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Fünfundvierzigstes Kapitel

Baron Felix war angekommen – mitten in der Nacht. Er war bei guter Zeit von dem Fährdorfe in seinem eigenen Wagen aufgebrochen, als es dem Kammerdiener schwer aufs Herz fiel, der Toilettenkasten seines Herrn möchte sich nicht bei dem übrigen Gepäck befinden, da er ihn unter die Bank des Bootes zwischen seine Füße gestellt und wahrscheinlich stehengelassen hatte. Schüchterne Hindeutung Jeans auf die Möglichkeit dieses Falles – großer Zorn von seiten des Barons Felix und Androhung von Ohrfeigen, Stockprügeln und Entlassung – auf offener Landstraße angestellte Nachforschung – schließlich, da sich das corpus delicti wirklich nicht fand, Umkehr. Leider war unterdessen das Fährboot mit dem hochwichtigen Kasten unter der Bank bereits abgesegelt. Bis es wieder an der Landungsbrücke anlegte, vergingen mehrere Stunden, denn es war unterdessen Windstille eingetreten und die Leute hatten sich mit den schweren Rudern – zur Verzweiflung des Baron Felix, der sie vom Strande aus durch ein Taschenteleskop beobachtete – Zoll um Zoll hinüberarbeiten müssen.

So war der Abend bereits tief hereingesunken, als der Baron zum zweiten Male – diesmal mit dem Kasten – von dem Fährdorfe aufbrach.

Er war in einer fürchterlichen Laune. Er hatte versprochen, heute noch auf Grenwitz einzutreffen, da er »den Augenblick, seine schöne Cousine zu sehen, nicht erwarten könne«. Eine Verzögerung seiner Ankunft konnte ihm leicht übel ausgelegt werden. Besser also, in tiefer Nacht, als gar nicht kommen. Auf der andern Seite aber war eine nächtliche Fahrt durch Wald und feuchtes Moor – noch dazu in einem offenen Wagen – keineswegs nach dem Geschmacke des jungen Exleutnants, der – jedenfalls infolge der ungeheuren Strapazen auf dem Exerzierplatze und bei den Paraden – sehr an Rheumatismus litt und eine Erkältung wie die Pest fürchtete. Er wählte also von den zwei Übeln, sich dem Verdacht der Gleichgültigkeit oder der Gefahr einer Erkältung auszusetzen, das kleinere und drohte nur, daß er von der Größe seines Schnupfens morgen früh die Größe der Strafe für Jeans Nachlässigkeit werde abhängen lassen.

Es war deshalb eine nicht unbedeutende Beruhigung für Jean, als sein Herr am nächsten Morgen (man hatte die nächtliche Ruhe des Schlosses so wenig wie möglich gestört und sich von einem der herausgepochten Bedienten die schon längst bereitstehenden Zimmer anweisen lassen) mit sehr guter Laune erwachte, seinen Kakao wie gewöhnlich im Bett zu trinken begehrte und nachdem er sich halb hatte ankleiden lassen – die zweite, wichtigere Hälfte besorgte er eigenhändig –, ihn fortschickte, um Herrn Timm, dessen Anwesenheit auf dem Schlosse er erfahren hatte, bitten zu lassen, ihn auf ein paar Minuten auf seinem Zimmer zu besuchen.

»Ah voilà, lieber Timm, wie geht es Ihnen?« sagte Baron Felix, das letzte Wort auffallend markierend, als der Angeredete bald darauf eintrat. »Sie entschuldigen, daß ich Ihnen so früh lästig falle: aber ich – zum Teufel, nun hat der Esel von Jean wieder heißes statt warmes Wasser gebracht – entschuldigen Sie! – Jean, warmes Wasser, Nilpferd! – Nun sagen Sie, wie geht es Ihnen, lieber Timm? Freue mich, Sie hier so zufällig zu treffen. Wie geht es Ihnen?« und der Baron streckte dem Angeredeten einen der Finger seiner linken Hand, die er eben abgetrocknet hatte, entgegen.

»Danke, Baron, passabel!« sage Albert, den dargebotenen Finger sehr flüchtig mit etwa zwei Fingern seiner Hand berührend. »Ich glaubte schon, Sie würden mich gänzlich vergessen haben.«

»Bewahre«, sagte Felix, »freute mich, wie gesagt, heute morgen sehr, als Jean mir die Gesellschaft hier erzählte und ich Ihren Namen hörte. Aber wie gottvoll Sie sich in Zivil ausnehmen! Wirklich gottvoll, auf Ehre!« und Felix blieb, eine Bürste in der einen und einen kleinen Toilettenspiegel in der anderen Hand, vor Albert stehen, ihn von Kopf bis zu den Füßen wie ein fremdes merkwürdiges Tier ansehend.

»Meinen Sie?« sagte Albert trocken. »Freut mich, kann Ihnen leider das Kompliment nicht zurückgeben, da ich erst die folgenden Stadien Ihrer Toilette abwarten muß. Aber das eine kann ich Ihnen sagen – jünger sind Sie unterdessen nicht geworden. Haben Sie nicht noch eine Zigarre?«

»Dort auf dem Tisch«, sagte Felix, »in dem Ebenholzkästchen – Sie müssen die Feder nach unten drücken – nicht jünger geworden? Aber hoffentlich doch auch nicht älter, ich meine auffallend – zum wenigsten erfreue ich mich, wie Sie sehen, noch meiner sämtlichen Zähne und zum mindesten fünf Sechstel meiner Haare –« und Felix bürstete mit unendlichem Wohlgefallen die allerliebsten kurzen braunen Locken, die noch ziemlich üppig seinen wohlgeformten Kopf bedeckten.

»Nun, mit den Haaren mag's noch gehen«, sagte Albert, der jetzt auf einem Sofa Platz genommen hatte und den vor dem Spiegel eifrig beschäftigten Felix mit heimlicher Schadenfreude musterte, »aber wo haben Sie nur alle die Falten in Ihrem Gesicht herbekommen? Die scharfe Morgenbeleuchtung ist wirklich nichts mehr für Sie. Ich machte Ihnen früher das Kompliment, Sie hätten eine frappante Ähnlichkeit mit Byron; aber jetzt sehen Sie wenigstens wie Byrons Vater aus. Und dann – Sie waren niemals durch Fülle ausgezeichnet, jetzt sind Sie auf ein Minimum reduziert.«

»Je schlanker, desto eleganter«, meinte Felix, »und übrigens kommt das wieder; ich wurde in der letzten Zeit etwas knapp gehalten.«

»Das alte Leiden?«

»Nun, wenigstens eine neue Auflage.«

»Vermehrt oder verbessert?«

»Es ging noch; aber damit ist es jetzt vorbei. Wir sind solid geworden; wir werden uns zur Ruhe setzen – wie finden Sie diese Beinkleider? Ist es nicht eine geistreiche Kombination des militärischen und des Zivilschnitts? Ganz meine Erfindung! – Wir werden heiraten –«

»Das sollten Sie bleibenlassen, Baron!«

»Weshalb?«

»Wenigstens sollten Sie eine ältere, verständige Dame heiraten.«

»Weshalb?«

»Weil Sie, fürchte ich, über kurz oder lang doch einer mütterlichen Freundin bedürftiger sein werden als einer anspruchsvollen jungen Gemahlin.«

»Pah, mon cher, ich habe die Ehre, aus einer Familie zu stammen, in der man ungestraft lüderlich sein darf. Ein bißchen Rheumatismus – das ist das Äußerste. Was sagen Sie zu diesem Rock?«

»Gar nichts; Sie wissen, ich war nie ein Kenner in diesen Dingen.«

»Freilich, Sie waren stets das unsaubere Gefäß, in welches sich die Schale des Zorns unseres guten Obristen leerte. Wissen Sie, daß sich der arme Teufel erschossen hat?«

»Nein, weshalb?«

»Weil er die Schande nicht hat überleben wollen, daß bei der letzten großen Parade, die zweite Kompanie mit Tuchhosen statt mit weißen Hosen angerückt kam, und er deshalb vom Kommandierenden ob dieser ›Schweinerei‹ einen fürchterlichen Rüffel besah.«

»Gott hab ihn selig!«

»Amen. Apropos! Wie lange sind Sie denn schon hier auf Grenwitz? Ich höre seit Wochen? Da müssen Sie die Gesellschaft ja aus- und inwendig kennen. Ja, was ich eigentlich wissen wollte: Wie befindet sich denn mein würdiger Onkel und meine vortreffliche Frau Tante? Und wie hat sich denn meine Cousine – haben Sie schon eine solche Uhr gesehen? Doppelter Sekundenzeiger – der Zeiger oben zeigt Monat und Datum – direkt aus London – ich glaube, es ist die erste, die auf dem Kontinent getragen wird.

Apropos! Wer kann denn heute nacht das hübsche, schwarzäugige, kleine Ding gewesen sein, das wir auch aufgestöbert hatten und das im allerliebsten Nachtkostüm über den Flur huschte – es schien eine Art Wirtschafterin oder dergleichen. Ihr habt doch weiter keinen Besuch auf dem Schlosse?«

»Nein –«

»Also ganz en famille? Wollen Sie gefälligst die Klingel über Ihrem Kopfe ziehen? Ich dächte, ich sähe heute ganz ausnehmend wohl aus – Jean! Habe ich dir nicht gesagt, Kamel, daß du diesen Rock hier nicht tragen sollst – gleich zieh den neuen an! Und dann geh und frage bei der gnädigen Herrschaft an, ob ich jetzt meine Aufwartung machen dürfe.«

»Die Frau Baronin haben schon zweimal nach dem Herrn Baron gefragt.«

»Nun, dann sag, ich würde gleich kommen. – Au revoir, lieber Timm, ich hoffe, Sie an der Mittagstafel zu sehen –« und Felix warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, goß etwas Eau de Cologne auf sein weißes Taschentuch und schritt durch die Tür, die ihm Jean öffnete, davon, ohne sich weiter nach Albert, der ihm auf dem Fuße folgte, umzusehen.

Dieser schaute dem Enteilenden mit einem höhnischen Lächeln auf den schmalen feinen Lippen nach: »Lieber Timm«, murmelte er, »ich will dir den lieben Timm und das Sie anstreichen, du Affe!«

Es war am Abend desselben Tages. Man hatte soeben die Mahlzeit, die bei gutem Wetter jetzt stets auf der Terrasse eingenommen wurde, beendet und bereitete sich zu einem gemeinschaftlichen Spaziergange, den man, auf den Vorschlag der Baronin, durch den Buchwald nach dem Strande machen wollte. Oswald hätte sich ausschließen mögen, da ihm in seiner augenblicklichen Stimmung die Gesellschaft peinlich war, aber Felix, der ein großes Gefallen an dem schweigsamen, ernsten Mann zu finden schien, hatte ihn so lange gebeten, kein Störenfried und Spielverderber zu sein, daß er sich endlich, zu Brunos großer Freude, zum Mitgehen entschloß. So brach man denn auf und gelangte bald in den schönen Wald, wo in den grünen Zweigen noch die roten Abendlichter spielten. Felix hatte der Baronin den Arm gegeben; Fräulein Helene ging an ihres Vaters Seite; Oswald, Albert und die Knaben und Mademoiselle Marguerite gingen voran oder folgten, bald einzeln, bald paarweise, wie der schmale Waldweg es eben erlaubte. Felix, den sein Arzt besonders vor Erkältung gewarnt hatte, fand es im Wald doch kühler und feuchter, als er vermutete, und er wünschte im stillen sehnlichst, daß die Partie sich nicht so sehr in die Länge ziehen möchte. Indessen hielt er es natürlich für geraten, seinen geheimen Wünschen keine Worte zu leihen, sondern dem reizenden Einfall »dieses romantischen Spazierganges« ein Kompliment zu machen.

»Es freut mich, wenn ich damit Ihrem Geschmack entsprochen habe, lieber Felix«, sagte Anna-Maria, »ich gestehe, ich hätte Ihnen so viel Sinn für die einfachen Freuden des Landlebens nicht zugetraut. Wie gut trifft es sich, daß auch Helene diesen Geschmack teilt. Ihr werdet einmal ein recht verständiges, solides Leben führen, wie es sich für eure Verhältnisse schickt.«

»Nun, meine Verhältnisse, liebe Tante –«

»Werden sich bessern, ich bin davon überzeugt; aber Sie werden viel zu tun haben, lieber Felix, bis Sie ganz frei aufatmen können. Wie lange hat es gedauert, bis selbst wir nur die allergrößten Hindernisse aus dem Wege geräumt hatten! Und von einer wirklichen Beherrschung der Situation können wir erst ein paar Jahren sprechen, wenn Stantow und Bärwalde uns hoffentlich nicht mehr länger vorenthalten werden können und die übrigen Güter in neuen und, ich denke, besseren Pacht kommen. Sie sollten Ihre Güter auch neu vermessen lassen, lieber Felix. Sie finden in Timm einen fleißigen und geschickten Arbeiter. Ich bin ganz überrascht, daß Sie den jungen Mann schon von früher her kennen; von der Kadettenschule, nicht wahr?«

»Ja, liebe Tante; er war ein großer –«

»Liebling – ich glaube es gern; ist er es doch auch hier bei uns allen.«

»Das wollte ich nun eigentlich nicht sagen«, versetzte Felix lachend, »indessen man hatte ihn allerdings im allgemeinen sehr gern. Er war der unermüdlichste Spaßmacher; und wenn es sich um einen Geniestreich handelte, so stand er sicher an der Spitze. Indessen, man tut gut, ihm den Daumen etwas aufs Auge zu halten; er gehört zu den Leuten, die, wenn man ihnen den kleinen Finger gibt, die ganze Hand nehmen.«

»In der Tat!« sagte Anna-Maria, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Ich habe den jungen Menschen bis jetzt stets für die Bescheidenheit selbst gehalten; für viel bescheidener als etwa unsern Herrn Stein.«

»Wirklich?« meinte Felix. »Ich hätte nun gerade gedacht, daß Herr Stein sich seiner Stellung vollkommen bewußt ist.«

»Nun, Sie werden ihn noch näher kennenlernen. Er ist einer der arrogantesten Menschen seines Standes, die mir je vorgekommen sind.«

»Wir wollen ihm das austreiben«, sagte Felix, seinen äußerst winzigen Schnurrbart drehend, »mit solchen Leuten muß man kurzen Prozeß machen. Ich kenne das. Diese Leute sind sich alle gleich. Sobald sie merken, daß wir sein wollen, was wir von Rechts wegen sind – die Herren im Staat und im Haus – kriechen sie zu Kreuz. Sie werden nur übermütig durch unsere Schuld. Man muß sie fortwährend in dem Bewußtsein ihrer Stellung halten. Sie sind zu gut gegen den Menschen gewesen; das ist alles. Ich wunderte mich, offen gestanden, schon heute mittag, mit welcher Nachsicht sich Fräulein Helene seine Zurechtweisung – ich weiß nicht mehr, um was es sich handelte – gefallen ließ.«

»Nun, Helene ist sonst nicht gerade seine Freundin; wie sie denn überhaupt eine wahrhaft aristokratische Antipathie gegen alles Plebejische hat. Nähren Sie diese Grundsätze ja! Ich glaube, Sie werden so den nächsten Weg zu ihrem Herzen finden.«

»Nun, ich denke, dieser Weg wird ja wohl nicht so übermäßig schwer zu entdecken sein«, sagte Felix mit selbstgefälligem Lächeln, »ich habe einige Erfahrung in diesem Kapitel, ma chère tante!«

»Die Sie in diesem Falle brauchen werden, lieber Felix. Helene ist ein sehr eigentümlicher, schwer zu berechnender Charakter. Ich gestehe, daß ich noch nicht gewagt habe, ihr unser Projekt offen darzulegen. Ich wollte erst die Wirkung abwarten, die Sie ohne Zweifel auf ihr Herz hervorbringen werden. Sie haben hier die beste Gelegenheit, sich ihr in dem liebenswürdigsten Lichte zu zeigen; ja nicht einmal einen Nebenbuhler haben Sie zu fürchten. Wir leben sehr zurückgezogen, und ich werde mit Eifersucht darüber wachen, daß diese Zurückgezogenheit auch während Ihres Aufenthaltes so wenig wie möglich gestört wird.«

»Verzeihen Sie, liebe Tante, wenn ich in diesem Punkte anderer Meinung bin«, sagte Felix, »ich müßte mir wahrscheinlich mein teures Lehrgeld wiedergeben lassen, wenn ich den Vergleich mit den jungen Standesgenossen hier auf dem Lande scheuen zu müssen glaubte. Im Gegenteil: Jeder, den ich aus dem Sattel hebe, ist ein Schritt näher zu meinem Ziele, wenn es denn wirklich so sehr weit gesteckt sein sollte. Nein! Bitten Sie so viel Gesellschaft wie möglich. Machen Sie meine und Helenes Anwesenheit zu einer Veranlassung, kleine Diners, Soupers, Tees zu geben; und hernach fassen wir alles in einem großen Ball zusammen, auf dem dann unsere Verlobung der ganzen Gesellschaft mitgeteilt wird, die dann natürlich über ein Ereignis, das sie seit Wochen erwartet hat, in ein obligates Staunen gerät.«

»Sie sind kühn, lieber Felix«, sagte die Baronin, der diese Methode, auch der Kostspieligkeit wegen, nur halb gefiel.

»Wozu hätte ich denn sonst des Königs Rock so lange Jahre getragen?« erwiderte Felix, seiner Tante galant die Hand küssend.

Währenddessen von der Baronin und Felix so ruhig über Helenes Schicksal debattiert wurde, hatte zwischen dieser und ihrem Vater ein Gespräch stattgefunden, das die feingesponnenen Pläne der Baronin und den vermeintlich raschen Siegeslauf des jungen Exleutnants auf eine gar eigentümlich naive Weise durchkreuzte.

Der alte Baron liebte seine schöne Tochter mit aller Liebe, deren sein braves Herz fähig war, liebte sie um so mehr, als er über die Gerechtigkeit der Bestimmungen, die das junge Mädchen von dem Majoratsvermögen ausschlossen, von jeher nicht geringe Zweifel gehabt hatte. Dazu kam, daß er die Zurücksetzung sehr wohl empfand, die die Tochter von seiten der Mutter bis dahin erfahren hatte, wenn er auch zu schwach gewesen war, Maßregeln dagegen zu ergreifen und vor allem der Hamburger Verbannung ein Ende zu machen. Auch dem Heiratsprojekt hatte er seine Zustimmung nur gegeben, weil ihm Anna-Maria eingeredet hatte, so könne die Ungleichmäßigkeit in dem Schicksal der beiden Kinder am besten ausgeglichen werden, da Helene, als die Gattin Felix' nach Maltes etwaigem Tode, dann gewissermaßen zur Erbschaft gelangte, wenigstens in den vollen Genuß des Vermögens käme. Aber auch hier hatte er Helenens vollkommen freie Zustimmung als unumgängliche Bedingung festgesetzt, wogegen er sich wieder verpflichtet hatte, die Leitung der Angelegenheit den geschickten Händen seiner Gemahlin zu überlassen und vor allem sich vor einer vorzeitigen Enthüllung des Planes in acht zu nehmen.

Nun aber hatten die Eindrücke in der letzten Zeit an diesen Vorsätzen und Entschlüssen arg gerüttelt. Zuerst war ihm in Hamburg, als ihn ein plötzlicher Fieberanfall auf das Krankenlager warf, der Gedanke gekommen, er könne in nächster Zeit sterben und Helene dann ganz verlassen dastehen, ohne seinen Rat, ohne sein Veto, das er, im äußersten Falle, der Ausführung der Pläne Anna-Marias entgegenzusetzen, fest entschlossen war. Er hatte seine Tochter immer geliebt, jetzt betete er sie an. Sie war so schön, so stolz, und gegen ihn, den alten Vater, so freundlich bescheiden, daß sein Herz, wenn er dachte, er könnte aus dem Leben gehen, ohne das Schicksal dieses seines Lieblings sichergestellt zu haben, Angst und Trauer zugleich empfand. Wäre nun Felix der Mann gewesen, wie er sich den Gemahl seiner Tochter wünschte, so hätte noch alles gehen mögen. Aber das war Felix keineswegs. Der alte Baron war seinerzeit auch ein junger Baron und war wie Felix Offizier gewesen. Er wußte sehr wohl, welchen Versuchungen ein junger und reicher Edelmann in dieser Lage ausgesetzt ist; er selbst war diesen Versuchungen nicht immer entgangen und hatte in seinem reiferen Alter, als sein von jeher ernst gestimmter Geist die naturgemäße Richtung erlangt hatte, mit bitterer Reue die Sünden seiner heißblütigen Jugend beklagt. Er hatte an seinem Vetter Harald das lebendige Beispiel gehabt, wohin die ungezügelten Leidenschaften zuletzt führen, und sein durch die Liebe zu seiner Tochter und durch die Erfahrung in diesem einen Falle doppelt scharfes Auge erkannte sofort, daß sein Neffe Felix in einem hohen Grade der Sklave dieser Leidenschaft gewesen sein mußte, vielleicht noch war. Er hatte den jungen Mann vor ein paar Jahren gesehen, als dieser eben die Kadettenschule verließ. Damals hatte er eine angenehme Erinnerung an den schlanken, kräftig gebauten Jüngling mit dem frischen hübschen Gesicht und den lebhaften hellen Augen davongetragen; jetzt sah er von dieser allerliebsten Erscheinung nur noch einen traurigen Schatten. Eine gespenstige Magerkeit, tiefe Furchen in dem jugendlich-alten Gesicht, die großen blauen Augen gläsern oder von einem fieberhaften Glanze leuchtend und stets mit dem starren, frechen Blick, der deutlicher spricht als eine lange Lebensbeschreibung – die Bewegungen hastig und fahrig, offenbar in der Absicht, die innere Mattigkeit und Schlaffheit zu verdecken, die Rede vorlaut und über alles mit derselben souveränen Oberflächlichkeit weghuschend – das ganze Wesen von einer krankhaften Eitelkeit wie zerfressen – so oder ungefähr so erschien ihm Felix, trotzdem seine Menschenfreundlichkeit hier wie überall die schlimmsten Flecken des Bildes gutmütig vertuschte.

Es tat ihm leid, daß er sich von seiner Gemahlin das Versprechen hatte abnehmen lassen, in dieser Angelegenheit nicht selbständig handelnd aufzutreten. Es kam ihm vor, als ob er sich mit diesem Versprechen doch übereilt habe, und auf jeden Fall hielt er dafür, daß eine geschickte Sondierung, wie denn Helene selbst in diesem Punkte denke, kein Bruch des Versprechens sei. So sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, ihren Arm in den seinen legend:

»Wie befindest du dich, meine Tochter?«

»Ich danke, Vater, gut, weshalb?« erwiderte Fräulein Helene, etwas überrascht über diese plötzliche Frage.

»Ich dächte, du sähest etwas blaß aus.«

»Das kommt nur von der ungünstigen Beleuchtung hier unter den grünen Bäumen«, antwortete das junge Mädchen heiter, »ich befinde mich aber wirklich ganz wohl.«

»Ich fürchtete immer, der plötzliche Wechsel der Luft, der Lebensweise, des Umgangs würde dir schädlich sein. Du bist zu lange vom Hause fortgewesen.«

»Das ist nicht meine Schuld, lieber Vater.«

»Ich weiß es wohl, ich weiß es wohl; aber meine Schuld ist es auch nicht; ich habe stets der Abkürzung der Pensionszeit das Wort geredet, aber –

»Nun, ich bin ja endlich hier, und wir wollen das Versäumte möglichst nachholen. Wir wollen recht viel zusammen spazierengehen; ich will dir aus deinen Lieblingsbüchern vorlesen; es soll ein reizendes, stillvergnügtes Leben werden.« Und das junge Mädchen nahm die Hand ihres Vaters und führte sie an ihre Lippen.

»Du bist ein gutes, liebes Kind«, sagte der Baron, und seine Stimme zitterte etwas, »gebe Gott, daß ich mich deiner noch recht lange zu erfreuen habe.«

»Aber, bester Vater, schon wieder solche hypochondrische Gedanken! Du bist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so rüstig wie immer. Weshalb sollten wir nicht noch lange glücklich zusammenleben!«

»Aber wenn du uns verließest.«

»Ich sterbe fürs erste noch nicht, deshalb sei nur ganz unbesorgt«, sagte Fräulein Helene lachend.

»Das wollte auch Gott verhüten! Aber Eltern und Kinder werden ja nicht bloß durch den Tod getrennt! Wenn du nun heiratest, so müssen wir uns doch darauf gefaßt machen, dich abermals zu verlieren, nachdem wir dich kaum wiedergewonnen haben.«

»Aber, Papa, du sprichst ja gerade, als ob ich womöglich morgen schon heiraten soll! Ich denke gar nicht daran. Auch die Mutter fing gestern davon an. Wollt ihr mich denn wirklich so gerne wieder fort haben?«

»So, so, also deine Mutter hat schon mit dir gesprochen, hm, hm!« sagte der alte Baron, der natürlich nicht anders dachte, als daß die Baronin mit dem längst besprochenen und vorbereiteten Plan endlich hervorgetreten sei, und der die Zeit, den Tag vor Felix' Ankunft, auch ganz passend gewählt fand. »So, so! hm, hm! Nun, und wie gefällt dir denn dein Cousin?«

»Wer? Felix?« fragte Helene, die für den Augenblick in ihrer Unbefangenheit den Zusammenhang dieser Frage mit dem Vorhergehenden nicht einmal ahnte.

»Ja.«

»Er kommt mir vor wie der Champagner, den wir heute mittag tranken. Die ersten Tropfen schmeckten recht gut, als ich das Glas eine Weile hatte stehenlassen, fand ich den Wein sehr fade und abgeschmackt. – Aber ihr habt mich doch nicht etwa für Cousin Felix bestimmt?« fragte Fräulein Helene, der dieser Gedanke jetzt erst durch den Kopf schoß, mit großer Lebhaftigkeit.

»Bewahre, das heißt, ganz wie du willst; ich will sagen, es wird deinem Willen in dieser Hinsicht nie ein Zwang auferlegt werden«, erwiderte der alte Baron, der weder die Wahrheit sagen durfte noch lügen wollte, mit ziemlicher Verwirrung.

Helene antwortete nicht, aber der angeregte Gedanke arbeitete in ihrem lebhaften Geiste weiter. Sie verglich das gestrige Gespräch, das sie auf ihrem Zimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, mit dem soeben geführten. Es bedurfte nicht einmal eines so scharfsinnigen Kopfes, als der ihre war, um den Zusammenhang zwischen diesen beiden Unterredungen und den Sinn der hingeworfenen Andeutungen zu entdecken. Ihr stolzes Gemüt empörte sich, wenn sie dachte, daß man, ohne sie zu fragen, ohne ihre Meinung einzuholen, im voraus über ihr Schicksal entschieden und ihre Hand versprochen habe; daß dieser Felix, vor dem ihr reines, keusches Herz sie instinktiv warnte, vielleicht schon in diesem Augenblick sie als die Seine betrachtete! Diese Gedanken nahmen sie so ganz in Anspruch, daß sie nicht einmal in das bewundernde: Ah, wie schön, wie herrlich! einzustimmen vermochte, in das die übrige Gesellschaft ausbrach, als man einige Minuten später aus dem Walde auf den Rand des hohen Ufers hinaustrat.

Die Sonne war soeben in das Meer gesunken und schien die in allen Schattierungen von Rot und Gold prangenden Wolken in einem Strudel hinter sich herzuziehen. Von dem Punkte, wo sie untergegangen war, schossen lichte Streifen durch die Wolken nach allen Seiten bis hoch hinauf in den durchsichtigen blauen Himmel. Die See war nach dem Horizonte hin ein Feuermeer, und auf einzelnen höheren Wellen zitterten die goldenen Funken bis zum Strand herüber. Das hohe vielfach zerklüftete Kreideufer und der Buchwald, der es krönte, waren von dem roten Abendschein wie von einer bengalischen Flamme angestrahlt. Ringsumher tiefe feierliche Stille, nur unterbrochen von dem dumpfen Rauschen der Wogen unten auf den Kieseln des Strandes und dann und wann von dem grellen Schrei einer Möwe, die über den erregten Wassern flatterte.

Die Gesellschaft stand gruppenweise da, verloren in Betrachtung des herrlichen Schauspiels, das mit jedem Augenblicke wechselte. Oswald, dem die ewigen Ausrufe der Bewunderung, an denen sich besonders die Baronin und Felix überboten, nachgerade langweilig wurden, hatte sich etwas von den übrigen entfernt und sich auf die bloßliegende Wurzel einer mächtigen Buche gesetzt.

»Haben Sie noch einen Platz für mich?« fragte Helene, die ihm gefolgt war.

»Ich räume Ihnen gern den meinigen ein,« sagte Oswald aufstehend.

»Nur für einen Augenblick; ich weiß nicht, der Spaziergang hat mich außerordentlich müde gemacht.«

»Sie sind heute morgen vielleicht zu lange im Garten gewesen.«

»Nein, aber à propos, wie kommt es, daß ich Sie heute und auch schon gestern nicht gesehen habe?«

»Bloßer Zufall.«

»Das freut mich.«

»Weshalb?«

»Ich fürchtete, aufrichtig gestanden, ich hätte Sie aus dem Garten vertrieben; ich dachte, dies ewige Sichbegegnen mit derselben bewußten Person wäre Ihnen unleidlich geworden.«

»Sie denken in der Tat äußerst bescheiden von der bewußten Person.«

»Nein, spotten Sie nicht; ich dachte es im Ernst – ja und noch mehr: Sie sind seit vorgestern abend sehr still und, wie mir vorkam, besonders kurz gegen mich. Sie haben mir auch gestern meine Literaturstunde, auf die ich mich so sehr freute, nicht gegeben. Bin ich vielleicht unwissentlich die Veranlassung –«

»Wie meinen Sie?«

»Nun, ich rede manchmal, was vielleicht hart und anmaßend klingt, wenigstens ist mir dieser Vorwurf oft gemacht worden; aber ich meine es wirklich nicht so –«

Und Helene blickte mit ihren großen dunkeln Augen freundlich zu Oswald empor, der in Bewunderung ihrer Schönheit und in Erstaunen über diese plötzliche und unerklärliche Milde und Teilnahme verloren, vor ihr stand.

»Was sehen Sie mich so seltsam an?«

»Daß sich so viel Güte hinter so viel Stolz verstecken kann!«

»Ist es denn die Welt wert, daß wir ihr unser Herz zeigen?«

»Eine sonderbare Frage in dem Munde eines so jungen Mädchens.«

»Freilich, wir dürfen ja über nichts nachdenken. Wir sind, wenn's hoch kommt, hübsche Puppen, mit denen man spielt und die man an den ersten besten verschenkt, der merken läßt, daß er uns gern haben möchte.«

»Cousine«, rief Felix, »wir wollen zum Strande hinabgehen; wollen Sie mit?«

»Nein!« sagte Helene, ohne sich nach dem Sprechenden umzuwenden.

»Es ist eine reizende Partie«, rief Felix.

»Möglich«, erwiderte das junge Mädchen kurz, ohne ihre Stellung zu verändern.

Felix kam zu dem Platze, auf dem sich Oswald und Helene befanden, herüber und sagte. »Aber, Helene, Sie werden doch diese erste Bitte, die ich an Sie richte, nicht abschlagen?«

»Weshalb nicht?« erwiderte diese, und der Ton ihrer Stimme klang eigentümlich scharf und bitter. »Ich kann das Bitten und die Bittenden nicht leiden, das können Sie nicht früh genug lernen.«

»Haben Sie sich den Fuß vertreten, teuerste Cousine?«

»Weshalb?«

»Weil Sie so unbeweglich sitzen und in so schauderhafter Laune sind«, erwiderte Felix lachend und ging ohne ein Zeichen, daß ihn das Benehmen Helenens irgend verletzt habe, zu den übrigen.

»Wollen Sie sich nicht der Gesellschaft anschließen, Herr Doktor?« fragte Helene, auf deren Wangen noch die Erregung der letzten kleinen Szene brannte, als jetzt die andern den ziemlich steilen Weg, der zum Strand führte, hinabzusteigen begannen.

»Sie wünschen allein zu sein?«

»Nicht doch; im Gegenteil, ich freue mich, wenn Sie hierbleiben wollen. Nach der geistreichen Unterhaltung von heute mittag und heute abend fühlt man das Bedürfnis, endlich einmal ein verständiges Wort zu sprechen. Sie haben mir noch immer nicht gesagt, ob ich Ihnen, ohne es zu wissen und zu wollen, durch irgendeine unvorsichtige Bemerkung vielleicht, weh getan habe?«

»Nein, durchaus nicht. Ich habe vorgestern abend eine Nachricht erhalten, die mich sehr betrübt. Erinnern Sie sich des Professor Berger von Ihrer Badereise nach Ostende vor drei Jahren?«

»Ei gewiß! Wie könnte man den vergessen! Mir ist, als ob ich ihn gestern gesehen hätte, so deutlich steht er vor mir mit seinen geistvollen Augen unter den buschigen Brauen und stets mit einem Bonmot auf den Lippen. Was ist mit ihm? Er ist doch nicht gar tot?«

»Nein, schlimmer als das – er ist wahnsinnig geworden.«

»Um Gottes willen! Der Professor Berger – dieses Bild der Klarheit und Geisteshoheit! Wie ist das möglich? Wissen es die Eltern schon?«

»Nein, und bitte, sagen Sie auch nichts; ich könnte es jetzt nicht ertragen, daß darüber gesprochen würde.«

»Sie hatten den Professor wohl recht lieb?«

»Er war mein bester, vielleicht mein einziger Freund.«

»Wie beklage ich Sie«, sagte Helene, und auf ihrem schönen Antlitz war die Teilnahme, die sie empfand, deutlich zu lesen, »ein solcher Verlust muß fürchterlich sein. Und Sie stehen hier ganz allein mit Ihrem Kummer, und keiner nimmt teil an Ihrem Schmerz.«

»Ich bin das von jeher gewohnt gewesen.«

»Haben Sie denn keine Eltern, keine Geschwister, Verwandte?«

»Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war; mein Vater vor mehreren Jahren; Geschwister habe ich nie gehabt; Verwandte, wenn ich welche habe, nie gekannt.«

Helene schwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Linien in den Sand.

Plötzlich hob sie den Kopf und sagte in einem Ton, der halb wie eine Klage und halb wie eine Herausforderung klang:

»Wissen Sie, daß man Eltern und Geschwister und Verwandte haben und doch recht allein sein und sich recht einsam fühlen kann? Und Sie haben es doch immer gut; Sie sind ein Mann; Sie können für sich selbst handeln, während –«

Das junge Mädchen brach ab, als fürchtete sie, sich von ihren Empfindungen zu weit hinreißen zu lassen. Sie stand auf und trat einige Schritte von Oswald weg dicht an den Rand des steilen Ufers. – Es war ein wundersam schönes Bild, diese stolze, schlanke Gestalt auf dem lichten Hintergrunde des goldenen Abendhimmels, der ihr herrliches Haupt wie mit einem Glorienschein umgab. Und wie ein Engel des Himmels erschien sie Oswald, in dessen krankes Herz ihre guten, mitleidigen Worte wie milder Regen auf eine welke Blume gefallen waren. Und nun zum ersten Male erinnerte er sich wieder des Gespräches, das er am Tage seiner Zurückkunft von Sassitz mit dem Doktor gehabt hatte. Also wirklich! Dies holde, herrliche Geschöpf sollte auch verkauft werden, wie Melitta verkauft worden war! Sie sagte es selbst! Aus ihrem eigenen Munde hatte er es nur eben gehört: Sie hatte keinen Freund! Sie stand allein da in der Welt! Sie konnte nicht für sich selbst handeln! Und sie hatte noch Mitleid und Trost für ihn, sie, die sie selbst des Mitleids und des Trostes – nein, tätiger Hilfe – so sehr bedurfte!

Da gellte von dem Strande, auf dem die übrigen jetzt angekommen waren, ein Schrei empor – und wie Helene, die sich vom Schwindel ganz frei wußte, noch einen Schritt näher an den Rand trat und sich über den Abhang beugte, ein zweiter, noch greller, noch schriller, noch angstvoller.

»Um Himmels willen«, rief Helene, »was kann denn da geschehen sein? Mir deucht, es war Brunos Stimme. Lassen Sie uns hinab!« Der Weg zum Strande, der sich im Zickzack an den Kreidefelsen hinwand, war trotz seiner Steilheit im Nu von den jungen Leuten zurückgelegt. Als sie atemlos unten ankamen, sahen sie Bruno ohnmächtig, von Albert gehalten, während die andern ratlos umherstanden.

»Holen Sie Wasser, schnell!« sagte Oswald, Albert den Knaben abnehmend und diesem das Halstuch abknöpfend und die Kleider öffnend, woran noch niemand gedacht hatte.

»Wie ist denn dies gekommen?« fragte Helene, die kalten Hände Brunos in ihre Hände nehmend und angstvoll in sein schönes blasses Gesicht starrend.

»Es weiß es niemand von uns«, sagte die Baronin.

»Es wird ein Anfall von Schwindel sein«, meinte Felix.

Unterdessen hatte Oswald von dem Wasser, das Albert – in Brunos Hut – gebracht hatte, des Knaben Stirn und Schläfen und Brust reichlich benetzt. Helene erinnerte sich, daß sie ein Fläschchen Eau de Cologne bei sich führe, und half Oswald in seinen Bemühungen. Es gelang ihnen in kurzem, den Ohnmächtigen wieder zu sich zu bringen. Er schlug langsam die großen Augen auf, sein erster Blick fiel auf Helene, die sich über ihn beugte.

»Bist du tot, ganz tot?« murmelte er, die Augen wieder schließend.

Man glaubte, er habe den Verstand verloren.

»Komm zu dir, Bruno!« sagte Helene, den Knaben mit leiser Hand über Stirn und Augen streichelnd.

Bruno ergriff diese Hand und drückte sie fest auf seine Augen, durch deren geschlossene Wimpern sich zwei große Tränen drängten. Dann richtete er sich mit Oswalds Hilfe vollends auf.

»Mir ist wieder ganz wohl!« sagte er. »Ich bin wohl gar ohnmächtig gewesen? Wie lange habe ich so gelegen?«

»Nur ganz kurze Zeit«, sagte Oswald, Brunos Gesicht mit seinem Taschentuche abtrocknend und den Anzug wieder in Ordnung bringend.

»Du hast uns einen rechten Schrecken verursacht; was hattest du denn nur?« fragte die Baronin.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Knabe, dessen blasse Wangen plötzlich hohe Purpurglut bedeckte, »es kam so plötzlich. Danke, danke, ich glaube, ich kann jetzt mit Herrn Steins Hilfe ganz gut weiterkommen.«

»Wir wollen wieder umkehren«, sagte die Baronin. »Daß einem doch jedes, auch das bescheidenste Vergnügen durch irgendeinen Unfall verleidet wird!«

Man stieg langsam das Ufer wieder hinauf und trat, ziemlich einsilbig und verstimmt, den Rückweg durch den Wald an. Felix, der sich zu erkälten fürchtete, ermahnte zu größerer Eile; Oswald bemerkte trocken, er wolle die übrige Gesellschaft nicht aufhalten, man möge ihm indessen erlauben, mit Bruno langsam zu folgen. Helene erklärte, daß sie bei Bruno bleiben würde; der alte Baron, der bei dem ganzen Vorfall eine große, wenn auch tatlose Teilnahme an den Tag gelegt hatte, schlug vor, die Gesellschaft sollte sich in einen Vortrab und einen Nachtrab teilen, er selbst wolle bei dem letzteren bleiben.

»Du wirst dir den Schnupfen holen, lieber Grenwitz«, sagte die Baronin, »ich dächte, du kämest mit uns.«

»Nein, ich werde bei den anderen bleiben«, sagte der alte Baron mit einer Bestimmtheit, die alle überraschte.

Er gab seiner Tochter den Arm, blieb aber in der Nähe Oswalds und Brunos, eine harmlose Unterhaltung, wie er sie liebte, mit ihnen führend und sich von Zeit zu Zeit nach des Patienten Befinden erkundigend.

»Ich befinde mich wohl, ganz wohl«, versicherte dieser ein Mal über das andere; doch fühlte Oswald, daß er sich fest auf seinen Arm stützte und daß seine Hände kalt waren.

Sie kamen, lange nach den anderen, auf dem Schlosse an. Der alte Baron wünschte gute Besserung, als Oswald sich sofort mit Bruno auf dessen Zimmer begab, wo er den Knaben sich sogleich zu Bett legen ließ.

»Du bist kränker, Bruno, als du zugeben willst«, sagte er, sich zu ihm aufs Bett setzend, »nicht wahr, du hast deine alten Schmerzen?«

»Ja«, sagte Bruno, dessen Zähne zusammenschlugen, und auf dessen Stirn der kalte Schweiß stand.

Oswald beeilte sich, die alten Hausmittel, wie jenes erste Mal, herbeizuschaffen; und es gelang seinen Bemühungen auch jetzt, das Übel zu beheben, wenigstens die Schmerzen in kurzer Zeit zu lindern.

»Wirst du auch mir nicht sagen, Bruno, was dich so bewegt hat?« fragte Oswald da.

»Doch«, sagte der Knabe, »ich wollte es nur nicht in der anderen Gegenwart, weil ich ihr albernes Gelächter schon im voraus hörte. Ich war etwas zurückgeblieben und durch einen Vorsprung des Ufers von ihnen getrennt. Ich dachte immer, ihr würdet nachkommen, und deshalb ging ich so langsam und blickte oft nach oben. Da sah ich plötzlich Helene ganz nahe an den Rand des Ufers treten, das an dieser Stelle wohl hundert Fuß und darüber lotrecht hinabfällt. Ich schrie laut auf in entsetzlicher Angst, da trat sie noch näher – bog sich sogar herüber – und da wurde es mir schwarz vor den Augen – nun und das übrige weißt du ja. Aber ich höre Malte kommen. Gute Nacht, Oswald.«

»Gute Nacht, du Wilder!«

Oswald küßte seinen Liebling auf die Stirn und ging nachdenklich auf sein Zimmer. Er lehnte sich in das offene Fenster und schaute lange, in Sinnen und Brüten verloren, in den Garten hinab.

Die Nacht war finster, nur hier und da schimmerte ein Stern auf Augenblicke durch den Wolkendunst. Manchmal rauschten die Bäume lauter auf, als sprächen sie ängstlich in einem wirren, unruhigen Schlaf; der Brunnen der Najade plätscherte dazwischen, leise und abgebrochen.

Dein Leben gleicht dieser Nacht, sprach Oswald bei sich, hier und da ein Stern, der so bald wieder verschwunden ist, und sonst alles chaotisches Dunkel. Du hast recht, guter Berger: Unser Leben ist ein hohles Nichts, und wer nur überhaupt einen Verstand zu verlieren hat, muß ihn darüber verlieren. Wolltest du, daß dir dein Schüler so bald als möglich nachfolgen könnte, als du mich hierher schicktest? Da bist du nun an demselben Orte, wo Melitta ist und auch Oldenburg. Vielleicht siehst du sie, wenn sie Arm in Arm an deiner Zelle vorübergehen; vielleicht kommt dir bei der Gelegenheit der Verstand wieder, den andere Leute bei dem Anblick verlieren würden. Ich könnte ja auch eine kleine Reise nach Fichtenau machen, meine guten Freunde zu besuchen; wer weiß? Vielleicht gefällt mir der Ort so sehr, daß ich gleich da bleibe.

»Wie geht es Bruno?« tönte eine Stimme aus dem Garten herauf. Es war Helenes Stimme. Oswald sah ihr helles Gewand durch das Dunkel heraufschimmern.

»Ich danke, gut!« antwortete er hinab.

»Schlafen Sie wohl!«

Und das helle Gewand verschwand in den Büschen.

»Nein, das Leben ist mehr als ein hohles Nichts«, murmelte Oswald, indem er das Fenster schloß, »hätte Berger dieses Mädchen gesehen, er hätte wieder an das Leben geglaubt. Und doch! Er hat sie ja gesehen, gesehen und bewundert und besungen und ist doch wahnsinnig geworden! Öde alles und dunkel und gespenstisch und in dem öden gespenstischen Dunkel eine holde, freundliche Stimme, die uns schlafen gehen heißt.«


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