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Zehntes Kapitel

Die Unterhaltung an der Mittagstafel, die in einem kühlen, schattigen Zimmer, das auf einen etwas kahlen und sehr sonnigen Garten sah, angerichtet war, wurde bald sehr lebhaft. Oswalds längerer Aufenthalt in Grünwald erwies sich als unerschöpfliches Thema. Die Pastorin war selbst eine Grünwalderin, eine der vielen Töchter des dort vor mehreren Jahren verstorbenen Superintendenten Gabriel Dunkelmann, der gerade noch lange genug lebte, seinem Schwiegersohn die einträgliche Pfarre von Faschwitz zu verschaffen und dann das Zeitliche segnete. Oswald machte im stillen die Bemerkung, daß die Frau Doktor – denn der Pastor hatte sich die akademische Würde durch eine grundgelehrte Dissertation über die möglicherweise vorhanden gewesenen Schriften eines bis auf den Namen verschollenen Kirchenvaters erworben – schon damals durch Jugendreiz sich nicht ausgezeichnet haben könne und wunderte sich auch nun nicht länger darüber, daß der Tisch so klein und das Haus so still war. Die Frau Doktor kannte den Professor Berger, sie kannte mehrere Familien, in denen Oswald eingeführt war. Das gab denn überreichen Stoff zu dem landesüblichen Familienklatsch, bei dem einige Damen, die ihrer Zeit der verblühten Superintendententochter zu nahe getreten sein mochten, erfahren konnten, welche zweischneidige Waffe die Zunge einer Landpastorin unter Umständen ist.

Unterdessen war der Nachtisch aufgetragen, und der Pastor hatte, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, eine zweite Flasche entkorkt, die Pastorin aber den Tisch verlassen, um anzuordnen, daß der Kaffee heute in der Gartenlaube serviert werde. Der Pastor hatte sich eine Zigarre angezündet, einen Knopf an seiner schwarzen Weste aufgemacht, augenscheinlich nur in der Absicht, sich in der Illusion, ein sybaritisches Mahl eingenommen zu haben, zu bestärken – denn die Weste saß schon schlotterig genug auf seinem hageren Leibe. Er forderte Oswald auf, mit ihm auf das Wohl der hochmögenden Familie, in der er sich zu befinden das Glück habe, anzustoßen, eine Höflichkeit, die Oswald mit einem Toast auf die liebenswürdige, ebenso gelehrte, wie bescheidene Wirtin erwiderte.

»Danke, danke, lieber junger Freund«, sagte der geschmeichelte Pastor, Oswalds Hand zu wiederholten Malen drückend. »Ja, Sie haben recht, eine gelehrte, bescheidene Frau! Haben Sie ihr angemerkt, daß sie mit mehr als einer literarischen Größe im lebhaftesten Briefwechsel steht, ja, unter dem Pseudonym Primula eine der eifrigsten Mitarbeiterinnen der Novellenzeitung ist?«

»Unmöglich!« rief Oswald.

»Ich versichere Sie, lieber Freund; und Sie können nicht glauben, welche Freude es mir gewährt, wenn ich wieder und immer wieder im Briefkasten lese: Faschwitz und P. V., Primula Veris, Gustavas Chiffre: ›Tausend Dank für Ihre liebenswürdige Sendung‹, oder: ›Sie haben uns durch ihr reizendes Gedicht hoch erfreut, es wird schon in der nächsten Nummer zum Abdruck kommen‹ usw.«

»Ich kann es mir denken«, sagte Oswald zerstreut. »Aber wollen wir nicht der liebenswürdigen Dichterin in den Garten folgen?«

»Festina lente!« rief der Pfarrer, dem der Wein schon zu Kopfe stieg. »Wir kommen so jung nicht wieder zusammen. Ein gutes Glas Wein ist ein gutes, geselliges Ding, und Gustava ist zu liberal gesinnt, uns die Freuden des Mahles zu verkürzen. Aller guten Dinge sind drei, lassen Sie uns noch eine Flasche –«

»Aber Jäger, der Kaffee wird ja kalt!« tönte die scharfe Stimme der Primula Veris aus dem Garten durch das offene Fenster.

»Wir kommen, wir kommen, Gustchen!« rief der gehorsame Gatte. »Gesegnete Mahlzeit, mein lieber, junger Freund!« (bei diesen Worten umarmte er Oswald); »mein teurer Freund!« (abermalige Umarmung) »Aber wir vergessen, daß der Kaffee auf uns wartet«, rief Oswald, mit Mühe einer dritten Umarmung entgehend, und den Weg nach dem Garten einschlagend, während der Pastor, ehe er seinem Gaste folgte, noch schnell den letzten Rest aus der Flasche in sein Glas schenkte und es eiligst (diesmal wahrscheinlich auf sein eigenes Wohl) austrank.

Der Garten gewährte um diese Tageszeit gerade nicht den angenehmsten Aufenthalt, denn die Anlagen waren noch sehr jung; die Bäumchen meist erst in Manneshöhe, und infolgedessen das Ganze eine schattenlose, prosaische, nüchterne Stätte, die auffallend an die Theologie des gelehrten Herrn erinnerte, auch insofern, als hier wie dort das Nützlichkeitsprinzip das oberste zu sein schien. Die Gemüsebeete waren sorgsam gepflegt, Blumen aber sah man wenig, nur einige Sonnenblumen mahnten durch ihre Farbe flüchtig an die Erscheinung der Primula Veris und durch ihre Eigenschaft, sich der Sonne zuzuwenden, aufs welchem Teile des Himmels sie auch strahlen mochte, an die Lebensphilosophie ihres ausgezeichneten Gatten.

In der Laube, die glücklicherweise, von Jasmin dicht bedeckt, gegen die Sonne, die jetzt heiß genug brannte, einen erträglichen Schutz gewährte, fanden sie die Frau Pastorin. Sie hatte neben sich auf der Bank ein Arbeitskörbchen stehen, in dem zwischen bunten Läppchen, Docken Seide und andern Dingen ein zierliches Büchelchen lag, dessen Vorhandensein Oswald einigermaßen beunruhigte. Weh dir, dachte er, wenn dieses Buch eine Sammlung von Primulas in der Novellenzeitung und sonst erschienenen Gedichten ist!

Er suchte den Pastor bei den Gemüsebeeten festzuhalten; er mußte sich mit eigenen Augen überzeugen, wie die vom Pastor selbst erfundene Verbesserung an den Bienenkörben denn eigentlich beschaffen sei; er sprach endlich von der Notwendigkeit, sich baldigst verabschieden zu müssen – kurz, er tat, was ein Mann in seiner kritischen Lage tun kann – vergebens!

»Wir sollen Sie fortlassen, bei der Hitze!« rief Primula und ließ ihre Hand (von Oswald nicht unbemerkt) auf das Arbeitskörbchen gleiten. »Wir sitzen hier zwar nicht im Schatten der gewaltigen Fichte und der weißen Pappel, aber doch im Schatten; und den wollten Sie vertauschen mit der Glut und dem Staub der Landstraße? Unmöglich! Noch eine Tasse, werter Gast! Es ist kein Falerner, wie ihn der glückliche Römer in der eben zitierten Ode trinkt, aber doch ein Getränk, das einigen Anspruch auf Klassizität machen darf, seitdem unser lieber Voß in seiner Luise es so verherrlicht hat. Sagen Sie, lieber Gastfreund, hat Ihnen nicht der Aufenthalt unter unserem niedrigen Dache manche Reminiszenzen an die liebliche Idylle erweckt? Haben Sie nicht empfunden, daß in diesen, von dem Treiben der Menschen weit entfernten Stätten die sanfte Stimme der Poesie, die auf dem lauten Markte des Lebens ungehört verhallt, deutlich zu uns spricht?«

»Jetzt geschieht das Entsetzliche«, dachte Oswald.

»Ich bewundere«, sagte er, »wie Sie so sinnig Altes und Neues, Wirklichkeit und Poesie zu einem duftigen Kranze zu flechten verstehen. Mir selbst ist leider in jüngster Zeit die Prosa des Alltagslebens nah und näher getreten; ja, aufrichtig gestanden, ich habe mich, was ich früher für unmöglich hielt, mehr und mehr mit ihr ausgesöhnt, obgleich ich sehr wohl weiß, daß ich dabei die Empfänglichkeit für die Reize der Dichtkunst vollständig eingebüßt habe.«

»Oh, glauben Sie doch das nicht!« rief Primula. »Der Quell der Poesie in uns kann wohl zuzeiten weniger voll strömen, aber gänzlich versiegt er nie. Sie klagen sich der Unempfindlichkeit für die Reize der Dichtkunst an. Das sollte mich eigentlich von meinem Vorhaben« (hier legte sie die Hand offen an das Büchelchen in schwarzem Einband mit Goldschnitt) »abbringen, Ihnen eine kleine Probe der Gedichte mitzuteilen, die ich, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, unter dem Pseudonym Primula in der Novellenzeitung veröffentlicht habe. Aber mein Glaube an die Macht der Poesie, vor allem der latenten Poesie in Ihrem Herzen, ist zu groß, als daß mich Ihre Selbstverleumdung vom Gegenteil überzeugen könnte. Darf ich einen Versuch wagen, die Richtigkeit meiner Ansicht auf die Probe zu stellen?«

»Wodurch habe ich so viel Güte verdient?« murmelte Oswald, sich voll Resignation in die Ecke seiner Bank zurücklehnend und die Augen bis zu dem Winkel schließend, der glücklicherweise den Augen halb schlummernder und verzückter Zuhörer gemeinsam ist.

»Ich habe mein Büchelchen Kornblumen betitelt«, sagte Primula, hold verschämt in dem Buche blätternd, »weil die meisten dieser Poesien auf den Spaziergängen durch die Kornfelder, auf alle Fälle in einer ländlichen Umgebung erblüht sind.«

»Wie sinnig«, flüsterte Oswald.

»Nach den Regeln der besten Ästhetiker und nach dem Beispiele der Griechen, welche die Tragödie der Komödie voranschickten, oder richtiger die Komödie auf die Tragödie folgen ließen, werde ich mir erlauben, Ihnen erst ein ernstes, dann ein launiges, dann wieder –«

»Gewiß, gewiß, das wird den Reiz der einzelnen Gedichte erhöhen«, sagte Oswald, den vor dieser endlosen Perspektive schauderte.

»Willst du nicht, liebe Gustava –« sagte der Pastor.

»Laß mich meine eigene Wahl treffen, Jäger«, sagte die Dichterin in einem sanften, aber entschiedenen Tone, und dann sich räuspernd:

» Auf einen toten Maulwurf –«

»Auf was?« rief Oswald, erschrocken in die Höhe fahrend.

»Nun, sehen Sie, werter Freund«, sagte Primula, »wie schon die Überschrift allein Sie elektrisiert!«

»Freilich, freilich!« murmelte Oswald, in seine Ecke zurücksinkend.

» Auf einen toten Maulwurf«, wiederholte die Dichterin, » den ich am Wege fand:

Wie liegst du jetzt so ruhig da
Mit deinem glatten Fell!
Dein Schicksal, ach, es geht mir nah,
Du schwärzlicher Gesell!

Sie schmähten dich, sie höhnten dich,
Sie sagten: du bist blind!
Das waren solche sicherlich,
Die selber Blinde sind.

Am Tage zeigtest du dich nicht
Gleich eitler Toren Schar,
Doch war's in deiner Zelle licht,
In deinem Busen klar.

Und zu der Sterne hohem Lauf
Am nächt'gen Himmelsdom
Sahst du von deinem Hügel auf,
Du kleiner Astronom!

Wie lebtest still und harmlos du,
Ein dunkler Ehrenmann!
Bei Tag nicht Rast, bei Nacht nicht Ruh.
Wer sieht dir das nun an?

Nun liegst du, ach, so ruhig da
Mit deinem glatten Fell.
Dein Schicksal, oh! es geht mir nah,
Du schwärzlicher Gesell!«

»Das ist schön«, sagte Oswald. »Das ist die echte Lyrik, wie wir sie heute leider nur zu selten finden. Nicht die Treibhauslyrik jener Dichter, die mit Anklängen zu Heine beginnen, in der Mitte einige Lenausche Akkorde anschlagen und mit einer Freiligrathschen Fanfare schließen. Welch ein wahres, inniges Gefühl erwärmt diese Verse! Und dabei diese kernige Kraft der Sprache: Ein dunkler Ehrenmann! Das ist einfach, aber schön; das haben Sie Ihrem Goethe abgelauscht!«

»Sie sind wahrlich zu gütig, lieber Gastfreund«, sagte Primula hocherfreut. »In der Tat, Sie beschämen mich durch Ihr freigebiges Lob. Aber, seien Sie ehrlich, finden Sie nicht, daß, wenigstens für den modernen Geschmack, das Ganze doch ein wenig zu ideal gehalten ist?«

»Vielleicht für unsere Realisten, die allerdings in ihren Anforderungen etwas weit gehen und in ihrem Bestreben, alles recht natürlich zu machen, im Faust nächstens den Pudel auf die Bühne bringen und durch Kneifen in den Schwanz zum Bellen und Heulen veranlassen werden. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn Sie nur wollen, Sie auch diesen Herren gerecht werden können.«

»Was halten Sie von diesem Gedichte?« fragte die Dichterin. » An meinen Haushahn.« Oswald lehnte sich wieder in seine Ecke.

»Gleich Richard von der Normandie
Fürcht't sich mein Held im Leben nie,
Wem bangte nicht, sobald er schrie:
Kikriki!«

»Das ist naiv!« sagte Oswald.

»Nicht wahr?« sagte Primula.

     »Am späten Abend schwärmt er nie,
Doch munter ist er morgens früh,
Drum haßt ihn auch das faule Vieh.
Kikriki!

Fürs Liebchen scheut er keine Müh',
Bald kratzt er dort, bald kratzt er hie,
Und fand er was, so ruft er sie:
Kikriki!

Und ist mein Held auch kein Genie
Und sein Gesang nicht Poesie,
So stimmt mich doch, ich weiß nicht wie
Sein Kikriki!

»Nun, was sagen Sie, lieber Freund?«

»Was soll ich sagen«, erwiderte Oswald, »als daß Sie Ihre Absicht vollkommen erreicht haben. Der Hörer glaubt sich auf den Hühnerhof versetzt. Die Töne, die Sie hier anschlagen, sind wahre Naturtöne, aus dem Herzen der Dinge heraus. Das Gedicht ist ein kleines Meisterstück im modernen realistischen Geschmack. Aber jetzt, verehrte Frau, eine Bitte: Wie sehr es den Wert der Gedichte auch erhöht, sie aus dem wohllautenden Munde der Dichterin zu hören – ich möchte mir den Eindruck dieses letzten Gedichtes nicht gern verwischen lassen. Was auch kommen mag, dies war die Grenze des Erreichbaren.«

»Nur dieses eine müssen Sie mir noch erlauben. Es bildet mit den beiden andern gleichsam eine Trilogie, ein Summarium dessen, was ich den Tieren abgelauscht. Darf ich beginnen?«

»Bitte!«

» An einen Maikäfer, der auf dem Rücken lag
O du Bacchant der lust'gen Maiennacht!
Hast du geschwelget in den Blütendüften,
Hast du gebadet in den weichen Lüften
Vom Abend, bis der neue Tag erwacht?
Und hast des Lebens Kürze nicht bedacht?
Nicht: wie so bald in dunklen Grabesgrüften
Ruhn zarte Knöchel, ach! und üpp'ge Hüften,
Und Lippen, die nur eben keck gelacht?
Jetzt liegst du matt auf deinem Flügelschild.
Ich lese stumm in deinen ernsten Zügen,
Und dunkle Runen seh' ich dort geschrieben.
Ach! nur ein Taumel war dein bestes Lieben!
Drum, die du liebtest, mußten dich betrügen,
Des Maies Käfer, falscher Liebe Bild.«

Die schöne Vorleserin war zu Ende. Da tönte in das entzückte Schweigen, in das Oswald versunken schien und Primula jedenfalls versunken war, das Rollen eines Wagens, der denn auch alsbald vor dem Hause stillhielt.

»Frau Pastorin, Frau Pastorin!« schrie das Dienstmädchen mit ängstlichen Tönen in den Garten hinein.

Oswald atmete auf. Hier kam Besuch, und mit dem Vorlesen war es auf alle Fälle vorbei. Vielleicht konnte er auch seinem Besuch bei dieser Gelegenheit ein Ende machen.

»Es sind Plüggens, liebe Gustava«, sagte der Pastor, der durch die Gartenhecke den Wagen beobachtet hatte. »Die gnädige Frau und zwei Fräulein Töchter. Willst du nicht eilen –«

»Entschuldigen Sie mich, werter Gastfreund«, sagte die Dichterin, eiligst das Buch schließend, »aber Sie wissen, sooft wir versuchen, einen kühneren Flug zu nehmen –«

»Frau Pastorin, Frau Pastorin!« schrie es immer ängstlicher von der Gartentür her.

»Ich komme!« rief die verstörte Primula und eilte den sonnenbeschienenen Gartenweg entlang dem Hause zu.

»Wollen wir nicht ebenfalls –« sagte der Pastor.

»Entschuldigen Sie mich, wenn ich bitte, mich jetzt entfernen zu dürfen«, unterbrach ihn Oswald.

»Aber weshalb, lieber Freund? Frau von Plüggen ist eine höchst vortreffliche Dame und die Töchter, wenn auch nicht schön –«

»Und wären sie schön wie die Engelein, ich müßte auf das Vergnügen verzichten, sie jetzt zu sehen. Adieu, adieu! Entschuldigen Sie mich bei Ihrer Gemahlin! Nicht wahr, die Pforte ist doch nicht verschlossen?«

Und damit eilte Oswald von dem Pfarrer, der viel zu gut von sich und seiner Primula dachte, als daß er den eiligen Rückzug des Gastfreundes nicht einzig aus dessen Scheu, mit der unbekannten hochadeligen Familie zusammenzutreffen, hätte erklären sollen, fort aus dem Garten durch die Pforte auf die Dorfstraße, von der Dorfstraße hinaus auf die Felder; und gönnte sich nicht eher Rast, als bis die Bäume des Waldes, hinter dem, wie er wußte, das Gut Melittas lag, über seinem Haupte sich wölbten.


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