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Einundzwanzigstes Kapitel

In dem niedrigen Zimmer begann es zu dunkeln; die Nadeln der Alten klapperten immer hastiger, die Schwarzwälder Uhr in der Ecke pickte lauter und lauter in der tiefen Stille, und Oswald saß noch immer am offenen Fenster, den Kopf in die Hand gestützt, wie im Traum.

Das Geräusch eines Wagens, der die Dorfgasse hergefahren kam, erweckte ihn. Ein mit zwei Pferden bespannter leichter Holsteinerwagen hielt vor der Hütte still, ein Mann stieg rasch hinab und trat alsbald in die Stube.

»Guten Abend«, sagte eine klare, etwas scharfe Stimme. »Herr Doktor Stein? – Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. – Mein Name ist Braun. Bruno hat mir schon erzählt, daß ich hier einen barmherzigen Samariter finden würde – wo ist denn unser Patient – ach, dort im Bett –, wie wär's, liebe Alte, wenn Sie uns etwas Licht verschafften, unterdessen ist Herr Doktor Stein so gut und erzählt mir, was er von dem Falle weiß, nicht wahr?«

Oswald gab, so gut er es vermochte, eine Schilderung dessen, was er gesehen hatte.

»Ich dachte es mir schon«, sagte Doktor Braun, »es ist ein Anfall von Epilepsie. Hat Ihr Sohn sonst schon an diesen Zufällen gelitten«, fragte er die Alte, die jetzt, ein dünnes Talglicht mit der Hand schützend, so daß nur ein schwacher Schimmer auf ihr runzliges Gesicht fiel, wieder in das Stübchen trat.

»Es ist nicht mein Sohn, auch war seine Frau nicht meine Tochter«, sagte Mutter Clausen, das Licht auf einen Schemel vor das Bett setzend, »aber seine Kinder sind meine lieben Enkelchen.«

Der Doktor warf einen forschenden Blick in das Antlitz der alten Frau – und dann schweifte sein Auge fragend zu Oswald hinüber –, aber er hielt die Bemerkung, die er auf den Lippen hatte, zurück, nahm das Licht und leuchtete in das Gesicht des Kranken.

Oswald nahm es ihm aus der Hand. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen leuchte.«

»Danke«, sagte der Doktor, den Kranken untersuchend.

Währenddessen betrachtete Oswald sich den Ankömmling genauer. Es war ein Mann zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, schlank und etwas dürr, in einem einfachen, bequemen, aber eleganten Sommeranzug gekleidet. Der Kopf war außerordentlich wohlgeformt und mit sehr dunklem Haar bedeckt, das zu dicht zu sein schien, um sich locken zu können und jetzt in einer eigentümlichen, nicht unschönen Weise wie ein niedriges Barett um die feste, über die Augen etwas vorspringende Stirn stand. Die Nase war in keine bestimmte Kategorie zu bringen, aber fein und ausdrucksvoll, ebenso wie der Mund, dessen Lippen scharf und zart zugleich geformt waren, als ob sie sich zu einem hübschen, geistreichen Wort vollends öffnen würden. Kinn und Wangen umzog ein dichter, glänzender Bart, der mit dem Haupthaar harmonierte und den männlich-schönen Ausdruck des Gesichts vollendete. Auch bemerkte Oswald, während der Doktor die Augenlider des Kranken hob, daß seine Hände von einer fast frauenhaften Zartheit und Schönheit waren.

»Es ist, wie ich dachte«, sagte Doktor Braun, sich emporrichtend, »ein epileptischer Anfall. Ich kann nichts verschreiben, da die Natur sich hier selbst hilft. Für den Augenblick ist nur Ruhe nötig. Morgen wird der Mann noch etwas schwach, sonst aber wieder ganz gesund sein.«

»So sind dergleichen Zufälle nicht gefährlich?« fragte Oswald.

»Sie können letal werden«, antwortete der Doktor, »zumal wenn, wie ich stark vermute, der Kranke ein Potator ist. An eine radikale Heilung ist nicht zu denken, wenigstens nicht unter diesen Verhältnissen, da die Kur eine sehr langwierige ist.«

»Ich hatte mich schon darauf gefaßt gemacht, einen Teil der Nacht hierbleiben zu müssen«, sagte Oswald, »das ist denn also wohl nicht nötig?«

»Gott bewahre! Ruhe, wie gesagt, ist die einzige Erfordernis. Der Mann ist Witwer?« sagte er, sich in der Stube umsehend.

»Die Anne ist tot«, sagte Mutter Clausen. »Aber ich will schon wachen über den Jochen. Alte Leute wie ich brauchen nicht viel Schlaf; wir werden bald Zeit vollauf dazu haben. Gehen Sie nur ruhig nach Hause, Junker. Du bist brav, das hab ich ja immer gesagt. Adjies, Herr Doktor, schönen Dank für den Jochen, da er sich nicht selber bedanken kann und sich vielleicht auch nicht einmal bedankte, selbst wenn er könnte. Adjies Junker.« Damit leuchtete sie den beiden zur Tür und zum Hause hinaus.

»Wollen Sie mich nicht noch eine Strecke begleiten?« sagte der Doktor, als sie vor der Türe standen. »Ich fahre von hier über Berkow, wo ich noch im Dorfe einen Besuch machen muß, nach Hause, und Sie können ja absteigen, wo Sie wollen. Der Abend ist wahrhaft ambrosisch, und in Grenwitz kommen Sie zum Abendbrot doch schon zu spät, wie ich Ihnen aus bester Quelle berichten kann, da ich selber dort zu Abend gegessen habe.«

»Sie dort zu Abend gegessen?« sagte Oswald, sich zu dem Doktor in den Wagen setzend. »Hat Sie denn Bruno nicht von Bergen geholt?«

»Der arme Junge hat den Weg vergeblich gemacht; denn während er ventre à terre dorthin jagte, saß ich schon ruhig in Grenwitz.«

»Und was führte Sie denn nach Grenwitz, wenn man fragen darf ?«

Der Doktor lachte. »O tempora, o mores – da sieht man es! Der Mentor beschützt und hütet anderer Leute Kinder, und weiß nicht, daß sein lieber Telemach todkrank zu Hause liegt.«

»Sie belieben zu scherzen.«

»Allerdings scherze ich; Malte ist so gesund wie ein Junge, der morgen die Schule schwänzen will, nur sein kann. Aber da der Baron und die Baronin in der Erschöpfung, die bei einem solchen Zuckerpüppchen nach einer längeren Promenade sehr natürlich ist, die Anzeichen eines heranziehenden Typhus zu erkennen glaubten, und keine Stimme im hohen Rate sich dagegen erhob, so mußte denn natürlich schleunigst zu dem Unglücklichen geschickt werden, der das wenig beneidenswerte Vorrecht hat, allen Unsinn, der den Leuten durch den Kopf geht, ausbaden zu müssen – ich meine, zum Arzt. Und während ich nach dem Abendbrot – welches, wie Sie wissen, oder wie die Baronin sagt, wenigstens wissen müßten – in Grenwitz stets pünktlich um acht Uhr serviert wird, eben in den Wagen steigen wollte, kommt der Prachtjunge, der Bruno, wie der Georg in Götz von Berlichingen in voller Karriere auf den Schloßhof gesprengt, – Sie hätten das Entsetzen des Barons und der Baronin sehen sollen! – Die guten Leute hätten nicht mehr erschrecken können, wenn der Raugraf aus der Bürgerschen Ballade mit Holla und Hussassa über den Hof geritten wäre – und verkündete in atemloser Hast, der Jochen läge auf den Tod und Doktor Stein wäre bei ihm, und er bäte doch so schnell wie möglich zu kommen. – Aber apropos, wie ist das? Die Alte nannte Sie Junker, ich vermute daraus, daß ich in Zukunft Herr von Stein werde sagen müssen.«

,.Weshalb nicht gar Freiherr!« lachte Oswald, dem die Weise seines neuen Bekannten sehr gefiel. »Nein, ich bin ebensowenig adelig, wie Mutter Clausen eine Königin ist, ich habe keine Ahnung, weshalb die gute Alte, die ich übrigens gestern zum ersten Male gesehen habe, durchaus einen Junker aus mir machen will.«

»Das ist eine sonderbare alte Frau,« sagte der Doktor. »Sehen Sie, wie schön der Mond sich dort über den Waldrand erhebt, und wie duftig der Nebel über den Wiesen liegt! – Eine sonderbare Frau. Ich erinnere mich jetzt, daß sie mir auch sonst schon aufgefallen ist, sie sieht aus wie – nun, wie nur gleich?«

»Wie eine alte, alte Frau aus irgendeinem Grimmschen Märchen, die sich gelegentlich in die allerschönste Prinzeß von der Welt verwandelt.«

»Ja, ganz recht, sie hat ein wunderbares Feuer in ihren eingesunkenen Augen. Es ist einem, als ob das alte Gesicht nur eine Maske für eine noch immer jugendliche Psyche sei.«

»So ist es auch«, sagte Oswald, und er erzählte dem Doktor die sonderbare Unterhaltung, die er mit Mutter Clausen gestern morgen auf der Heide gehabt, und wie ihm die Rede der alten Frau so natürlich und wahr erschienen sei wie der Gesang der Heidelerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach die Predigt des eitlen Pastors auf ihn gemacht habe.

»Ja, ja«, sagte der Doktor. »Goethes Wort bleibt ewig wahr: Es ärgert die Menschen, daß die Wahrheit so einfach ist. Um den Leuten weiszumachen, sie sei ein wunder wie großes Wunder, behängen sie sie mit allerlei bunten Fetzen und Lappen und führen sie dann in Prozession umher. Solche Menschen aber wie unsere Alte da, die lesen nur ein Kapitel in dem großen Buche des Alls, aber sie lesen wieder und immer wieder, sechzig, siebzig Jahre lang, bis sie es auswendig wissen. Und da das Ganze ja doch aus einem Geiste geschrieben ist, so kommen sie schließlich weiter wie die große Herde der Halb-, Viertel- und Achtelgebildeten, die in unruhiger Hast das Buch von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern, überall etwas herausklauben und am Ende denn doch so klug oder so dumm bleiben, wie sie im Anfang waren.«

»Jawohl«, sagte Oswald, »ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung ist zum Beispiel die Baronin von Grenwitz. Was hat diese Frau nicht alles gelesen: deutsch, französisch, englisch, schwedisch; Heiliges und Profanes, die besten und die dümmsten Bücher. Einmal treffe ich sie über Rousseaus Confessions, das andere Mal über einem Romane von Van der Velde; heute liest sie Schleiermachers Reden über Religion und morgen die letzte Schauergeschichte von Dumas oder Eugène Sue – sie urteilt in einzelnen Dingen vollkommen richtig; aber sowie die Rede auf die summa arcana, die höchsten Geheimnisse des menschlichen Denkens kommt, oder sowie sie auch nur die Menge einzelner richtiger Beobachtungen in einem allgemeinen Satze formulieren soll, beginnt sie zu faseln und bringt so alberne, abgedroschene, aristokratische Gemeinplätze zutage, daß einem Hören sind Sehen vergeht.«

»Diese Disposition der gnädigen Frau kann, deucht mir, gerade nicht zur Erhöhung der Annehmlichkeit Ihrer Stellung in Grenwitz beitragen«, bemerkte der Doktor.

»Allerdings«, sagte Oswald leichthin, »ich suche indessen diesen Zusatz von Wermut dadurch abzuschwächen, daß ich den philosophischen Expektorationen der Dame so viel als möglich ausweiche, und mich überhaupt in meinem Verhältnisse zu der übrigen Familie auf das Notwendige beschränke.«

»Sollten Sie die Grenzen, die Sie sich dabei im Interesse Ihrer Zeit und Ihrer guten Laune ziehen zu müssen glaubten, nicht etwas zu eng gesteckt haben?« sagte der Doktor, die Asche seiner Zigarre an der Lehne des Wagens abklopfend.

»Wie das?« fragte Oswald nicht ohne einige Verwunderung.

»Sie verzeihen meine Indiskretion«, sagte der andere, sich noch etwas mehr zu Oswald herüberwendend und ihn mit seinen hellen, klugen Augen voll ansehend. »Sie wissen, daß wir Ärzte, wir mögen wollen oder nicht, zu der leidigen Rolle des Vertrauten in allen Familien, wo wir ein und aus gehen, verdammt werden. Auf einem oder dem andern Punkte hängt schließlich alles mit der physischen Natur, die wir zu kontrollieren haben, zusammen, und so kommt denn nach und nach auch alles vor unser Forum, selbst solche Dinge, die vor jedes andere eher zu gehören scheinen als vor das ärztliche. Und wenn die Sache schließlich in gar keinem Zusammenhange mit der Diätetik des Leibes und der Seele steht, so denken die Leute: Hast du ihm soviel gesagt, kannst du ihm das auch noch sagen. So konnte denn auch heute die Baronin eine Bemerkung nicht unterdrücken. Ich bin hier nicht darauf aus, Ihnen etwas Schmeichelhaftes oder Unangenehmes zu sagen, sondern einen Wink zu geben, den Sie beachtet oder unbeachtet lassen mögen, wie es Ihnen gut erscheint. – Sie bedauert also, daß Sie, der Sie die Gabe angenehmer Unterhaltung – ich brauche hier die Worte der Baronin – in einem so hohen Grade besäßen, und sich in den Formen des Umgangs mit solcher Leichtigkeit bewegten, es verschmähten, von diesen Gaben den rechten Gebrauch zu machen. Es sei das um so mehr zu bedauern, als durch diese Zurückhaltung – ich spreche immer noch in den Worten der Baronin – Malte, der nun einmal ein häuslicher Knabe sei und sich im Schoße der Familie am wohlsten fühle, um einen Teil der Vorteile käme, die er aus Ihrer Gesellschaft und aus dem intimen Verhältnisse mit Ihnen ziehen könnte und ziehen würde.«

»Es ist doch merkwürdig«, sagte Oswald nach einer kleinen Pause, »welch sonderbare Käuze wir Adamskinder sind. Das, was Sie mir da sagen, hab ich mir schon mehr als einmal gesagt; habe mir gesagt, daß, nachdem ich mich einmal dazu verstanden habe, dem Wohle einer Familie meine Zeit und meine Kraft zu verkaufen, ich mich auch wohl zu anderen Konzessionen würde verstehen müssen – und jetzt, da ich dasselbe von Ihnen höre, berührt es mich doch unangenehm... Aber seien Sie versichert, daß ich wahrlich nicht Ihnen, daß ich einzig und allein mir zürne, und zwar deshalb zürne, weil mich ein in so freundlicher Absicht erteilter Wink auch nur einen Augenblick stutzig machen konnte.«

»Ich war gewiß«, sagte der Doktor, »daß ich es mit einem Manne zu tun hatte, der die Spreu vom Weizen zu sondern weiß; wäre ich das nicht gewesen, seien Sie überzeugt, ich hätte geschwiegen.«

Wiederum trat eine Pause in dem Gespräch der jungen Männer ein; der Doktor bereute im stillen, daß ihm seine Gutmütigkeit, wie schon so oft, das undankbare Geschäft des ungebetenen Ratgebers aufgenötigt hatte; Oswald verfolgte den in ihm angeregten Gedanken und schien ganz vergessen zu haben, daß die hohen Stämme der Tannen sehr schnell an ihm vorüberglitten und die raschen Pferde des Doktors den Weg zwischen Grenwitz und Berkow fast schon zurückgelegt hatten. Er fuhr erschrocken in die Höhe, als er rechts vom Wege durch die Zweige ein Licht schimmern sah. Er wußte, es kam aus dem Fenster der Försterwohnung von Berkow. Auf der entgegengesetzten Seite führte ein schmaler Pfad zu der Lichtung im Walde, auf der Melittas Eremitage stand. An derselben Stelle des Weges, an der sie eben jetzt anlangten, hatte ihn gestern der Wagen des Barons erwartet.

»Bitte, lassen Sie hier halten«, sagte er hastig zum Doktor. »Ich sehe zu meinem Schrecken, daß wir beinahe bis Berkow gekommen sind. Es ist die höchste Zeit, daß ich zurückkehre.«

Der Wagen hielt; Oswald stieg aus.

»Ich hoffe«, sagte er, dem Doktor die Hand reichend, »daß dies nicht die einzige und nicht die längste Strecke gewesen ist, die wir auf unserem Lebenswege zusammen fahren oder gehen werden.«

»Ich hoffe und wünsche dasselbe«, antwortete der andere, »es scheint mir, als ob wir in unserm Denken und Fühlen manches Gemeinsame haben, und einer wahlverwandten Natur zu begegnen ist ein viel zu kostbares Glück, als daß man es leicht verscherzen dürfte. Jedenfalls komme ich bald wieder in diese Gegend. Leben Sie wohl indessen.«

Der Wagen rollte davon, bald verhallte der Hufschlag in der Ferne; das Licht in der Försterwohnung erlosch – Oswald war allein mit der Nacht und dem Schweigen.

Und alsbald trat das Bild Melittas vor seine Seele und glitt vor ihm her den schmalen Waldpfad entlang, auf dem er jetzt heimlich und leise wie ein Wilddieb hinschritt. Da trat er hinaus auf die Lichtung und blieb erschrocken, wie wenn ein Blitz an seiner Seite eingeschlagen hätte, stehen: aus dem Fenster der Eremitage schimmerte Licht, Melitta, die er auf dem Schlosse glaubte, war hier, hier – fünfzig Schritte von ihm entfernt – er brauchte nur über den Wiesenteppich zu gehen und die paar Stufen der Treppe zu ersteigen – die Tür zu öffnen – Oswald lehnte an dem Stamm der Buche, sein wild schlagendes Herz ein wenig zu beruhigen. Und wenn ihn hier jemand sähe, wenn er Melittas Ruf leichtsinnig aufs Spiel setzte! Atemlos horchte er in die dunkle Nacht hinein. Nichts vernahm er als die wunderlichen geheimnisvollen Stimmen, die man am Tage niemals hört, und die mit der Nacht geboren werden: ein Raunen und Flüstern oben in den Zweigen, ein Rascheln und Knistern in dem trocknen Laub am Boden – das dumpfe Gebell eines Hundes drüben aus dem nahen Dorfe. Ein Nachtaar kam auf seinem wirren Fluge bis dicht an sein Gesicht geflattert und schoß dann wieder davon. Sonst ringsumher tiefe drückende Stille. Da schlug ein dumpfer, drohender Laut an sein Ohr. Er kam aus der breiten Brust von Melittas Dogge, die vor dem Eingange der Eremitage Wache hielt. Der treue Wächter mußte die Nähe eines Fremden gespürt haben, denn er erhob sich, sprang die Treppe hinab und umkreiste das Haus, wie ein Schäferhund seine Herde.

»Boncœur«, rief Oswald leise, als das Tier in seine Nähe kam, »ici!«

Das kluge Tier stutzte bei dem wohlbekannten Ruf, den es so oft aus seiner Herrin Munde vernommen, und kam, Oswald erkennend, in raschen Sprüngen auf ihn zu und legte ihm als Willkommen die mächtigen Tatzen auf Brust und Schulter.

»So«, sagte Oswald, das schöne Tier streichelnd, »so, Boncœur, du erlaubst also, daß ich zu deiner Herrin gehe? Komm!«

Den Hund an den zottigen, langen Haaren festhaltend, schritt Oswald über die Wiese. Auf der Treppe übertönten die Tatzen Boncœurs den leichten Schritt Oswalds; so schlich er sich auf der Galerie, die sich um das Häuschen zog, hin, bis er an das Fenster kam. Das Fenster stand auf, durch den venezianischen Efeu hindurch, mit dem es dicht berankt war, sah Oswald hinein in das Zimmer. Auf dem Tisch brannte eine Lampe, deren Glocke mit einem roten Schleier bedeckt war, so daß der Venus heiliges Bild in dem warmen Licht wie lebend erschien. Zu den Füßen des Bildes saß Melitta, Oswald halb das Gesicht zukehrend an dem Tische. Sie hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen, aber offenbar las sie nicht; die feine Hand, auf die sie den Kopf stützte, in dem dunklen reichen Haar begraben, schien sie in tiefe Träumereien versunken. Ein unaussprechlich rührender Ausdruck, halb von tränenreicher Schwermut, und halb von unaussprechlicher Seligkeit, lag auf ihren reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es kaum über sich, das einzig schöne Bild zu zerstören, das sich ihm in dem Rahmen des kleinen Fensters zeigte. Endlich nannte er leise ihren Namen.

Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen Augen auf das Fenster heftend, lauschte sie einen Moment. Aber dann lächelte sie wehmütig, als wollte sie sagen: es war nur ein Traum und stützte das Haupt wieder in die Hand.

»Melitta, ich bin's.« –

Diesmal hatte sie es nicht geträumt. Mit einem Freudenschrei fuhr sie empor, nach der Tür, Oswald entgegen – sie schlang ihren Arm um seinen Hals, preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf seinen Mund, sie legte ihren Kopf an seine Brust – sie schaute durch Tränen lächelnd zu ihm auf: »Sieh, Oswald, ich dachte nur eben an dich! Ich dachte: wenn er dich liebt, so wird, so muß er heute kommen, und kommt er nicht, liebt er dich nicht. Oswald, nicht wahr, du liebst mich? Nicht, wie ich dich liebe, aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?«

Sprachlos vor Rührung und Seligkeit umschlang Oswald das geliebte Weib. »Melitta, du bist so grenzenlos gut und schön, daß, wer dich liebt, dich grenzenlos lieben muß!«

Vor der Tür der Eremitage, auf einer Strohdecke, den riesigen Kopf zwischen den Vordertatzen, liegt Boncœur. Die schnelle Bewegung seiner Ohren, sobald ein Geräusch aus dem Walde herübertönt, zeigt, daß er gute Wache hält. Er würde den, der es wagte, in dies Heiligtum der Liebe zu dringen, zerreißen.


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