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Siebenunddreißigstes Kapitel

Als er nämlich an einem der folgenden Tage gegen Abend nach einer Abwesenheit von mehreren Stunden sich wieder dem Dorfe näherte, sah er vor der Tür von Mutter Karstens Wohnung einen mit zwei Pferden bespannten Wagen halten. Dies war etwas so ganz Außerordentliches in dem von allem Verkehr abgeschnittenen Sassitz, daß Oswald sich wohl denken konnte, es müsse auch etwas Besonderes sich unterdessen ereignet haben. Um den Wagen und an die Tür des Häuschens drängten sich Frauen und Kinder und die paar Männer, die nicht mit auf dem Fischfang waren. Sie wollten wissen, ob der alte Steffen, Mutter Karstens Vater, diesmal wirklich sterben müsse oder ob es dem jungen Doktor, nach dem Mutter Karsten vor einigen Stunden die rasche Stine geschickt hatte, gelingen würde, ihn noch einmal von seinem bösen Stickhusten zu kurieren.

So erzählten sie Oswald mit verstörten Mienen und gegen die Gewohnheit redselig, als er fragend unter sie trat. Denn Vater Steffen war der Patriarch des Dorfes, von allen geehrt. Oswald eilte auf die Nachricht hin, ohne sein Inkognito zu bedenken, in das Haus und die Wohnstube. Der silberhaarige Greis saß in seinem Lehnstuhl, matt und bleich, aber, wie es schien, der Gefahr entrissen – dank der rechtzeitigen Hilfe des Doktor Braun, der soeben von den Danksagungen der tiefgerührten Mutter Karsten, ihrer Töchter und eines halben Dutzend anderer Frauen nach der Tür retirierte.

»Gut, daß Sie kommen«, rief er dem eintretenden Oswald entgegen, »ich habe einen Auftrag an Sie; wollen Sie mir erlauben, daß ich mich dessen, da meine Zeit kurz gemessen ist, sogleich entledige?«

Der Doktor ergriff Oswald ohne Umstände unter dem Arm, ihn mit sich fort zum Hause hinausziehend.

»Entschuldigen Sie mein Ungestüm«, sagte er, als sie Arm in Arm am Strande hinschritten, »aber einmal treffen Sie mich in voller Flucht vor den Danksagungen der guten Leute, und zweitens betrachte ich Sie, trotzdem wir uns leider bis jetzt nur einmal gesehen, als einen alten Bekannten, denn ich habe mich seitdem in Gedanken sehr viel mit Ihnen beschäftigt. Aber nun zu meinem Auftrag! Sie wissen jedenfalls noch nicht, daß die Familie Grenwitz von der großen Badereise, auf die ich sie vor ein paar Tagen geschickt hatte, wohlbehalten wieder zurück ist?«

»Nein!« sagte Oswald mit nicht geringer Verwunderung.

»Wie sollten Sie auch in diesem von aller menschlichen Kultur abgeschnittenen Dorfe der Ichthyophagen! Genug, die Familie ist wieder da. Der Baron (so erzählt die glaubwürdige Anna-Maria) hatte in Hamburg einen fürchterlichen Fieberanfall. Der herbeigerufene Arzt erklärte es für Wahnsinn, unter diesen Umständen die Reise übers Meer anzutreten und riet zur Umkehr. Sein Rat wurde von Anna-Maria, die von vornherein gegen die Reise war, höchlichst gebilligt – bref! Sie packten sich samt und sonders und Fräulein Helene dazu, die sie aus der Pension abholten, in die große Familienkutsche und sind wieder hier seit gestern abend. Es wurde natürlich sofort nach mir geschickt. Ich bin heute nachmittag dort gewesen, und da ich zufälligerweise erwähnte, ich müsse noch nach Sassitz, bat mich die Baronin, die von Ihrem hiesigen Aufenthalte unterrichtet war, Ihnen zu sagen, daß man sich in Grenwitz ganz ausnehmend freuen würde, Sie möglichst bald wieder innerhalb des Schloßwalles zu sehen. Ich erwiderte, wie mir die Ausführung dieses Auftrages zu ganz besonderem Vergnügen gereiche und daß ich Ihnen zur Rückfahrt meinen Wagen und meine Gesellschaft anbieten würde – was ich denn, hochachtungsvoll und ergebenst, hiermit getan haben will.«

So sprach Doktor Braun, freundlich und lebhaft, wie es seine Gewohnheit war, die grauen Augen mit den braunen leuchtenden Sternen forschend auf Oswald heftend. »Ich komme Ihnen recht ungelegen, gestehen Sie es nur!« setzte er hinzu.

»Durchaus nicht!« erwiderte Oswald. »Das heißt, ich weiß, wie Achill, als man ihm die Brisäis raubte, den Boten von seiner Botschaft wohl zu unterscheiden.«

»Und wer ist die schöne Brisäis, die ich Ihnen oder der ich Sie entführe?« fragte der Doktor.

»Die Einsamkeit«, erwiderte Oswald.

»Nun, daraus mache ich mir kein großes Gewissen«, sagte der andere lachend, »die Einsamkeit ist wie der Duft mancher Giftpflanzen, süß, aber betäubend, und mit der Zeit geradezu verderblich, selbst für die stärksten Konstitutionen. Wollen Sie meinem Rate folgen? Lassen Sie die schöne Brisäis Einsamkeit in Gottes Namen ziehen, kutschieren Sie mit mir nach Grenwitz, wo Sie überdies ein Mädchen finden sollen, bei deren Erblicken Sie ausrufen werden: Hier ist mehr denn Brisäis!«

»Fräulein Helene?«

»Fräulein Helene, auch ein griechischer Name, und der einen besseren Klang hat wie der andere. Aber die Sonne, oder vielmehr Helios, senkt seinen Wagen, und meine Pferde werden ungeduldig. Sie kommen doch mit?«

»Ohne Zweifel«, sagte Oswald.

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen mit den beiden jungen Männern bereits auf der Höhe des Ufers nach Grenwitz zu, das nur eine Stunde Weges entfernt war. Oswald hatte Mutter Karsten hoch und teuer versprechen müssen, bald wieder nach Sassitz zu kommen, und die große Herzlichkeit, mit der sich beim Abschied alt und jung um ihn drängte und ihm ihr Adjies, Herr Maler! nachrief, zeigte, daß er sich während seines kurzen Aufenthaltes, ohne es darauf anzulegen, die Gunst des harmlosen Völkchens in einem hohen Grade erworben hatte.

Der Abend war wunderschön. Der rote Sonnenball hing am Horizonte und goß einen Zauberschimmer über die öde Küstenlandschaft. In dem hohen Heidekraut rechts und links vom Wege zirpten die Zikaden; Schwalben schossen hoch oben in der überaus klaren, weichen Luft. Oswald fühlte sich zum ersten Male seit langer Zeit beinahe heiter, und er mußte im stillen dem klugen Manne an seiner Seite recht geben, daß man die Freuden der Einsamkeit doch zu teuer erkaufe.

»Wie leid tut es mir«, sagte er, »daß wir unserem Vorsatz, uns häufiger zu sehen, so wenig treu geblieben sind.«

»L'homme propose et Dieu dispose«, erwiderte Doktor Braun. »Wir wollen es in Zukunft besser zu machen suchen. Sie bleiben ja, wie ich höre, noch lange in dieser Gegend, und ich werde auch wohl meinen Plan, nach Sundin überzusiedeln, noch so bald nicht ausführen können.«

»Sie wollen nach Sundin?«

»Vorläufig wenigstens. Ich konkurriere hier mit einem trefflichen Mann, der jedenfalls ein viel gewiegterer Praktiker ist wie ich Gelbschnabel, trotzdem aber durch mich in den Schatten gestellt wird, weil ich das Glück gehabt habe, ein paar gute Kuren zu machen, wie sie's nennen, und weil die Leute immer nach dem Neuen laufen, auch wenn es nicht das Bessere ist. Zwei Ärzte aber trägt die Gegend nicht, und mein Kollege ist alt und hat eine zahlreiche Familie zu ernähren; ich bin jung und vorläufig nur verlobt, folglich werde ich ihm den Platz räumen.«

»Das ist sehr edel.«

»So scheint es, aber scheint auch nur. Ich gieße das reine Wasser nur fort, weil ich noch reineres in Aussicht habe. Mein Schwiegervater ist einer der bedeutendsten Ärzte in Sundin. Die Hälfte seiner Praxis ist mir, wenn er sich zur Ruhe setzt, wozu er sich noch immer, trotz seiner wankenden Gesundheit nicht entschließen kann, gewiß; und da meine Braut eine Sundinerin ist, jedes Fischlein sich aber in seinem Teich am wohlsten fühlt, ich überhaupt die Gesellschaft der Zyklopen und Ichthyophagen, mit denen ich hier verkehren muß, herzlich satt habe, so – sehen Sie, daß mein Edelmut die Grenzen des Erlaubten noch keineswegs überschreitet.«

»Ist es indiskret, nach dem Namen Ihres Fräulein Braut zu fragen

»Bewahre: Sophie Robran. Aber was bestimmte Sie überhaupt, das Stilleben eines Hauslehrers in einer adeligen Familie zu führen, wo es Ihnen geradezu unmöglich wird, Ihre Kräfte frei zu entfalten?«

»Was mich dazu bestimmte?« antwortete Oswald. »Ich weiß es selbst kaum. Einmal wohl der gründliche Abscheu vor dem, was die Menschen mit jenem für ein planetarisches Gemüt so äußerst bedenklichen Ausdruck eine feste Anstellung bezeichnen; sodann der Einfluß Bergers, der mir dringend riet, mich nicht vor der Zeit zu binden, sondern noch ein paar Jahre in der Welt herumzusindbadesieren, wozu ich jetzt, wenn meinen Zöglingen die Flügel erst noch ein wenig gewachsen sein werden, sogar kontraktlich verpflichtet bin.«

»Wissen Sie, daß ich fürchte oder vielmehr hoffe, Sie werden nicht imstande sein, diesem Rat Ihres wunderlichen Freundes bis zum Ende zu folgen?«

»Weshalb?«

»Weil – Sie erlauben, daß ich ganz offen bin –, weil Sie sich hier in einer schiefen Stellung befinden, die über kurz oder lang unleidlich für Sie werden muß. Eine solche Stellung ist nur gut für jemand, der, weil er nicht auf eigenen Füßen stehen kann, gezwungen ist, sich an andere anzulehnen; der von Jugend auf gewohnt ist, seinen Willen, seine Meinung dem Willen anderer unterzuordnen oder besser noch, der überhaupt gar keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung hat. Von dem allen ist bei Ihnen das Gegenteil der Fall. Sie sind viel zu bedeutend für diese unbedeutenden Menschen. Sie ärgern sich über diese Menschen und vice versa. Das ist einmal nicht anders, wo so heterogene Elemente eine Verbindung eingehen sollen. Sie halten die Baronin für das, was sie ist, für eine dünkelhafte, adelsstolze, trotz ihrer Belesenheit bornierte, engherziger geizige Person, die Baronin hält Sie für das, was Sie nicht sind, für einen unendlich in sich verliebten, hochmütigen Narren. Sie leben in einem Hause, Sie essen an einem Tisch, und haben doch so wenig Berührungspunkte, als ob Sie durch eine Welt getrennt wären; Sie bleiben beieinander, weil keiner aus diesem oder jenem Grunde das Wort der Trennung sprechen will, bis ein Augenblick kommt, der den einen und den andern gebieterisch zur Entscheidung drängt. Habe ich recht?«

»Ich kann es nicht in Abrede stellen.«

»Sehen Sie. Und die Sache wird, glaube ich, jetzt noch schlimmer werden.«

»Warum jetzt?«

»Bis jetzt hatten Sie in diesem Narrenhause nur ein edles Geschöpf, das Sie lieben und bemitleiden konnten, den köstlichen Bruno; jetzt, wenn Sie zurückkehren, werden Sie noch einen zweiten Klienten oder vielmehr eine zweite Klientin finden. Ich fürchte, das arme Kind ist, um die erste Rolle einer Familientragödie zu übernehmen, aus der Idylle eines Hamburger Pensionats hierher nach Grenwitz geschleppt worden. Ich fürchte, es steht eine schwere Gewitterwolke über dem schönen Haupt des unglücklichen Mädchens. Sie werden, wie ich Sie kenne, versuchen wollen, den Schlag abzuwenden, und untröstlich sein, daß Sie es nicht vermögen. Sie blicken mich mit großen Augen fragend an, und ich sehe, daß Sie von den Geheimnissen der Familie, in der Sie schon seit einem Vierteljahr leben, noch so gut wie gar nichts wissen. Die Sache ist die: Anna-Maria lebt in beständiger Furcht vor dem Tode des alten Barons, weil, wenn der Baron stirbt, sie nicht nur einen alten Gemahl, sondern auch die angenehme Aussicht verliert, sich aus dem Überschuß der Revenuen nach und nach ein bedeutendes Vermögen zurücklegen zu können. Deshalb ist ihr Malte lange nicht so wichtig. Dennoch fürchtet sie auch für den, da bei seinem Tode das Majorat ganz außer dieser Linie heraus an eine noch jüngere fallen würde, die durch Felix von Grenwitz, einen Exleutnant und notorischen Roué, repräsentiert wird. Und nun kommt die Teufelei: Um, wenn auch der Baron und selbst Malte vor der Zeit sterben sollten, doch immer noch, sozusagen, die Hand im Spiele zu haben, hat Anna-Maria eine Heirat zwischen Fräulein Helene und dem ausgezeichneten Vetter Felix projektiert. Das arme Kind weiß nichts von diesem interessanten Plan, desto mehr aber fürchte ich, der ausgezeichnete Felix, der in wenigen Tagen nach Grenwitz kommen wird, um fern von dem aufregenden städtischen Treiben in der Stille des Landlebens ganz seiner angegriffenen Gesundheit zu leben, wie die Baronin sagt. Mit einem Worte: Es ist die alltägliche Misere von Soll und Haben, das ganz gemeine Brimborium, durch welches ein unschuldiges Püppchen geknetet und zugerichtet wird, und Ihnen wird das Glück zuteil werden, diesem erhabenen Schauspiel als unbefangener Beobachter beiwohnen zu dürfen.«

»Das wird nimmermehr geschehen« rief Oswald.

»Sie wollen also Ihre Stelle aufgeben?«

Eine Sturmflut von Leidenschaft brauste durch Oswalds Seele. Er dachte an die unglückliche Marie, die jetzt oft mit auf der Brust gefalteten Händen, wie eine schmerzensreiche Heilige, durch seine Träume glitt, er dachte an Melitta, die verkauft worden war von ihrem eigenen Vater! Jetzt sollte sich das Bubenstück wiederholen – vor seinen Augen –

»Nimmermehr, nimmermehr!« rief er. »Wenigstens nicht, bevor ich so oder so die Ausführung dieses schurkischen Planes vereitelt habe; bevor ich getan habe, was ich tun konnte, ihn zu vereiteln!«

»Aber was werden Sie tun können; lieber Freund? Die Großmut ist eine Tugend, der wir genau auf die Finger sehen müssen, damit sie uns nicht die Heldenkrone, von der wir träumen, in eine klingende Schellenkappe verwandelt. Denken Sie an den edlen Junker aus der Mancha, und wie sein ritterlicher Leib geschunden und geprügelt wurde für die Wallungen seines guten Herzens! – Und dann: wissen Sie denn, ob die Andromeda, deren Perseus Sie werden wollen, überhaupt befreit sein will? Ich kenne den Baron Felix nicht – vielleicht ist er besser als sein Ruf; ich habe nicht drei Worte mit Fräulein Helene gesprochen vielleicht ist sie keineswegs so lieb und gut, wie sie schön ist.«

»Sie ist es, sie ist es, verlassen Sie sich darauf«, rief Oswald eifrig.

»Gut, daß Sie noch nicht dreißig Jahre alt sind«, sagte der Doktor lachend.

»Weshalb?«

»Sie wissen, was den Schwärmern, nach Goethes Ausspruch, in dem bezeichneten Lebensalter zukommt? Der Tod – an demselben Kreuze, welches sie bis dahin keuchend durch das Leben schleppten. – Aber da sind wir schon nahe am Tore. Wollen Sie mir erlauben, daß ich Sie hier absetze? Ich habe noch einen Besuch im Dorfe zu machen, und dieser Weg führt direkt hin, während ich über den Schloßhof einen langen Umweg machen muß. Übermorgen komme ich wieder nach Grenwitz. Hoffentlich geht Ihr Puls dann ruhiger. Ich sagte Ihnen ja gleich: Die Einsamkeit ist reines Gift für Ihre Natur. Adieu!«


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