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Vierzehntes Kapitel

Fröhlich wie Kinder aus der Schule eilten Oswald und Melitta aus dem Hause durch die grünen Laubgänge des Gartens nach der Pforte, die da hinaus auf die Wiese führte. Hinter der allmählich ansteigenden Wiese ragte der Wald. Gleich neben der Pforte und ein Stück im Garten hin lag ein halb versumpfter, hie und da am Rande mit Weiden besetzter Teich, da sich das Wasser des Waldbaches an dieser tiefer gelegenen Stelle abermals staute, um dann an dem Gutshof vorüber und hernach durch das Dorf lustig hinabzuplätschern. Auch die Wiese war schon zum Teil versumpft, mochte auch wohl im Frühjahr ganz unter Wasser stehen; jetzt dienten große Steine als rohe Brücken über gar zu nasse Stellen.

»Der Weg ist für Stadtherrn ein wenig sehr ländlich, nicht wahr, Herr Doktor?« sagte Melitta, leicht wie eine Gazelle von Stein zu Stein hüpfend. »Wir Naturkinder freilich sind an dergleichen gewöhnt. Ich hätte Sie auch den längern Weg durch den Park und den Wald führen können; aber Sie müssen Berkow auch von seiner Schattenseite kennenlernen.«

»Nun wahrlich, gnädige Frau, wenn dies eine Schattenseite von Berkow ist, so verlangt mich nicht nach den Sonnenseiten«, sagte Oswald lächelnd, indem er auf einem der Blöcke stehenblieb und seinen Hut abnahm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen; denn die Luft war schwül, der blaue Schalten war vorübergezogen, die am Rande des Holzes stehende Sonne schoß glühende Strahlen, und sie waren schnell gegangen.

»Schon müde?« sagte Melitta, ebenfalls stehenbleibend und sich den Hut abnehmend, um ihr reiches, braunes Haar nach hinten zu schütteln. »Kommen Sie, je schneller wir laufen, desto früher kommen wir in den schattigen Wald. Ich zähle eins, zwei, drei – und wer zuerst ankommt –«

»Nun?«

»Das wird sich finden. Eins, zwei drei – oh –«

Melitta war von dem Stein, auf welchem sie stand, auf einen anderen, niedrigeren gesprungen, und sank mit einem Ausruf des Schmerzes in die Knie. Im Nu war Oswald an ihrer Seite.

»Mein Gott, was ist Ihnen, gnädige Frau?«

»Oh, nichts, nichts! Ich habe mir im Springen den Fuß etwas vertreten, es wird gleich besser sein.«

Sie stützte sich auf Oswalds Arm; blaß und vor Schmerz die Unterlippe zwischen den Zähnen pressend. Aber die Farbe kam ihr wieder, als sie zu Oswald aufschaute.

»Seien Sie unbesorgt«, sagte sie – und ihre Stimme klang süßer als je – »Ihre Wette haben Sie doch gewonnen. So, jetzt wird es schon wieder gehen!«

Sie wollte ihren Arm aus Oswalds Arme ziehen; aber er mochte die schöne Beute nicht so bald wieder fahrenlassen.

»Sie können, ohne sich zu stützen, noch nicht gehen, und mißgönnen Sie mir die Freude, Ihnen diesen geringen Dienst leisten zu dürfen?«

»Ich fürchte nur, der Weg ist bei der Sonnenglut für Sie selbst beschwerlich genug. Oh!«

Ein falscher Tritt ließ Melitta abermals zusammensinken.

»Wir werden stehenbleiben müssen«, sagte sie.

»Ich will Sie die paar Schritte bis an den Wald hinauftragen; Sie können sich da wenigstens im Schatten ausruhen.«

Melitta lächelte. »Ich bin nicht so leicht wie eine Puppe.«

»Und ich nicht so schwach wie ein zehnjähriges Mädchen«, rief Oswald, umfaßte Melittas schlanken Leib und sie emporhebend, trug er sie sicher wie die Mutter ihr Kind über die letzten Steine hinauf bis an den Waldrand, wo die breiten Kronen der Buchen Schatten und Kühlung spendeten. Dort ließ er sie sanft aus seinen Armen auf das dichte Moos gleiten, indem er selbst vor ihr stehen blieb. Melitta hatte sich von dem Augenblicke an, wo der kühne junge Mann sie emporhob, nicht weiter gesträubt; sie fühlte alsbald, daß er stark genug sei, sie zu tragen; aber sie hielt es für töricht, ihm die Last nicht soviel wie möglich zu erleichtern und hatte sich dicht in seine Arme geschmiegt.

»Wie stark Sie sind«, sagte sie jetzt, bewundernd zu ihm aufschauend.

Oswalds Herz hämmerte und seine Brust wogte, mehr vor innerer Erregung als infolge der Anstrengung. Er fühlte noch immer die elastischen Glieder, die er in seine Arme gepreßt, das weiche Haar, das sein Gesicht umspielt, den süßen Atem, der seine Stirn umweht hatte.

»Unter solchen Umständen wäre es eine Kunst, nicht stark zu sein«, antwortete er.

»Aber angegriffen hat es Sie doch, gestehen Sie es nur. Kommen Sie und setzen Sie sich zu mir; auf diesem Moossofa ist Platz für mehr als zwei.«

Oswald ließ sich neben Melitta, die sich an den Stamm der Buche lehnte, in das weiche Moos sinken, stützte den Kopf auf den Arm und schaute sinnend empor in ihr heiteres Antlitz. – Nahte sich der Traum am Sumpfesrand der Erfüllung? Wird sich das liebe, holde Gesicht zu ihm niederbeugen und ihn küssen, wie die Traumgestalt? Oder ist dies wieder ein Traum?... Es überkam Oswald das wunderliche Gefühl, als habe er dies alles schon einmal erlebt; als kenne er diesen Platz: hier den dunklen Hochwald, aus dem das Klopfen eines Spechtes ertönte – vor ihm die Wiese, über deren langes Gras rote Abendlichter wogten, – drüben den stillen Garten, aus dessen grünem Revier Melittas graues Schloß hervorragte – seit vielen, vielen Jahren; – als habe er Melitta selbst in seinem früheren Leben oft gesehen, als Knabe schon, wenn er sich recht tief in ein schönes, lauschiges Märchen hineingelesen hatte, so daß zuletzt die holde Prinzessin ordentlich leibhaftig vor ihm stand... und auch Melitta mußte Ähnliches empfinden, denn vollkommen unbefangen, als wäre er ihr Bruder oder Gatte, nahm sie ihm den Hut vom Haupt und drückte ihm ihr feines, duftendes Taschentuch wiederholt auf die perlende Stirn und die blauen, träumerischen Augen.

Oswald ergriff die liebe Hand und preßte sie an seine Lippen.

»Die Hand muß ich Ihnen freilich lassen«, sagte er, »aber das Tuch kann ich Ihnen wahrlich nicht wiedergeben.«

»So behalten Sie es als Andenken an diese Stunde. Aber jetzt wollen wir weiter. Wir haben bis zur Waldkapelle doch noch eine ziemliche Strecke, und der Himmel sieht in der Tat drohend aus.«

Melitta lehnte sich auf Oswalds Arm, als sie jetzt den schmalen Pfad einschlugen, der erst durch Buchen, dann zwischen einer Schonung jungen Laubholzes auf der einen und hochstämmigen Nadelholze auf der andern Seite tiefer in den Wald führte. Die Sonne goß über die niedrigen Büsche fort ihre letzten Strahlen purpurn auf die Wipfel der Tannen; ein Vöglein strömte in weichen, klagenden Tönen, als wenn es Abschied nähme von der Sonne und vom Leben, seine süßen Abendlieder aus. – Dann erlosch die Purpurglut droben, das Vöglein verstummte, und der Schatten wurde düsterer und drohender, und die Stille wurde seltsam unterbrochen von dem Knarren und Stöhnen der Tannenriesen, die ihre starken Glieder reckten und dehnten, als wollten sie prüfen, ob ihre Kraft noch ausreiche, dem Gewittersturm, der über den Wald heraufzog, zu trotzen. Und jetzt begann es in den Büschen unheimlich zu zischeln und zu flüstern, dürres Laub flog, wie in toller Angst, her vor der Windesbraut, die sausend in das Blättermeer schlug, die Kronen der Buchen wie wahnsinnig durcheinanderpeitschte, die hohen Wipfel der Tannen mächtig bog und den Wald bis in die tiefsten Gründe aus seiner Ruhe schreckte. Das fahle Licht eines Blitzes zuckte auf; schon fielen große warme Tropfen durch die Blätter.

Melitta hatte sich dicht an Oswald geschmiegt, dessen Herz mit dem Sturm aufjauchzte. Die Geliebte mit dem einen Arm an sich drückend, streckte er wie zum Kampf den andern zum gewitterschwarzen Himmel auf. »Nur zu, nur zu«, murmelte er durch die zusammengepreßten Zähne, »ich fürchte dich nicht!... Wie, gnädige Frau, ist Ihr Mut schon zu Ende? Oh, es ist schön im stürmenden, donnernden Walde!«

Melitta sprach kein Wort; die Augen nicht vom Boden erhebend, eilte sie weiter, schneller und immer schneller, bis der Wald sich zu einer weiten Lichtung öffnete; und da lag vor ihnen, in diesem Augenblick von dem rötlichen Lichte eines Blitzes hell erleuchtet, die Waldkapelle. Nur ein paar Schritte noch und sie langten unter dem weit vorspringenden Dache des im Schweizerstil allerliebst ausgeführten Häuschens an. Rasch erstieg Melitta die Stufen, die zu der niedrigen Veranda hinaufführten; sie nahm einen kleinen Schlüssel aus der Tasche ihres Kleides, drehte das Schloß auf, aber, anstatt die Tür zu öffnen, lehnte sie sich zitternd gegen die Pfosten. Sie war bleich; ihre Kraft schien gänzlich erschöpft; sie drückte die Hand auf das Herz. So sah sie Oswald, als er den Blick von der im Regen dampfenden Wiese – ein Anblick, der ihn stets mit einer eigentümlichen Lust erfüllte – zu ihr wendete.

»Mein Gott, gnädige Frau, was ist Ihnen? Was haben Sie?«

»Oh, nichts, nichts!« sagte sie, beim ersten Ton seiner Stimme sich aufraffend. »Es ist der schnelle Lauf; jetzt ist es schon wieder besser; kommen Sie!«

Sie öffnete die Tür und trat ein; Oswald folgte. Aber er fuhr entsetzt zurück, als er in dem mystischen Halbdunkel, das in dem Gemache herrschte, eine hohe weiße Gestalt erblickte, die aus der Wand hervorzuschweben schien.

»Was ist das?« rief er im ersten Schrecken.

»Was?« sagte Melitta, welche die Fenster öffnete, um die frische Luft in das heiße, blumendufterfüllte Gemach strömen zu lassen.

»Die Venus von Milo!« rief Oswald, und ein wollüstiger Schauder durchrieselte ihn.

»Meine Heilige! Ich sagte es Ihnen ja. Nun, wie finden Sie die Kapelle?«

Es war ein nicht sehr großes, aber verhältnismäßig hohes Gemach; rechts und links je ein Fenster, das auf die Veranda führte, der Tür gegenüber stand in einer Nische auf einem niedrigen Piedestale das Bild der Göttin. Bequeme Gartenstühle, eine Chaiselongue, ein Tisch, auf dem Bücher, Papiere, Zeichenmaterialien, eine angefangene Stickerei, Reitpeitsche und Handschuhe durcheinanderlagen – waren die einfache, schickliche Ausstattung.

»Sind Sie sehr naß geworden?« fragte Melitta, ihren Hut auf den Tisch werfend, ohne die Antwort auf ihre vorige Frage abzuwarten. Und dann:

»Gehen Sie da vom Fenster fort, Sie werden sich erkälten. Kommen Sie hierher, oder nein, setzen Sie sich auf die Chaiselongue und erholen Sie sich!«

Und wieder.

»Wenn ich nur etwas für Sie herbeischaffen könnte! – Aber es ist wahr, ich kann ja Tee bereiten. Wo sind nur gleich die Sachen? Hier – nein, dort in dem Schrank.«

Das alles sagte sie hastig, wie gedrängt von einer in ihr wühlenden Unruhe, mit raschen, ungleichen Schritten im Gemache hin und her schreitend.

Oswald ergriff ihre Hand.

»Sorgen Sie nur erst für sich selbst, liebe, gnädige Frau; mir schadet das bißchen Regen wahrlich nichts. Ihr Kleid ist feucht, und ihre dünnen Stiefel sind auch keine Fußbekleidung für das nasse Gras der Wiese.«

»Oh, für mich ist leicht Rat geschafft. Ich habe nebenan alles, was ich brauche.«

»Nebenan?«

»Sagte ich Ihnen nicht, daß ich hier oft selbst die Nächte zubringe? Die Tür dort führt in meine Garderobe.«

»So gehen Sie sogleich hinein und kleiden Sie sich um.«

Melitta zog ihre Hand aus der des jungen Mannes, und ging, ohne ein Wort zu erwidern, von ihm fort und verschwand durch eine Tür, die sich neben der Statue befand und die Oswald jetzt zum ersten Male bemerkte.

Er warf sich in einen der Lehnstühle und stützte den Kopf in die Hand; dann sprang er wieder auf, lehnte sich ins Fenster und starrte mit düsteren Augen hinein in den Sturm und Regen; dann ging er mit hastigen Schritten in dem Gemache auf und ab; endlich warf er sich vor dem Piedestale der Göttin nieder und legte seine heiße Stirn auf ihre Marmorfüße.

Das Rauschen eines Gewandes dicht neben ihm schreckte ihn aus seinem Fiebertraum.

»Melitta!« rief er mit Tränen der Wonne im Auge zu ihr aufschauend. »Melitta!«

Sie beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn zärtlich auf die Stirn; dann aber eilte sie von ihm fort, warf sich in einen der Lehnstühle und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.

Oswald fiel vor ihr nieder; er umfaßte ihre Knie; er drückte sein glühendes Gesicht in ihren Schoß; er küßte ihr Gewand, ihre Hände. »Melitta! Süße, Holde, weine nicht! Wie kannst du weinen, da du mich so namenlos glücklich machst! Melitta, liebe, liebe Melitta! Deine Tränen töten mich. Nimm lieber mein Herzblut, Tropfen für Tropfen. Mein Blut, mein Leben, meine Seele sind ja dein! Melitta, für diesen Augenblick will ich dir ewig danken, hörst du, Melitta, ewig –«

»Um Gottes willen, schwöre nicht!« rief Melitta, auffahrend und ihm die Hand auf den Mund legend. Dann ergriff sie seinen Kopf und küßte ihn leidenschaftlich auf Stirn und Augen und Mund.

Und wieder sprang sie empor und eilte, wie von Dämonen verfolgt, in dem Gemache auf und ab. »Oh, mein Gott, mein Gott!« rief sie, die Hände ringend. Sie eilte auf die Tür zu, als wollte sie entfliehen, aber, ehe sie dieselbe erreichte, brach sie zusammen. Oswald fing sie in seinen Armen auf; er trug sie nach dem Sofa; er bedeckte ihre kalten Hände, ihre bebenden Lippen mit glühenden Küssen; ein Freudenschrei entrang sich seiner gepreßten Brust, als die starre Gestalt sich endlich wieder zu regen begann.

Sie richtete sich halb empor und ihre Augen mit dem Ausdruck unendlicher Liebe auf ihn heftend, sagte sie leise – leise und fest, wie ein Kranker, der seinen Arzt fragt, ob Leben oder Tod das Ende sein wird –

»Oswald, höre mich an! Liebst du mich jetzt, in diesem Augenblicke so, wie du glaubst, daß du ein Weib auf Erden lieben kannst?«

»Ja, Melitta!«

»Nun denn, Oswald, so liebe ich dich – jetzt und immerdar.«

Das Gewitter war vorübergebraust; schweigend ruhte der regenerquickte, duftende Wald; und über dem Wald erglänzte aus dem purpurnen Abendhimmel der Venus leuchtender Stern.


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