Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Unterdessen hatten der Inspektor und Oswald, nicht ohne einige Schwierigkeit – denn Herrn Wrampes Riesenkraft schien durch den Schreck vollkommen gelähmt zu sein – den Kranken auf den Wagen geladen, nachdem sie zuvor von dem Heu der nahen Wiese und einigen Kleidungsstücken eine Art von Lager darauf bereitet hatten. Oswald stieg mit hinauf, um den Kranken, der sich jetzt in einem ganz lethargischen Zustande befand, nötigenfalls zu stützen, und der Inspektor lenkte die Pferde. Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht lange, da die Häuslerwohnungen auf der ihnen zugekehrten Seite der Landstraße von Grenwitz nach Faschwitz, den Wirtschaftsgebäuden gegenüber, also bedeutend näher als das Schloß selbst lagen.

»Sie wissen doch, wo der Mann wohnt?« fragte Oswald, als sie sich dem Dorfe näherten.

»Gleich in dem ersten Hause«, antwortete Herr Wrampe, sich in dem Sattel umdrehend und mit dem Peitschenstiel auf ein Häuschen zeigend, das eher einem großen Hundestall als einer kleinen Menschenwohnung glich.

»Ist er verheiratet?«

»Gewesen«, antwortete Herr Wrampe, »er hat das arme Weib –‹ hier unterbrach er sich, einen scheuen Blick auf das blasse Gesicht des Mannes werfend, als wollte er sagen: von Toten und Todkranken darf man nur das beste sprechen.

»Hat er Kinder?«

»Zwei, da sind sie vor der Tür mit Mutter Clausen. Mutter Clausen, he! Der Jochen hat das böse Wesen gehabt, bringen Sie doch die Kinder ins Haus, daß sie sich nicht erschrecken.« So rief der Inspektor, den das Gefühl seines Unrechts außerordentlich zartfühlend gemacht hatte, einer alten Frau zu, die im letzten Abendsonnenschein vor der Tür der Hütte saß, während zwei kleine Kinder zu ihren Füßen im Sande spielten.

Als die alte Frau aufblickte, erkannte Oswald dieselbe Alte, mit welcher er auf dem Wege zur Kirche gestern morgen auf dem Moor die sonderbare Unterredung über Unsterblichkeit gehabt hatte. Die Alte warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk, ergriff die Kinder, führte sie ins Haus, und kam wieder heraus, als der Wagen eben vor der Tür stillhielt.

»Ist er tot?« fragte sie, an den Wagen tretend.

»Nein, Mütterchen«, sagte Oswald.

»Ah, sieh, der junge Herr von gestern! Na, das gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit den armen Menschen. – Tragt ihn nur hier herein, ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.«

Der Inspektor und Oswald hoben den Mann, der vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn, nicht ohne sich zu bücken, durch die Haustür über den kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett.

Die Alte folgte, hieß den Inspektor, ihr den Mann entkleiden helfen und sagte ihm dann:

»So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und ich wollen schon mit dem Jochen fertig werden.«

Der Inspektor ließ sich diese Erlaubnis nicht zweimal sagen; mit einigen unverständlichen Worten drückte er sich aus der Stube, und Oswald sah nur durch das Fenster, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd bestieg, einen langen, langen Schluck aus seiner Flasche tat, als ob er nach solcher geistigen und körperlichen Anstrengung einer Erquickung ganz besonders bedürfe.

Oswald hatte sich am niedrigen, offenen Fenster auf einen Schemel gesetzt und schaute sich in dem Zimmerchen um. Man erkannte auf den ersten Blick, daß hier in diesem Häuschen ein guter Geist waltete, der aber sicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde dort auf dem Bett seine Wohnung aufgeschlagen hatte. Das Bett war frisch überzogen, die Zimmerdecke, die Wände waren sorgfältig gereinigt, der Fußboden mit Sand bestreut. Die Luft im Zimmer war frisch, die kleinen Fensterscheiben so klar, wie es ihre grünliche Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clausen hatte am Bette gesessen, und, wie Oswald aus einigen wunderlichen Manipulationen schloß, irgendeine magnetische Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt in einen erquickenderen Schlaf zu fallen schien. Sie stand auf und sagte: »Ich will die Kinder zu Bett bringen, Sie bleiben doch so lange hier?«

Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte sie davon, kam nach einer Viertelstunde wieder und setzte sich zu dem jungen Mann an das Fenster. Sie hatte ein Strickzeug in der Hand und strickte mit einer für ihr Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinderstrümpfchen. So saß sie da, bald nach dem Kranken horchend, bald die Maschen an ihrem Strumpfe zählend, bald Oswald aus ihren grauen, tiefliegenden Augen forschend und freundlich ansehend.

»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie plötzlich, als ein roter Streifen der untergehenden Sonne durch das Fenster auf Oswalds Gesicht fiel, »ich muß Sie schon mal gesehen haben.«

»Nun ja«, sagte Oswald, »gestern morgen auf der Heide.«

»Nein, nein – nicht gestern, vor einigen Jahren, so vor vierzig – fünfzig etwa und darüber.«

»Wie alt sind Sie denn, Mütterchen?« fragte Oswald verwundert, fünfzig Jahre und darüber als einige Jahre bezeichnen zu hören.

»Nächstes Christfest werde ich zweiundachtzig Jahr«, antwortete die Alte, wieder emsig strickend, als erinnere sie diese Frage, daß sie keine Zeit mehr zu verlieren habe.

»Zweiundachtzig Jahre!« rief Oswald erstaunt. »Und haben Sie während der Zeit hier stets im Dorfe gelebt?«

»Ja, immer hier; hier und auf dem Schlosse. Dort bin ich geboren, am heiligen Christabend im Jahre 1764, an demselben Tage und zur selbigen Stunde, wie der Vater von dem verstorbenen Baron –«

»Wie lange ist der nun tot?«

»Nun, es ist jetzt so ein vierzig Jahre her, er wäre jetzt ebenso alt wie ich, zweiundachtzig Jahr, hm, hm, hm, zweiundachtzig Jahr – wie der wohl aussähe – auch so verschrumpft? Und war ein schmuckes Bursch – ei, das war ein schmuckes Bursch!«

Die Erinnerung an den drittletzten, längst verstorbenen Baron von Grenwitz schien der Alten eine besonders merkwürdige zu sein; sie ließ die magern, braunen Hände mit dem Strickzeug in den Schoß sinken, und starrte gedankenvoll vor sich hin. »Ein schmuckes Bursch«, murmelte sie noch einmal, und die verschrumpften Züge erhellte ein freundliches Lächeln, dann traten zwei große Tränen aus den gesenkten Wimpern und rollten langsam über die runzligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände... Was mochte sie in diesem Augenblicke erschauen, die alte Frau? Sah sie sich wieder, wie sie vor fünfundsechzig Jahren war, ein schlankes, bildhübsches Ding mit großen grauen, blitzenden Augen und prächtigem, reichem, dunkelblondem Haar, so wie sie damals war, als sie sich des Nachts heruntergestohlen hatte in den Schloßgarten, um dem Junker ein Stelldichein zu geben, dem wilden Junker, mit dem sie zusammen aufgewachsen war wie eine Schwester, und den sie wie einen Bruder liebte und wie ihren Herzallerliebsten, und der ihr schwur, er wolle sie zur gnädigen Frau machen, sobald er einmal der Herr sei in Grenwitz. Damals war sie jung gewesen und er war jung gewesen; und die Sonne hatte in jener alten Zeit so warm und mild geschienen in ihr junges, morgenfrisches Herz, und die Lerchen hatten so lieblich ihr Triliri gesungen, und der Mondschein war auf so leisen Füßen im Park herumgeschlichen, daß er nicht einmal die Nachtigall störte, die in dem Gebüsche so klagte und schluchzte, als ob ihr das kleine volle Herz brechen wolle vor Liebessehnsucht und Liebespein – denn ach, der Junker war dann fortgereist, weit, weit fort – übers Meer, von seinen Eltern nach Schweden geschickt zu seinen Verwandten, damit die dumme Geschichte mit der Lise ein Ende nehme; und er sandte ihr kein Wort, keinen Gruß ein, zwei Jahre lang, und als er wiederkam von Schweden – da, heiliger Gott! war er nicht allein – eine schöne, junge Frau saß bei ihm im Wagen, und die alten Herrschaften waren glücklich, und die Dienerschaft schrie Hurra – und sie tanzten und jubelten. – Aber in dem dichtesten Gebüsch des Schloßgartens hatte sich ein Mädchen versteckt, die hübscheste von allen Dirnen weit und breit, und die schluchzte leise, leise vor sich hin, wie Träne auf Träne über ihre Wangen rollte, und von den vielen Tränen waren ihr die schönen Augen tief in den Kopf gesunken, und die blonden Haare waren grau geworden, und – und da saß sie nun, eine alte, steinalte Frau – und noch immer flossen ihr die Tränen über die runzligen braunen Wangen auf die runzligen braunen Hände.

»Ein schmuckes Bursch«, sagte sie, »wie ich mein Lebtage keinen wieder so schmuck gesehen habe, bis gestern morgen, als Sie plötzlich auf der Heide vor mir standen. Da kamen Sie mir gleich so bekannt vor, und nun weiß ich auch, warum. Mit Verlaub, Junker, wie alt sind Sie jetzt?«

»Dreiundzwanzig Jahr.«

»Dreiundzwanzig Jahre, ja, ja, ich wußte es wohl, dreiundzwanzig Jahre – du bist jung geblieben und bist noch immer so gut und schön.«

Wieder sah sie Oswald an, aber nicht mit dem spürenden, suchenden Blick wie vorher, sondern klar und deutlich wie eine Ahne blickt, die einen Enkel an ihrem Lehnstuhle spielen sieht. Auf einmal stand sie auf, trat an Oswald heran, und ihm die welken, zitternden Hände aufs Haupt legend, sagte sie langsam und feierlich mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören, die aus einer andern Welt herüberzuschallen schien: »Der Herr segne und behüte dich, Oswald!« Dann setzte sie sich wieder auf ihren niedrigen Schemel und strickte wieder emsig, daß die Nadeln klapperten und dazu nickte sie mit dem grauen Haupte und lächelte selig vor sich hin, als erzählte ihr eine Stimme, die nur sie allein hörte, ein altes, längst verschollenes, wunderherrliches Märchen von Jugend und Liebe und Nachtigallengesang.


 << zurück weiter >>