schleier zu heben. Dies Gefühl wurde zuletzt, besonders, als ich seit gestern wußte, daß du mit dem Baron auf einem intimen Fuße standest, so stark, daß ich dich um jeden Preis hier zu haben wünschte, und da verfiel ich denn auf den kindisch dummen Einfall.«

»Ich habe nicht, wie du sagst, das Recht zu einer solchen Neugier, Melitta«, antwortete Oswald. »Für die Liebe, die du mir gewährst, muß ich dankbar sein und bin ich dankbar wie für eine holde Gnade des Himmels. Ja, ich gestehe, es gab eine Zeit, wo meine Liebe noch den Zweifel kannte, aber da war sie noch nicht die echte Liebe. Jetzt ist es mir nicht denkbar, ich könnte je aufhören dich zu lieben, und deine Liebe könnte jemals aufhören. Ja, es ist mir, als ob diese Liebe, wie sie ewig sein wird, auch schon von Ewigkeit gewesen wäre. Ob du schon früher geliebt hast, ich weiß es nicht; es ist möglich, aber ich verstehe es nicht und würde es nicht verstehen, wenn du es mich auch ausdrücklich versichertest.«

»Und ich versichere dich«, sagte Melitta, sich zärtlich an den Geliebten schmiegend, »ich habe nie geliebt, bis ich dich sah; denn was ich früher Liebe nannte, war nur die unbefriedigte Sehnsucht nach einem Ideal, das ich im tiefsten Herzen trug, das sich mir niemals zeigen wollte, und das, jemals zu finden, ich schon seit Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte.«

»Und du glaubst, ich sei dies verkörperte Ideal? Arme Melitta, wie bald wirst du aus diesem Traum erwachen! Erwache, Melitta! Erwache – noch ist es Zeit!«

»Nein, Oswald, es ist zu spät. Es gibt eine Liebe, die stark ist wie der Tod, und aus ihr gibt es kein Erwachen. Nein! Kein Erwachen! Ich fühle es, ich weiß es. Und wenn du dein Antlitz von mir wendetest und wenn du mich von dir stießest – dir gegenüber habe ich keinen gekränkten Stolz, keine verletzte Eitelkeit – nur Liebe, unergründliche, unermeßliche, unerschöpfliche Liebe. Bis jetzt wußte ich nur, daß ich lieben könne; wie sehr ich lieben könne, hast du mich erst gelehrt. Und so kann ich auch ruhig über die Zeit sprechen, in der ich dich noch nicht kannte – denn jenes Leben war nur ein Scheinleben – und alles, was ich fühlte und dachte, ein unbestimmtes Träumen ohne Zusammenhang und Sinn. Jetzt weiß ich es, jetzt, wo ich in dem Sonnenstrahl deiner Liebe die Augen aufschlug und nun das Leben so durchsichtig klar vor mir liegt, daß mir die dichte Nacht, die uns umgibt, heller dünkt wie sonst der lichteste Tag und die dunkelsten Rätsel meines Herzens gelöst sind. Jetzt kann ich von der Melitta der früheren Zeit sprechen wie von einem fremden Wesen, für dessen Tun und Lassen ich mich nicht verantwortlich fühle; jetzt kann und will ich dir erzählen, was es für eine Bewandtnis mit dem Bilde in meinem Album hat, dem losgelösten Blatt, dessen Vorhandensein dich damals so erschreckte, liebes Herz. Ja, ja, ich hab es wohl bemerkt – du entfärbtest dich und konntest nicht fassen, wie ich dich um dein Urteil über den Mann befragen konnte, den du für meinen Geliebten halten mußtest. Und doch war das Oldenburg nie oder es müßte in der Liebe tausend Grade geben, von denen der niedrigste von dem höchsten so weit entfernt ist wie die Erde von dem Himmel. Ich kannte Oldenburg schon von meiner frühesten Kindheit an. Salchow, das Gut meines Vaters, grenzt an Cona, wo du gestern warst. Meine Tante, die nach dem frühen Tode meiner Mutter meine Erziehung leitete, und Oldenburgs Mutter waren sehr gute Freundinnen und kamen fast täglich zusammen. Natürlich auch wir Kinder. Oldenburg war ein paar Jahre älter als ich, aber da die Mädchen den Knaben stets in der Entwicklung voraus sind, so wurde der Unterschied des Alters von uns nicht empfunden, wir spielten und arbeiteten zusammen und hielten gute Kameradschaft – für gewöhnlich; denn es kam auch manchmal zu heftigem Wortwechsel und Zank und Tränen. Ich gab selten Veranlassung dazu, denn ich war wenig rechthaberisch und stets zum Nachgeben bereit, aber Adalbert war über die Maßen empfindlich, störrisch und eigenwillig. Die Doppelnatur seines Wesens, die er später auszugleichen sich bemühte und vor weniger Scharfsichtigen auch meistens zu verbergen wußte, lag damals offen zutage. Es war unmöglich, sich nicht für ihn zu interessieren, aber ich glaube, es gab niemand, der ihn wirklich liebte. Er fühlte das, und dies Gefühl, welches er wie eine geheime Wunde stets mit sich herumtrug, machte ihn schon sehr früh zu einem Hypochonder und Menschenfeind. Was half es ihm, daß jedermann seine eminenten Gaben bewunderte, daß niemand an seinem Mut, seiner Wahrheitsliebe zweifelte! Sein störrisches, eigensinniges Wesen stieß alle zurück, verletzte alle, ja selbst seine lange, unschöne Gestalt und seine täppischen, linkischen Bewegungen trugen dazu bei, die Herzen der Menschen von ihm zu wenden. Wenigstens war es so bei mir, die ich mich von Jugend auf zu allem, was schön und anmutig war, unwiderstehlich hingezogen fühlte und einen wahren Abscheu vor dem Häßlichen und Formlosen hatte. Ich konnte mich nicht überwinden, Adalbert zu lieben, obgleich er mit großer, aber freilich stets hinter Schroffheit und Kälte sorgsam versteckter Zärtlichkeit an mir hing und manchmal, wenn seine Leidenschaftlichkeit über die künstliche Ruhe, die er zur Schau trug, siegte, mir in den herbsten, bittersten Ausdrücken meine Lieblosigkeit, meinen Leichtsinn, meinen Wankelmut vorwarf. Dies Verhältnis blieb, bis Adalbert mit sechzehn Jahren das Gymnasium bezog. Er hatte es bei seinem Vormunde – seine Mutter war jetzt auch gestorben – durchgesetzt, daß er studieren durfte. Nur selten noch kam er und immer nur auf wenige Tage nach Cona. Dann war ich zwei Jahre lang in Pension. So kam es, daß wir uns, bis er nach Heidelberg ging, nur im Vorübergehen sahen. Als er von der Universität und seiner größeren Reise zurückkehrte, war ich schon zwei Jahre verheiratet gewesen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er einen Besuch auf Berkow machte. Unser Wiedersehen war eigentümlich genug. Er schien den ganzen, so veränderten Zustand nur als ein fait accompli anzunehmen, dem man sich beugt, weil man muß. Er belästigte mich nicht mit Fragen; er verlangte keine vertrauliche Mitteilung, auf die der einzige Freund meiner Kinder- und Mädchenjahre doch wohl Anspruch hatte. Er machte mir auch keine Vorwürfe; er sagte mir nicht, daß er mich geliebt, daß er auf meine Hand gehofft hatte, obgleich ich nachher erfuhr, daß dies doch der Fall gewesen und daß er, als ihn die Nachricht von meiner Verheiratung in Heidelberg traf, fast in Raserei gefallen war und wochenlang, monatelang an einer unbesieglichen Schwermut gekrankt hatte. Er suchte sich durch eigene Beobachtung ein möglichst klares Bild meines jetzigen Verhältnisses zu verschaffen. Ich sah, daß ihm nichts entging, daß keine meiner Äußerungen von ihm unberücksichtigt, keine meiner Mienen von ihm unbeachtet blieb. Das Bewußtsein, unter der Kontrolle eines so scharfsichtigen Auges zu stehen, war nichts weniger als behaglich, zumal wenn, wie in diesem Falle, so vieles hätte anders sein können, anders sein müssen. Es trat bald wieder dasselbe Verhältnis ein, das früher zwischen uns geherrscht hatte, nur daß die heftigen Szenen wegblieben, die ehemals durch seine Eigenschaft gelegentlich herbeigeführt wurden. Wie er mir früher alle hübschen Muscheln, Steine und Blumen, die er am Strande, zwischen den Klippen, auf den Wiesen gefunden hatte, zutrug, so teilte er mir jetzt alles mit, was er Interessantes auf den vielen Feldern des Wissens, auf denen sich sein unersättlicher und unermüdlicher Geist umhertrieb, entdecken konnte: bald ein schönes Gedicht, bald eine tiefsinnige Sentenz – und er empfand es jetzt nicht weniger schmerzlich, daß ich mit diesen Schätzen nicht haushälterischer umging als mit den Blumen, die ich vertrocknen ließ, und den Steinen und Muscheln, die ich wegwarf. Ich wußte, daß ich keinen treueren Freund hatte als ihn, und er, daß sich in das Gefühl, das ich für ihn empfand, auch nicht die mindeste Liebe mischte; um so uneigennütziger war seine Freundschaft und um so unverantwortlicher der Wankelmut, mit dem ich ihn behandelte. Seine Freundschaft sollte bald eine traurige Gelegenheit finden, sich zu betätigen. Die Schwermut, in die Carlo kurz nach Julius Geburt gefallen war, nahm einen immer krankhafteren Charakter an. Ausbrüche einer unberechenbaren Laune, die Vorboten der letzten fürchterlichen Katastrophe, wurden immer häufiger. Er wollte jetzt niemand um sich haben als Adalbert, was um so auffallender war, als er, der Lebemann, den tiefsinnigen, melancholischen und um so viel jüngeren Baron – den Jüngling von Sais nannte er ihn – früher stets verlacht, verspottet und eigentlich wohl gehaßt hatte. Jetzt begleitete er ihn auf Tritt und Schritt, jetzt war Oldenburgs Stimme die einzige, welche die finsteren Dämonen, die um sein Haupt die Flügel schlugen, auf Augenblicke wenigstens verscheuchen konnte. Und die Aufopferung, mit der Oldenburg sich diesem Liebesdienst unterzog, ist nicht hoch genug anzuerkennen, und ich müßte sie ihm, solange ich lebe, danken. Dann kam die Katastrophe. Oldenburg stand mir in diesen Tagen treu zur Seite; oder genauer: Er nahm alle Last und Verantwortung so ganz auf sich und leitete alles mit solcher Energie und Umsicht, daß ich nur immer Ja zu sagen hatte. Carlo war in eine Anstalt in Thüringen gebracht, und ich war allein hier auf Berkow, mich ganz der Erziehung meines Julius widmend, der damals fünf Jahre alt war, und dem ich auf Oldenburgs Rat schon jetzt in Bemperlein einen Freund und Lehrer gegeben hatte. Oldenburg kam jetzt seltener als früher, aber doch noch immer sehr häufig, wie mir schien. Ich glaubte zu bemerken, daß sich ein Ton von Zärtlichkeit in die Freundschaft mischte, die ich einzig von ihm wünschte und erwartete. Und kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, als ich mich schon berechtigt glaubte, ihn, so schonend wie möglich freilich, auf die allzugroße Häufigkeit seiner Besuche aufmerksam zu machen. Es war dies vielleicht sehr undankbar von mir; aber uns Frauen wird es auch sehr schwer, gegen den dankbar zu sein, den wir nicht lieben. Den nächsten Tag schon war Oldenburg abgereist; niemand wußte wohin. Dann wollte ihn ein halbes Jahr später einer in London gesehen haben; ein anderer sah ihn ein Jahr darauf in Jerusalem. Er war bald hier, bald dort, ruhelos umhergetrieben von seinem wilden Herzen und seinem unersättlichen Wissensdurst. So waren vier Jahre verflossen, die in meinen Verhältnissen sehr wenig geändert hatten. Oldenburgs dachte ich selten und immer wie eines Verstorbenen. Da – es ist nun drei Jahre her – ließ ich mich von meinem Vetter und meiner Cousine bereden, sie auf einer Reise nach Italien zu begleiten. Als wir eines Abends im Mondschein das Kolosseum besuchten, stand plötzlich Oldenburg vor uns. ›Endlich!‹ sagte er leise, indem er mir die Hand drückte. Er wollte uns ganz zufällig getroffen haben; hernach gestand er mir, daß er, ich weiß nicht, wie und durch wen, unsern Reiseplan erfahren, uns schon von München aus verfolgt und immer verfehlt habe, bis es ihm endlich hier gelang, uns einzuholen. Ich muß gestehen, ich freute mich aufrichtig über dies Zusammentreffen und empfand es mit einiger Genugtuung, daß es kein zufälliges war. Es vereinigte sich alles, um Oldenburg bei mir einen guten Empfang zu bereiten. Man schließt sich auf Reisen selbst an Fremde leicht an; wie sollte uns der Freund unserer Jugend, wenn wir ihn plötzlich in fremden Landen treffen, nicht willkommen sein? Oldenburg hatte Italien schon mehrmals bereist und kannte jeden Meister von jedem Altargemälde in jeder Klosterkirche und Kapelle. Seine lehrreiche Unterhaltung stach gegen das banale Geschwätz meiner Verwandten gar sehr zu seinem Vorteile ab, und dazu kam, daß Oldenburg durch die vielfache Berührung mit der feinsten Gesellschaft jetzt die schroffen und rauhen Seiten seines Wesens bedeutend abgeschliffen hatte. Sein Auftreten war, wie du es jetzt siehst, das heißt, bei aller bis an Nachlässigkeit streifenden Ungezwungenheit, doch im schönsten Sinne des Wortes vornehm. Mit einem Worte: Er machte jetzt einen Eindruck auf mich, den ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es war nicht Liebe, was ich für ihn empfand, aber es war doch auch mehr als die kühle Freundschaft, die ich ihm bis jetzt entgegengebracht hatte. Aber seltsam, in demselben Maße, in dem ich die geheime Antipathie, die ich schon von meinen Kinderjahren her gegen ihn empfand, einer beinahe herzlichen Zuneigung weichen fühlte, wurde sein Benehmen gegen mich schroffer und kälter. Er richtete seine Unterhaltung, wenn wir beisammen waren, fast ausschließlich an meine Cousine und behandelte mich wie ein verzogenes Kind, dem man den Willen tut, nur damit es nicht anfängt zu weinen. Das verletzte meine Eitelkeit, und dieser verletzten Eitelkeit und Eifersucht, die ich gegen meine Cousine empfand, zuliebe, legte ich es ernstlich darauf an, mir Oldenburgs Zuneigung, die ich durch eine mir unbekannte Ursache verloren zu haben glaubte, wiederzugewinnen. Das bewirkte alsbald eine völlige Umwandlung in Oldenburgs Betragen. Er überschüttete mich jetzt mit Aufmerksamkeiten, er schien Hortense vollkommen vergessen zu haben, und sobald wir allein waren, zeigte er eine Leidenschaft, die mich zuerst in Verwunderung und dann in Schrecken setzte. Dabei wußte er jeder eigentlichen Erklärung sorgfältig auszuweichen und mich stets im Zweifel zu erhalten, ob dies nur eine seiner tollen Launen war. die er gelegentlich annimmt und ablegt wie ein Kleid, oder der Ausdruck einer wirklich tiefgewurzelten Neigung. Es war unmöglich, Oldenburg in dieser Zeit nicht zu bewundern. Sein Genius zeigte sich glänzender als je zuvor; die Fülle von Geist, die er verschwenderisch entfaltete, war in der Tat außerordentlich. Er war die Seele jeder Gesellschaft; man riß sich förmlich um ihn, und da er französisch, englisch, italienisch und ich weiß nicht, wie viele Sprachen außerdem, so gut wie deutsch spricht, so schien jede Nation ihn als einen der Ihrigen ansehen zu dürfen und zu wollen. Wenn er mich nun zur Königin jedes Festes machte, wenn er alle zwang, mir zu huldigen, wenn er alle Schätze seines reichen Geistes nur entfaltete, um sie mir zu Füßen zu legen, so ist es wohl natürlich, daß ich dagegen nicht gleichgültig bleiben konnte, daß ich mir eine kurze Zeitlang einbildete, ihn zu lieben. Ohne ihn geradezu aufzumuntern, ließ ich es mir doch gefallen, daß er mich in Augenblicken, wo wir allein waren, mit dem vertrauten Du unserer Kinderjahre anredete, daß er in Gesellschaft mir jene Aufmerksamkeit erwies, die man sonst nur von einem erklärten Liebhaber entgegenzunehmen gewohnt ist.«

»Still, Melitta, mir war, als hörte ich jemand im Garten.«

»Ich hörte nichts.«

»Sind wir hier auch vor jeder Störung sicher?«

»Vollkommen. Indessen, laß uns ins Haus zurückkehren; mir deucht, der Nachttau beginnt zu fallen.«

Sie erhoben sich und gingen Arm in Arm nach der Treppe, die von der Terrasse in den Garten führte. Als sie die letzte Stufe hinabstiegen, stand plötzlich ein Mann vor ihnen. Das Zusammentreffen war für Oswald und Melitta so unerwartet, daß sie unwillkürlich zurückzuckten. Indessen war an ein Ausweichen nicht mehr zu denken, und überdies hatte Herr Bemperlein sie schon erkannt, denn die Sterne leuchteten jetzt in voller Pracht, und aus den Fenstern des Gartensaales fiel ein Lichtschimmer den Gang hinab, gerade in die Gesichter der beiden,

»Mein Gott, gnädige Frau, wie kommen Sie hierher?« rief Herr Bemperlein.

»Ich gebe die Frage zurück«, sagte Melitta, und dann zu Oswald, dessen Arm sie nicht losgelassen hatte: »Sei ruhig, lieb Herz, er verrät uns nicht.«

»Es ist doch Julius kein Unglück zugestoßen? Sprechen Sie, lieber Bemperlein, ich habe keine Geheimnisse vor – Oswald.«

Herr Bemperlein ergriff Oswalds Hand und drückte sie, als wollte er sagen: Ich weiß jetzt alles, rechnet auf mich.

»Nein«, sagte er, »Julius ist wohl und munter, aber ich bekam heute einen Brief von Doktor Birkenhain, demzufolge es mit dem Befinden Herrn von Berkows sehr schlecht steht; man erwartet täglich sein Ende. Daß er vor seinem Ende noch einmal zum Bewußtsein kommen könnte, ist natürlich nicht anzunehmen; aber Doktor Birkenhain hielt es für seine Pflicht, Ihnen diese Lage der Dinge mitzuteilen. Jedenfalls wird dies der Inhalt des eingelegten Briefes an Sie sein. Ich habe ihn selbst gebracht, damit Sie sofort über meine Dienste verfügen könnten, im Falle Sie sich zu einer Reise entschließen sollten. Der Wagen, in dem ich gekommen bin, wird jetzt wohl schon vor dem Hause halten; ich hatte den kürzeren Weg durch den Garten vorgezogen.«

Die drei waren in den Gartensaal getreten. Melitta hatte Oswalds Arm losgelassen und sich der Lampe genähert, den Brief zu lesen, den Bemperlein ihr überbracht hatte. Oswald sah, daß sie sehr blaß geworden war, und daß ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte. Bemperlein stand, den Blick von Melitta auf Oswald, von Oswald auf Melitta wendend, da, wie jemand, der, aus einem schweren Schlaf erwachend, sich nicht von der Wirklichkeit dessen, was er vor seinen Augen sieht, überzeugen kann.

Melitta hatte den Brief gelesen: »Da, Oswald«, sagte sie, »lies und sage, was soll ich tun.«

Oswald durchflog das Schreiben, das, wie Bemperlein schon gesagt hatte, Melitta aufforderte, sich sofort auf den Weg zu machen, falls sie den sterbenden Gatten noch einmal zu sehen wünsche.

»Du mußt reisen, Melitta, ohne Frage«, sagte Oswald, den Brief wieder zusammenfaltend.

Melitta warf sich stürmisch in die Arme ihres Geliebten: »Es war von vornherein mein Wille zu reisen. Ich wollte ihn nur von dir bestätigt hören«, sagte sie. »Ich reise noch in dieser Nacht, noch in dieser Stunde. – Wollen Sie mich begleiten, lieber Bemperlein?«

»Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen, gnädige Frau«, sagte Herr Bemperlein, »und habe den Reiseplan schon entworfen. Wenn wir in einer Stunde etwa aufbrechen, sind wir noch vor Sonnenaufgang an der Fähre. Drüben nehmen wir Extrapost bis Passow, von da Eisenbahn. So sind wir übermorgen spätestens an Ort und Stelle.«

»Sie guter, treuer Freund«, sagte Melitta, Bemperleins beide Hände in die ihren nehmend und herzlich drückend.

»Bitte, bitte, gnädige Frau!« rief Herr Bemperlein. »Ganz im Gegenteil, wollte sagen, nur meine Pflicht und Schuldigkeit.«

»Ich will mich sogleich zur Reise fertigmachen«, sagte Melitta, ein Licht ergreifend. »Bleibe ruhig hier, Oswald. Wenn jemand von den Leuten dich sehen sollte, bist du mit Bemperlein gekommen; es wird dich aber niemand sehen.«

Melitta hatte das Zimmer verlassen. Bald hörte man in dem eben noch so stillen Hause das Geräusch von eiligen Schritten, von Türen, die hastig auf- und wieder zugemacht wurden, von dumpfen Stimmen, die durcheinandersprachen.

Von den beiden Männern wagte in den ersten Minuten keiner das Schweigen zu brechen. Beide fühlten das Wunderliche der Situation, in die sie so urplötzlich geraten waren; vor allem Bemperlein, der sich innerlich noch immer nicht von seinem tiefen Erstaunen erholen konnte. Melitta stand in seinen Augen so unerreichbar hoch da, daß er schlechterdings nicht zu begreifen vermochte, wie es irgendeinem Sterblichen gelingen könnte, sich zu dieser Höhe zu erheben; und auf der andern Seite war er seit vielen Jahren so daran gewöhnt, alles, was sie tat, für gut und recht und unverbesserlich zu halten, daß er von dieser Regel selbst jetzt eine Ausnahme zu machen nicht den Mut hatte.

»Wir sehen uns auf eine gar seltsame Weise wieder, Herr Bemperlein«, sagte Oswald endlich.

»Jawohl, jawohl!« sagte Herr Bemperlein.«Mein Kommen war weder erwartet noch erwünscht, ich begreife das vollkommen – die arme gnädige Frau! Aber welchen Mut sie hat, welche Schnelligkeit des Entschlusses! Ich habe es ja immer gesagt: Sie ist aus besserem Stoff als wir anderen Menschenkinder. Ein wahres Glück, daß der Doktor Birkenhain den gescheiten Einfall hatte, nicht direkt an sie zu schreiben. So kann ich, wenn auch nicht viel, doch wenigstens etwas zu ihrer Unterstützung tun.«

»Sie Glücklicher!« sagte Oswald. »Sie dürfen für sie wirken und schaffen; und ich kann nichts tun, nichts, als ihr eine glückliche Reise wünschen und sodann die Hände müßig in den Schoß legen.«

»Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, wahrhaftig«, sagte Herr Bemperlein. »Es ist eine schwere Aufgabe, die Ihnen zugemutet wird; aber wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Wir werden fleißig schreiben – Sie sollen von jedem Schritte, den wir tun, Nachricht erhalten. Und dann hoffe ich, daß unsere Reise nicht lange dauert, und vor allem, daß Herr von Berkow schon gestorben ist, wenn wir in Fichtenau angekommen.«

»Das hoffen Sie? Und doch scheinen Sie diese Reise für notwendig zu halten?«

»Gewiß«, sagte Herr Bemperlein. »Es gibt gewisse traurige Pflichten, die man erfüllen muß, nicht der Welt wegen, die uns nicht schelten könnte und schelten würde, wollten wir sie unerfüllt lassen; nicht des andern wegen, dem unsere Opferfreudigkeit zugute kommt, und den wir vielleicht weder lieben noch achten, sondern um der Achtung willen, die wir vor uns selber haben. Doch was demonstriere ich Ihnen noch lange vor, was Sie so gut und besser wissen als ich. Sie haben ja auch zu dieser Reise geraten, obgleich Sie doch am meisten dabei verlieren. Es muß eine schauerliche Empfindung sein, so plötzlich aus allen seinen Himmeln gerissen zu werden. Seltsam! Seltsam! Je länger ich über dies alles nachdenke, desto begreiflicher wird es mir. Ja, ja – daß Sie die herrliche Frau lieben, das ist ja so natürlich, so – ich möchte sagen: logisch –, das Gegenteil würde barer Unsinn sein: Es muß sie jeder lieben, und um so mehr lieben, je edler sein Herz, je empfänglicher seine Seele für das Gute und Schöne ist. Ihr Herz ist edel, ihre Seele klingt harmonisch mit allem Schönen zusammen; so müssen Sie auch die schönste und beste Frau von ganzem Herzen, von ganzer Seele lieben. Und auf der anderen Seite: Ist sie nicht frei? Wenn auch nicht vor den Menschen, so doch vor dem Richter, der ins Verborgene sieht? Hat sie ihren Gemahl jemals geliebt? Konnte sie ihn lieben, dem sie verkauft wurde um schnödes Geld – verkauft von dem eigenen Vater, als sie noch viel zu jung und zu unschuldig war, das Bubenstück auch nur zu ahnen, geschweige denn zu durchschauen? Oh, mein Blut kocht, wenn ich daran denke! Nein, nein! Sie durfte Sie lieben, sie mußte Sie lieben, sie, deren Herz ganz Liebe und Güte ist. Ich freue mich, daß es so gekommen ist, ich wünsche Ihnen Glück von ganzem Herzen. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Mensch und würde im Gefühl dieser meiner Unbedeutendheit nimmer den Blick zu solcher Höhe zu erheben wagen; aber, wenn ich einen andern kühn und stolz auf dieser Höhe wandeln sehe, so erfüllt das meine Brust mit Bewunderung, die von Neid frei, ganz frei ist, und noch einmal: Ich wünsche Ihnen Heil und Segen von ganzem Herzen!«

Herr Bemperlein ergriff Oswalds beide Hände und drückte sie mit Lebhaftigkeit. Die Augen standen ihm voll Tränen; er war innerlich erschüttert.

»Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte Oswald gerührt. »Der Beifall eines Mannes, den ich so hoch achte, ist mir tausendmal mehr wert als das Urteil der dummen, blinden Welt. Die Welt wird unsere Liebe verketzern und verdammen, aber die Welt weiß nichts von Gerechtigkeit.«,

»Nein«, sagte Herr Bemperlein, »und dennoch ist sie unsere Richterin, deren Ausspruch wir uns fügen müssen, wir mögen wollen oder nicht. Und dieser Gedanke ist es, der für meine Augen einen tiefen Schatten auf das sonnige Bild einer so reinen, uneigennützigen Liebe wirft. Doch ich will Ihr Herz, das in diesem Augenblicke schon schwer genug ist, nicht noch schwerer machen. Dem Starken und Mutigen hilft das Glück. Sie sind ja stark und mutig und sind es doppelt und dreifach, weil sie lieben. Es soll ja der Glaube Berge versetzen können. Was dem Glauben gelingt, kann der Liebe nicht unmöglich sein. Doch still, da kommt die gnädige Frau.«

Die Tür wurde geöffnet und Melitta erschien im Reiseanzug. Der alte Baumann war bei ihr.

»Ich bin bereit, lieber Bemperlein«, sagte sie zu diesem, und dann, sich in Oswalds Arme werfend: »Leb wohl, liebes Herz! Leb wohl!«


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