Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück war Herr Timm abgereist. Er hatte den Baron gebeten, ihn bis nach Bergen, dem nächsten Städtchen, fahren zu lassen, von dort wolle er Extrapost nehmen. Der gastfreundliche Baron fragte, ob es denn so große Eile habe. ob er sich nicht ein paar Tage von seiner angestrengten Arbeit ausruhen wolle? Da Albert indessen gestern abend einen bedeutenden Auftrag erhalten zu haben vorgab (der Postbote hatte ihm in der Tat einen Brief gebracht), so ließ sich dagegen allerdings nichts einwenden, und der Baron befahl dem schweigsamen Kutscher, die schwerfälligen Braunen anzuspannen. Herr Timm sagte allen flüchtig Lebewohl und fuhr von dannen. Es vermißte ihn niemand – niemand, mit Ausnahme der kleinen Genferin. Aber sie vergoß ihre heißen Tränen in der Stille ihres Stübchens und die Gesellschaft sah von ihrem Kummer nichts als die rotgeweinten Augen, die sie durch heftigen Kopfschmerz erklären zu können hoffte, wenn sie jemand danach fragte. Es fragte sie aber keiner.

Hatten doch alle genug mit sich selbst zu tun! War doch jeder vollauf mit dem beschäftigt, was ihm zunächst am Herzen lag.

Der Tod der alten Frau war für Oswald ein neuer Schlag. Es war, als ob sein verdüstertes Gemüt nicht zur Ruhe kommen, als ob an seinem Himmel der letzte helle Streifen verschwinden und gänzliche Nacht ihn umgeben sollte! Er hatte Mutter Clausen nur selten gesehen, aber es war jedesmal unter so eigentümlichen Verhältnissen gewesen; er hatte jedesmal einen so tiefen, ja erschütternden Eindruck von diesen Begegnungen davongetragen, daß ihm jetzt war, als hätte er eine Ahne verloren, deren zärtliche Liebe er mit Gleichgültigkeit und Undank vergolten hatte. Wie bestimmt hatte er sich vorgenommen, als er das letzte Mal mit Albert in ihrer Hütte gewesen war, die alte Frau nicht wieder aus den Augen zu verlieren; nachzufragen, ob er ihr in irgendeiner Weise dienen, irgendwie ihr einsames Alter erfreuen könne? Sie hatte seiner in ihrer letzten Stunde gedacht; er hatte in allen diesen Tagen keine Minute Zeit gehabt, an sie zu denken. Sie hatte nicht sterben mögen, ohne ihm ihren Segen zu geben. Was hatte er im Leben Gutes getan, diesen Segen zu verdienen? – Was half es nun der Toten, daß er für ihr Begräbnis Sorge trug, daß er mit Bruno hinter dem Leiterwagen herging, auf dem man ihren schmucklosen Sarg über die Heide nach Faschwitz fuhr, ihn auf dem dortigen Friedhofe in die Gruft zu senken, daß er nach Grünwald schrieb und eine kleine Marmortafel bestellte, auf daß ihr Grab nicht wie einer Geächteten Grab sei? Wie hätte ihm die Lebende für den geringsten Teil all der Mühe, die er sich jetzt um die Tote gab, so herzlich gedankt!

Und war es, weil er ihn so wenig verdient hatte, daß der Segen der Sterbenden nicht in Erfüllung ging? Der Frieden, den sie für ihn herabflehte mit dem letzten Hauch ihres Mundes, wollte nicht einziehen in sein Herz. Wie ein Verzweifelter kämpfte er mit der rasenden Leidenschaft, die sich wie ein Orkan über ihn gestürzt hatte, aber jeder neue Tag mußte ihn nur immer mehr in seiner Ohnmacht überzeugen. Brachte ihn doch jeder neue Tag oft auf lange Stunden in die Gesellschaft des schönen Mädchens; trat sie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den stolzen Lippen entgegen, sobald der leuchtende Sommermorgen die kurze und für ihn so lange Nacht verdrängt hatte; saß er ihr doch bei Tische gegenüber; brachten die Unterrichtsstunden, gemeinsame Spaziergänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem so kleinen Kreise auf dem Lande beinahe unvermeidlich sind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung!

Und wohl mochte es einem leidenschaftlichen Herzen schwerfallen, von so viel Schönheit, Anmut und Geist nicht gerührt zu werden. Empfanden doch alle, die mit Helene in Berührung kamen, den wunderbaren Zauber ihrer Persönlichkeit; schien es doch fast unmöglich, nicht mit Heftigkeit für oder gegen sie Partei zu nehmen; gab es doch selbst in der Gesindestube unter den Leuten lebhafte Szenen, da der schweigsame Kutscher, auf die junge Baronesse anspielend, brummte: Es sei nicht alles Gold, was glänze, worauf die alte brave Köchin erwiderte: Zu schlechten und mißgünstigen Menschen kämen die lieben Engel allerdings nicht, was dann eine unerquickliche Debatte über schlechte Menschen im allgemeinen und besondern herbeiführte, bei der es von beiden Seiten ziemlich scharf herging und verschiedene helle Streiflichter auf die Familienangelegenheiten der gnädigen Herrschaft geworfen wurden. Denn selbst in diesen Regionen war man so ziemlich darüber einig, daß der Baron Felix sich nicht bloß zum Vergnügen so lange auf Schloß Grenwitz aufhielt; ja Felix' Kammerdiener behauptete: es gäbe gewisse Leute, die über gewisse Dinge eine ziemlich gewisse Auskunft geben könnten, daß aber Verschwiegenheit die erste Pflicht eines guten Bedienten sei. Er wolle nur so viel sagen, daß sein Herr eine Sache, die er angefangen habe, auch zu Ende bringe, und daß er selbst der unmaßgeblichen Meinung sei, es gebe kein Mädchen auf Erden, das seinem Herrn auf die Dauer widerstehen könne – eine Behauptung, die von dem weiblichen Teil der Gesellschaft mit großer Entrüstung zurückgewiesen wurde.

Was den Blicken dieser Leute nicht entging, konnte Oswalds durch die Liebe hundertfach geschärftem Auge nicht verborgen bleiben. Mußte er doch täglich wahrnehmen, wie Baron Felix alles aufbot, sich die Gunst seiner schönen Cousine zu erwerben, alle Gewandtheit, die er sich in tausend Intrigen auf den glatten Parketts großstädtischer Salons angeeignet, allen Witz, mit dem ihn die Natur keineswegs kärglich versehen hatte; alle Vorteile, die ihm sein Verhältnis als naher Verwandter gestattete. Mußte er doch sehen, mit welcher Umsicht die Baronin diese Bemühungen auf alle Weise unterstützte und Felix in jeder Hinsicht ebenso unermüdlich wie geschickt sekundierte. Zwar sagte er nein oder schwieg, wenn Bruno nach Tische, nach einem Spaziergang mit zornigem Antlitz eine Frechheit von »dem Affen, dem Felix« erzählte; aber er wußte recht gut, daß der Knabe nicht falsch gesehen oder gehört hatte, und sein einziger Trost war, daß Helenes Stolz in die Verbindung mit einem ihrer so ganz und gar unwürdigen Mann nun und nimmermehr willigen werde.

Was Fräulein Helene selbst betraf, so ging sie ihren stillen Weg, ohne scheinbar weder nach rechts noch links zu blicken, nur daß in der letzten Zeit ihr Betragen noch zurückhaltender, ihre Miene noch vornehmer, ihr Lächeln noch seltener geworden war. Sie wußte sehr wohl, daß sie in dem Kampfe, der ihr drohte, vergeblich an das Herz der kalten, egoistischen Mutter, vergeblich an die Einsicht des alten, schwachen Vaters, vergeblich an die Ritterlichkeit des frivolen, zügellosen Felix appellieren würde, und daß sie sich auf niemand verlassen könnte als auf sich selbst. Aber dieses Bewußtsein diente nur dazu, den Mut des hochherzigen Geschöpfes anzuschüren und zu entflammen. Die Annäherung, die zwischen ihr und der Mutter stattgefunden hatte, war nur eine scheinbare gewesen. Zwischen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht übertriebenen, immer aber hochsinnigen Idealismus huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung möglich.

Das sprach Helene wiederholt in den Briefen aus, welche sie jetzt häufig an ihre liebste Freundin und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Hamburg schrieb. »Dearest Mary«, hieß es in einem, »wie oft hast du dich über das grausame Geschick beklagt, das dich mit Reichtum überschüttete, um dir alle Verwandten zu rauben, Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen – alle jene Freunde und Freundinnen, die uns die Natur selbst mit auf den Lebensweg gibt. Aber, glaube mir, liebes Mädchen, es gibt noch ein schlimmeres Los als das deine. Die Wehmut, die dich bei dem Gedanken erfaßt, allein dazustehen in der Welt, ist nicht ohne eine gewisse Süßigkeit. Wie oft sprachst du mit Entzücken von deinem Bruder Harry, der dir in der Blüte seiner Jahre geraubt wurde, von deiner Schwester Kitty, der holden Blume, die so früh verwelkte – du sagtest, sie seien dir nicht gestorben, könnten dir nicht sterben, denn sie lebten schöner und herrlicher in deiner Erinnerung fort. Die Schatten der lieben Toten umschwebten dich überall, sie seien dir eine liebe Gesellschaft, in der du dich unendlich wohler fühltest, als oft, sehr oft in der kalten, egoistischen, die dich umgibt. O gewiß: Das Leben ist der Güter höchstes nicht; aber die Liebe ist es. Das Leben ohne Liebe ist ganz wertlos. Deine Verwandten sind gestorben, aber sie leben dir; meine Verwandten leben, aber für mich sind sie tot. – Es ist ein grauses Wort, teuerste Mary, aber ich streiche es dennoch nicht wieder aus, denn es ist wahr, und wir haben ja geschworen, uns nie die Wahrheit zu verhehlen, koste uns ihr Bekenntnis noch so viel. Ja, sie sind tot für mich, meine Verwandten, und ob ich gleich die Hälfte meines Lebens hingeben möchte, sie ins Leben zu rufen – mit frommen Wünschen ist hier nichts getan. Wer leidet denn für uns? Doch nur die, in deren Herzen wir allezeit eine sichere Zufluchtsstätte finden vor allem Leid, das uns bedrängt, vor allen Zweifeln, die uns ängstigen; die nichts wollen als unser Glück und unser Glück nicht in der Erfüllung ihrer eigenen Wünsche, in der Befriedigung ihrer eigenen Selbstsucht erblicken. Und ist dies nicht der Fall bei den Meinigen? Kann ich ihnen mein Herz erschließen? Muß ich nicht stets fürchten, bei ihnen anzustoßen, wenn ich spreche, wie ich denke? Fragen sie nach meinen Neigungen? Ängstigen sie mich nicht vielmehr mit Zumutungen, mit Andeutungen, die mir das Blut erstarren machen? Freilich mein guter alter Vater – er würde, wenn es zum Äußersten käme, mich nicht verlassen; aber großer Gott, ist denn die Furcht, es könnte bis dahin kommen, nicht schlimm genug? Und ist denn der Beistand, den man sich ertrotzen muß, etwas, worauf wir mit vollem Vertrauen, mit gläubiger Zuversicht blicken können? Ach, Mary, ich kann dir nicht sagen, wie fremd, wie unheimlich mir der Geist ist, der in meinem elterlichen Hause waltet, wie sehr ich mich zurücksehne nach unserem stillen Pensionsleben, wo wir, wenn uns auch die Welt draußen verschlossen war, in unseren Träumen und ach vor allem in unserer herzlichen Freundschaft eine schönere und reichere Welt fanden. Hier hab ich niemand, dem ich einen Blick in diese Welt verstatten möchte, niemand als einen Knaben, bei dem ich auf Verständnis nicht rechnen kann, und einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unübersteigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich spreche. Ich will dir nicht verschweigen, daß ich in letzterer Zeit an diesem Mann ein Interesse genommen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte – ein Bekenntnis, das deinen Spott herausfordern wird und das ich dir dennoch, kraft der Heiligkeit unseres Kovenant, schuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich ist. Er steht wie du allein, ganz allein in der Welt; seine Mutter hat er kaum gekannt, seinen Vater schon vor Jahren verloren, Brüder und Schwestern nie gehabt. Er ist noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit, und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermut auf seiner hohen Stirn, in seinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es so schmerzlich um seinen Mund, daß ich viel, sehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und sprechen: Sage mir, was dich quält; vielleicht kann ich dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit dir fühlen. Wir beide, teure Mary, sind in der Überzeugung aufgewachsen, daß die unteren Stände mit dem Adel der Geburt auch des Adels der Gesinnung entbehren, daß wir bei ihnen auf ein Verständnis dessen, was uns hoch und teuer ist, in keinem Falle rechnen können. Ich gestehe, daß ich seit meiner Ankunft in Grenwitz von diesem Vorurteil – denn so muß ich es jetzt bezeichnen – in manchen Punkten zurückgekommen bin, daß ich wenigstens jetzt eingesehen habe, wie sich zu der Regel doch auch Ausnahmen finden. Stein ist eine solche Ausnahme. Ich habe noch kein Wort aus seinem Munde gehört, das den Plebejer verraten hätte, dagegen viele, sehr viele, die mir aus der Seele gesprochen waren, die ein lautes Echo in meinem Herzen fanden. Er spricht mit einer Anmut, wie ich es noch von keinem Menschen gehört habe, mit einer reichen Modulation der Stimme, die wie Musik in meinem Ohre klingt, so daß ich oft noch stundenlang nachher versuche, die Art und Weise, den Tonfall, mit dem er dieses oder jenes sprach, in meiner Erinnerung zurückzurufen. Es liegt für mich ein unendlicher Zauber in einer schönen klangreichen Stimme, es ist mir immer, als sprächen die Menschen mit dem Herzen; als könnte ich oft schon nach wenigen Worten sagen: Dies ist ein guter, dies ist kein guter Mensch. Und bei Stein wenigstens trifft es zu. Ich habe schon manche Proben von seiner Herzensgüte gesehen. So starb vor ein paar Tagen in unserem Dorfe eine alte Frau, die früher Wirtschafterin auf dem Schlosse gewesen war und von dem Vater eine kleine Pension hatte. Niemand kümmerte sich um sie, nur Stein, der auch nach ihrem Tode für ihr Begräbnis Sorge trug, ja, sie zu ihrer letzten Ruhestätte, mit Bruno, den weiten Weg bis zum Friedhofe begleitet hat. Das ist ihm im Schlosse sehr übel ausgelegt worden, und ich mußte sehr lieblose Bemerkungen darüber mit anhören; besonders von einer gewissen Person, die Gott danken sollte, wenn er sie nur einmal zu einer so guten Tat kommen, geschweige denn eine solche wirklich ausführen ließe. Aber ich will dieser Person nicht die Ehre antun, noch mehr Worte über sie zu verlieren. Ich habe beschlossen, daß sie in Wirklichkeit für mich nicht existieren soll, und so soll sie es auch nicht in Worten.«

Dieser Brief, in dem sich Fräulein Helene so unumwunden über die Personen ihrer Umgebung aussprach, wurde nie beantwortet, denn er gelangte nie an seine Adresse.


 << zurück weiter >>