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Elftes Kapitel

Der Waldweg, auf dem jetzt Oswald leicht und fröhlich dahinschritt, schien wenig betreten und noch weniger befahren. Im Winter mochte es ein verzweifelter Weg sein, desto schöner und poetischer war er nun im Sommer. Hier und da wucherten Gras und Lattich von einem der schlechtgehaltenen Gräben bis zum andern quer darüber hin; an manchen Stellen überwölbten ihn die hohen Buchen und Eichen mit ihren breiten Kronen. Je tiefer Oswald in die grüne Wildnis drang, desto heimlicher und stiller wurde es um ihn her – so heimlich und still, daß er in dem Liede, das er vorhin lustig angestimmt hatte, plötzlich abbrach, als fürchte er, den Wald im Schlaf zu stören.

Denn in dieser heißen Nachmittagssonne schläft der Wald. Das grüne Blütenmeer rauscht nicht in schwellenden Wogen; still und unbeweglich trinkt es die Glut der Sonne. Kaum, daß es hier oder dort leise in einem der Bäume wispert. Das erweckt dann wohl einen oder den anderen der schlafenden Nachbarn, oder sie raunen nur dem Störenfried zu, daß jetzt keine Zeit zum Plaudern sei, und träumen weiter. Die Vögel harren, im dichtesten Laube versteckt, der Abendkühle. Das Weibchen schlummert auf dem Nest über den halbflüggen Jungen; das Männchen sitzt auf dem Zweige daneben, hat das Köpfchen unter den Flügel gesteckt und schlummert, müde von dem frühen Aufstehen, dem jubelnden Gesang den lieben langen Morgen hindurch und der eifrigen Jagd auf Mücken und Würmchen. Die wissen, daß es jetzt gute Zeit für sie ist, und tanzen lustig in den roten Sonnenstrahlen, die heimlich durch die Zweige schlüpfen, und kriechen und krabbeln und hasten sich durch das warme, weiche Moos. Tiefe Ruhe! Da tönt ein sonderbarer heiserer Schrei in kurzen, wie in Ärger schnell hintereinander ausgestoßenen Tönen. Das ist der Falk, des Waldes Förster. Er ist ein schlimmer Gesell, den sein böses Gewissen nicht schlafen läßt, und deshalb klingt auch sein Ruf so grell und schrill, wie er jetzt stolz und einsam hoch droben in der blauen Luft über dem stillen Blättermeer, seinem Revier, die wunderlichen, mystischen Kreise zieht.

Ein blondköpfiger Junge, der am Rande des Waldes ein paar Gänse hütete, hatte Oswald gesagt, daß der Weg nach Berkow durch das Holz kaum eine halbe Stunde und nicht zu verfehlen sei. Daß er dabei die schweigende Voraussetzung gemacht hatte, der Wanderer werde auf dem Wege bleiben und des Weges achten, war natürlich. Da Oswald aber, wie es seine Gewohnheit war, weder das eine noch das andere getan hatte, alle Augenblicke über den Graben gesprungen und in den Wald hineingelaufen war, wo das Unterholz weniger dicht wucherte, und die hohen Hallen zwischen den mächtigen Stämmen gar zu verführerisch lockten, und auf alles geachtet hatte, nur nicht auf den Weg – so mochte er es sich denn auch nun selbst zuschreiben, als er aus dem Dickicht heraus, statt auf den Weg, den er bisher gegangen war, zu gelangen, auf einen schmalen Waldpfad kam, und, ihn in falscher Richtung weitergehend, immer tiefer in den Forst geriet.

Oswald stand still und lauschte, ob er nicht die Stimme eines Menschen, das Pochen einer Axt vernehmen werde, aber er hörte nichts als den Schrei des Falken und das Klopfen seines eigenen Herzens. Lustig rief er in den Wald hinein: »Wo geht der Weg nach Berkow, Falk?« – Falk hallte das Echo zurück.

Endlich wurde es lichter zwischen den Bäumen. Schon glaubte er, den Saum des Holzes erreicht zu haben. Statt dessen trat er auf eine Lichtung heraus, die fast von einem kleinen, zum Teil mit hohen Binsen bedeckten See eingenommen wurde. An dem Rande entlangschreitend, scheuchte er ein Sommer-Entenpaar auf, das aus dem Röhricht hervorbrach und mit wunderbarer Hast über den Sumpf fort in den Wald flog. Dann wieder lautlose Stille.

Kommt Zeit, kommt Rat, sagte Oswald bei sich. Vorläufig will ich mich aber ein wenig ausruhen, denn ich finde, daß ich nachgerade müde werde.

Er hing seinen Strohhut an einen Zweig, breitete sein Taschentuch über eine der mit dichtem Moos bewachsenen Wurzel einer vielhundertjährigen Buche und streckte sich behaglich in das Heidekraut.

Der Platz ist wie zum Schlafen gemacht, sprach er bei sich, träumerisch den Libellen zuschauend, die über dem dunklen Wasser des Sumpfes, bald stillstehend, bald pfeilschnell fortschießend, ihr wunderliches Wesen trieben. Wer weiß? Vielleicht ist dies ein Zauberwald, so ein von Kultur übersehenes Stück Romantik, ein kleiner stehengebliebener Rest von den großen, großen Wäldern, die in Musäus' Märchen rauschen, von dem Walde etwa, drin der Graf wohnte, der seine Töchter verkaufte, wenn er die Wechsel am Verfalltage nicht einlösen konnte – eine Manier, seine Schulden zu bezahlen, die selbst noch heutzutage in Schwung sein soll. Und wer nun in diesem Walde einschläft, wozu ich große Lust verspüre, schläft so ein paar hundert Jährchen, ehe er's sich versieht, und wenn er aufwacht, wallt ihm ein schneeweißer Bart bis zum Gürtel. Darob gerät er denn in gerechtes Erstaunen, und er fragt den ersten Bauer, der ihm begegnet, ob er ihm nicht den Weg nach Berkow zeigen könne? Berkow? antwortet der Angeredete höflich. Habe nie von einem solchen Orte gehört. Ich meine das Schloß im Walde, wo Melitta wohnt? Melitta? Aber, guter Herr, das ist ja nur ein altes Märchen. Ein Märchen? Nun gewiß. Meine alte Großmutter hat es mir wer weiß wie oft erzählt. – Vor vielen, vielen hundert Jahren stand in dieser Gegend ein großer Wald; und in dem Walde hauste eine Fee, die hieß Melitta. Sie hatte so wunderschöne lichtbraune Augen, wie ein Menschenkind gar nicht haben kann, und eine honigsüße Stimme, und deswegen nannten die Leute sie Melitta. Sie war die beste und schönste Fee von der Welt und hatte nur eine kleine Schwäche, von Zeit zu Zeit jemand in ihren Wald zu locken, damit er sich unter den hohen Buchen und Eichen, von denen die eine immer aussah wie die andere, verirrte. Darüber hatte sie dann ihre Freude. Wenn sie aber so einen armen Schelm verlocken wollte, setzte sie sich auf ihr Pferd Bella (denn an dieser Fee war alles schön, selbst ihr Pferd), ritt ins Land hinein und suchte unter den Männern, bis sie den dümmsten fand. Die hatte sie am liebsten. Den bezauberte sie dann mit ihrer Schönheit, ihrem lieben, holden, neckischen Wesen und ihrer honigsüßen Stimme; und um den Zauber festzumachen, schenkte sie ihm etwas – eine Rose etwa. Nahm er die nun in seiner Dummheit, so mußte er am nächsten Tage in den Wald, er mochte wollen oder nicht. Da kommt er denn natürlich bald vom Wege ab und läuft die Kreuz und Quer herum, bis er sich endlich am Fuße einer uralten Buche schlafen legt. Und wenn er nun so daliegt und sieht, wie die roten Sonnenstrahlen in den grünen Zweigen Versteckens spielen und die blauen Libellen Haschens auf dem schwarzen Wasser, und hört, wie es in dem Röhricht flüstert und droben in den Wipfeln der Bäume rauscht, und weht und rauscht – – – Melitta, kommst du endlich? Steige herab von deiner Bella! Du siehst ja, daß ich hier festgewachsen bin. Oh, du Liebe, Holde, Angebetete! Melitta, Süße! Einen Kuß, einen einzigen Kuß! Und du willst fort, jetzt fort – aber was ist das? Was will die braune Hexe? Nein, nein – du bist nicht Melitta!

Oswald stützte sich auf den Ellbogen und starrte schlaftrunken in das braune Gesicht, das sich über ihn beugte: »Was willst du von mir?«

»Nichts Schlimmes, schmucker, junger Herr. Sah den jungen Herrn liegen, wußte nicht, ob schlafen oder tot; ist gefährlich, zu schlafen in dem Wald, am Sumpfesrand, wenn man's nicht gewohnt ist von Kindesbeinen.«

Oswald, der sich wieder vollkommen zurechtgefunden hatte, betrachtete jetzt das Weib, das vor ihm stand, genauer und erkannte denn alsbald in ihr eine jener Zigeunerinnen, wie sie hierzulande nicht selten, wahrsagend, hausierend, musizierend, bettelnd, gelegentlich auch stehlend, von Dorf zu Dorf und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Diese hier mochte nach dem Feuer ihrer dunklen Augen, den runden halbnackten Armen und der straffen Haltung des schlanken hohen Leibes zu schließen, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre zählen; aber Wind und Wetter, Hunger und Kummer, vielleicht auch schlimme Leidenschaften, hatten arge Verwüstungen in dem einstmals schönen Gesichte angerichtet, den Zügen eine unangenehme Schärfe gegeben, die Augenhöhlen übermäßig vertieft, ja schon hier und da einzelne graue Streifchen in das üppige, blauschwarze Haar gestreut, das mit seinen dicken Flechten ein besserer Schutz für den edel geformten Kopf war als der Lappen roten Zeuges, den sie turbanartig herumgewunden hatte. Ihre Kleidung war sehr ärmlich und vielfach geflickt, ihre Füße nackt. Oswald sah jetzt auch, daß an einem der nächsten Bäume ein wunderlich geformtes Instrument hing und allerlei Gerät umherlag. Ein mit einem roten Federbusch und einer bunten Decke geschmückter Esel strich langsam durch die Stämme und ließ sich das harte Waldgras vortrefflich schmecken.

»Sind Sie ganz allein, gute Frau«, fragte Oswald.

»Nein, mein Bub ist bei mir, der Cziko; er ist in den Wald gegangen, Wasser zu holen, dies taugt nur für Frösch und Kröten.«

»Und wie kommen Sie hierher an diesen abgelegenen Ort?«

»Kenne den Platz schon seit vielen Jahren. Mache stets hier Rast, wenn ich in diese Gegend komme. Schläft sich billiger im Walde als in der Dorfschenke, guter Herr.«

»Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach Berkow zeigen. Ist es noch weit von hier?«

»Gar nit weit, der Bub, der Cziko, soll sie führen.«

Das Weib legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuschendste nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller Falkenschrei, und nicht lange darauf kam ein Kind herbeigesprungen, das, wie es den Fremden erblickte, scheu und mißtrauisch unter den Bäumen stehenblieb. Einige Worte indessen, ihm von seiner Mutter in einer Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm Mut. Es trat, Oswald das Blechgefäß mit Wasser, das es in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran und sagte: »Willst du trinken, Herr?«

Das Gefäß war nicht besonders reinlich, aber der es anbot, viel zu schön, als daß Oswald es hätte zurückweisen können, selbst wenn er weniger durstig gewesen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn Jahre alt, aber auch er sah älter aus. Der feuchte Nebelwind, der über die herbstlichen Felder fegt, und der Schneesturm, der durch den Hagedorn saust, hatten alle Jugendfrische von des Kindes wunderbar schönem Gesicht gewischt und den tiefdunklen Gazellenaugen einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes gegeben, daß man nicht ohne Wehmut hineinschauen konnte.

Mit dem doppelt scharfen Blick der Bettlerin und der Mutter sah das Weib wohl, welch tiefen Eindruck ihr Kind auf den Fremden machte.

»Ja, er ist ein braver Bub, der Cziko«, sagte sie, »flink wie ein Eichhorn und tapfer wie eine wilde Katz, und das Cymbal schlägt er wie keiner.«

»Ist das ein Cymbal, was dort am Baum hängt?« fragte Oswald, einigermaßen erstaunt, daß dies Instrument noch anderswo als in Lenauschen Gedichten existiere.

»Geh, Cziko, zeig dem Herrn, was du kannst«, sagte die Frau.

Das Kind nahm das Instrument herab, legte es auf einer Baumstamm zurecht und die Klöpfel ergreifend, begann es, erst langsam, dann schneller und immer schneller hämmernd, eine wunderliche Musik. Sein Herz schien voll von Musik; seine magern, braunen Wangen röteten sich, die dunklen Augen, die es manchmal träumend zu den Wipfeln erhob, leuchteten. Dann fiel es in ein anderes Tempo und eine andere Melodie, und nach den ersten Takten begann die Frau, die währenddessen unter einem Kessel ein Reisigfeuer entfacht hatte, in tiefer, wohllautender Stimme, an dem Kessel schaffend und ab und zu gehend, eines jener slawischen Volkslieder, deren süß-melodische Klage uns Wehmut ins Herz und Tränen in die Augen lockt. Oswald saß da, den Kopf in die Hand gestützt und hörte und schaute zu wie im Traum. Es war, als ob die nie zuvor gehörten melancholischen Töne ganz neue Gefühle in ihm wachriefen, ein tiefes Mitleid mit seiner, mit aller Wesen Existenz und doch auch ein Sehnen und Schmachten nach einem unendlichen, namenlosen Glück.

Das Lied war zu Ende. Oswald fuhr empor. Er sah auf seine Uhr. Schon drei Stunden waren vergangen, seitdem er den Wald betreten; er durfte, wollte er noch heute Melitta sehen, keinen Augenblick zögern.

»Kann mich der Cziko den Weg nach Berkow führen?« sagte er, auf die Frau zutretend und ihr ein paar Geldstücke bietend. Die Zigeunerin strich das Geld aus der flachen Hand, als ob es ihr nur darauf ankomme, deren Linien genauer zu sehen, und sie an den Fingerspitzen festhaltend, schien sie eifrig darin zu lesen.

»Nun«, sagte Oswald lächelnd, »da steht wohl nicht viel Gutes?«

»Viel Gutes, viel Schlimmes«, sagte die Zigeunerin, den Kopf schüttelnd.

»Das ist meistens so im Leben«, sagte Oswald, »und worin bestände denn das Gute?«

»Viel Gutes, viel Schlimmes«, wiederholte die Zigeunerin. »Jede gute Linie von einer schlimmen durchkreuzt; kann das Gute nicht nennen ohne das Schlimme.«

»Nun, so nenne es, wie es kommt«, sagte Oswald, der anfing, ungeduldig zu werden.

»Viel zum Glück, und doch nicht glücklich«, murmelte die Zigeunerin. »Männern Feind und Frauen Freund; rasch im Hassen, rasch im Lieben; buntes Leben, früher Tod.«

»Nun«, sagte Oswald, »das läßt sich ja noch hören. Aber wie war das mit den Frauen? Das interessiert mich.«

»Viel Gutes, viel Schlimmes«, wiederholte das Weib, den Kopf noch tiefer beugend, als sollte ihr auch die feinste Linie nicht entgehen; »viel, sehr viel Liebe und doch wenig, ach so wenig Glück!«

»Liebe ich jetzt?«

»Ja.«

»Und wen««

»Eine sehr vornehme, sehr schöne und sehr reiche Dame.«

»Hm! Und liebt sie mich auch?«

»Mehr, viel mehr als du sie!«

»Und wo steckt denn das Schlimme?«

»Viel, viel Schlimmes; denn du kannst nicht treu sein.«

»Woher weißt du das?«

Die Wahrsagerin zuckte mit den Achseln. »Hier steht noch eine Dame und hier noch eine – du liebst sie alle; das sollte nicht sein; bringt dir kein Glück.«

»Aber mit dem bunten Leben und dem frühen Tode hat es doch seine Richtigkeit? Nun denn, so kann ja auch das Unglück so groß nicht sein. Und hier hast du noch etwas zum Lohn für die gute Kunde.«

»Danke, nehme nur für das Glück, das ich verkünde, nicht für das Unglück.«

»Da wundert es mich freilich nicht, daß Sie so arm sind, gute Frau! So nehmen Sie's als Botenlohn für den Cziko.«

Die Zigeunerin nahm mit wirklichem oder nur geheucheltem Widerstreben das Geld und rief dem Kinde, das während dieser Zeit fortwährend, in sich versunken, auf seinem Instrument leise phantasiert hatte, in ihrer Sprache ein paar Worte zu. Das Kind sprang auf, trat vor Oswald und sagte: »Willst du kommen, Herr?«

»Adieu, liebe Frau!« sagte Oswald, nicht ohne Teilnahme dem Zigeunerweib in die dunklen, glänzenden Augen schauend. »Wenn Sie nach Grenwitz kommen, vergessen Sie nicht, nach dem Doktor Stein zu fragen.«

Die Frau kreuzte die Arme über dem vollen Busen und neigte sich tief. Oswald ergriff seinen Hut und folgte dem Kinde, das schon hinter den Bäumen fast verschwunden war.


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