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Achtundzwanzigstes Kapitel

Hat dir das Schläfchen gutgetan, lieber Grenwitz?« fragte die Baronin.

»Ich danke, liebe Anna-Maria, recht gut«, erwiderte der alte Baron.

Es war in der Nachmittagsstunde des Tages nach dem ereignisreichen Balle in Barnewitz; die Redenden befanden sich in demselben, nach dem Garten hinaus liegenden Zimmer des Schlosses, worin vor ungefähr acht Tagen die Unterredung zwischen der Baronin und Melitta stattgefunden hatte. Die Baronin saß wieder wie damals in der Nähe der geöffneten Flügeltür, die nach dem großen Rasenplatz führte, auf dem Melittas Augen Oswald zum ersten Male erblickten, und wieder nähte die musterhaft fleißige Frau emsig und unverdrossen, als müßte sie sich ihr tägliches Brot mit der Nadel verdienen. Der Baron saß ihr gegenüber in demselben Schaukelstuhl, in dem sich Melitta gewiegt hatte. Er erwachte soeben aus einem erquickenden Nachmittagsschlaf und schaute mit den alten, glanzlosen Augen freundlich durch die offene Tür auf den Rasenplatz, wo sein Liebling, der Pfau, das prächtige Gefieder im Sonnenschein erglänzen ließ.

»Recht gut!« wiederholte er, die Glieder streckend.

»Aber du siehst doch sehr angegriffen aus«, sagte die Baronin, die großen, kalten grauen Augen forschend auf die verwitterten Züge des Barons heftend, »diese anspruchsvollen, lärmenden Gesellschaften sind wahres Gift für dich; und ich habe mir schon, während du schliefst, im stillen rechte Vorwürfe gemacht, daß ich gestern nicht früher zum Aufbruch mahnte.«

»Aber ich versichere dich, liebe Anna-Maria, ich befinde mich vortrefflich, das heißt, nicht schlechter als gewöhnlich oder doch nicht viel schlechter«, sagte kleinlaut der gute alte Mann.

»Du mußt dich in dieser Zeit noch recht in acht nehmen«, sagte die Baronin, wieder emsig nähend, »heute über acht Tage spätestens müssen wir reisen, und du wirst zu den Strapazen einer so großen Tour deine ganze Kraft nötig haben. Wollte Gott, wir wären alle schon glücklich wieder hier! Ich entschließe mich wahrlich höchst ungern dazu. Deine angegriffene Gesundheit – die Gefahren einer Seereise – und dann: wird dir das Bad in Helgoland auch wirklich guttun? Doktor Braun versichert es freilich, aber wer kann den Ärzten trauen? Schlägt eine Kur an, triumphieren sie, und schlägt sie nicht an, sind nicht sie daran schuld, sondern der Patient, der sich nicht ordentlich gehalten hat. Und was kümmert es den Herrn Doktor, ob du gesund oder krank zurückkommst, ob du lebst oder stirbst – aber ich, aber wir, – o Grenwitz, was sollte wohl aus uns werden, wenn du uns genommen würdest!«

Die Baronin blickte von ihrer Arbeit empor, und in ihren Augen blinkte etwas, das man bei einer andern Frau für eine Träne gehalten haben würde.

Der alte Baron erhob sich von seinem Stuhl, trat auf seine Frau zu und küßte sie zärtlich auf die Stirn.

»Du mußt dir nicht solche Gedanken machen, liebe Anna-Maria«, sagte er gütig. »Der liebe Gott wird mich noch nicht so bald sterben lassen; ich bete jeden Morgen zu ihm und danke ihm für jeden neuen Tag, den er mir schenkt, nicht meinethalben, denn ich bin ein alter Mann, und sterben müssen wir ja alle einmal – sondern deinethalben, weil ich weiß, wie sehr dich mein Tod schmerzen würde, und auch, weil ich noch gern, bevor ich sterbe, deine und Helenens Zukunft gesichert sehen möchte.«

Der alte Mann hatte sich wieder gesetzt und aus einer goldenen Dose, die neben ihm auf einem runden Tischchen stand, eine Prise genommen, um die Rührung, in die er sich hineingesprochen hatte, schneller zu überkommen; die Baronin nähte wieder eifrig an ihrer Arbeit.

»Du bist so gut«, sagte sie, »viel zu gut, denn du bist es selbst gegen die, die deine Güte in keiner Weise verdienen, und du hast dir dadurch manche schwere Sorge bereitet, deren du mit ein wenig mehr – ich will nicht sagen: Egoismus, denn ich hasse das Wort – aber mit etwas mehr Diskretion überhoben gewesen wärest. Du bist jetzt für meine und Helenens Zukunft besorgt, mit Recht besorgt. Diese Sorge wäre unnötig, hättest du nicht, als du vor vierundzwanzig Jahren das Majorat erbtest, die Güter zu wahren Spottsummen an Leute verpachtet, die jetzt auf deine Kosten reich geworden sind und noch dazu die Unverschämtheit haben, uns als habsüchtig zu verschreien, weil wir im nächsten Jahre die Kontrakte nicht unter den alten Bedingungen erneuern wollen; und hättest du nicht – was ich nie habe begreifen können und nie begreifen werde – damals ohne alle Not die enormen Schulden Haralds übernommen, deren Abtragung alles verschlang, was deine und später unsere Sparsamkeit von unsern Renten erübrigen konnte.«

Dem alten Baron schien das von seiner Gemahlin angeschlagene Thema nicht besonders angenehm; er nahm, während sie sprach, eine Prise nach der anderen und antwortete, als sie jetzt schwieg, nicht ohne einige Lebhaftigkeit:

»Ich kann dir nicht ganz unrecht geben, liebe Anna-Maria, aber auch nicht ganz recht. Die alten Kontrakte sind allerdings den Pächtern sehr günstig, aber die Zeiten waren damals auch andere; das Geld war nach dem Kriege äußerst knapp, die Güter im allgemeinen standen sehr niedrig im Wert, und unsere Güter waren, allerdings durch Haralds Schuld, in Grund und Boden gewirtschaftet. Die Pächter hatten wahrlich im Anfang ihre liebe Not, und wenn sie jetzt mit der Zeit reich und unverschämt geworden sind, so bin ich an dem einen so wenig schuld als an dem andern. Ich habe es gut mit ihnen gemeint, das weiß der liebe Gott.

Was aber mein Benehmen Haralds Gläubigern gegenüber anbetrifft, so weiß ich wirklich noch heute nicht, wie ich es hätte anders einrichten sollen. Die Ehre meiner Familie erforderte, daß ich seine Schulden übernahm, denn nicht dem Baron Harald von Grenwitz hatten sie kreditiert, der, das wußten die Leute recht gut, bei der Unantastbarkeit des Majorats niemals seine Schulden bezahlen konnte, sondern der Familie Grenwitz, die nicht zugeben würde, daß einer aus der Familie ehrlos werde. Und dann hatte ich gegen meinen Vetter Pflichten der Dankbarkeit. Als er und ich junge Offiziere im Regimente waren, und auch im späteren Leben, hat er stets wie ein Bruder gegen mich gehandelt. Es ist wahr, ich habe seine Güte nie gemißbraucht, und für jedes Hundert Taler Schulden, die er für mich bezahlt hat, habe ich Tausend für ihn bezahlt, aber er würde mich, davon bin ich überzeugt, aus jeder Verlegenheit gerissen haben, denn seine Freigebigkeit kannte keine Grenzen.«

»Du ereiferst dich ohne Not, lieber Grenwitz, ganz ohne Not«, sagte die Baronin ruhig, während der alte Mann von der ungewohnt langen und lebhaften Rede erschöpft, in den Stuhl zurückgesunken war, »es fällt mir nicht ein, dir Vorwürfe machen zu wollen. Du weißt, wie wenig Wert ich selbst auf Reichtum lege, wie gering meine persönlichen Bedürfnisse sind, und daß, wenn ich mir über die Zukunft Sorgen mache, es nicht meinethalben, sondern der Kinder wegen ist.«

»Ich weiß es, liebe Anna-Maria«, sagte der Baron, »ich weiß es. Ich habe dir nicht weh tun wollen, und ich bitte dich wegen meiner Heftigkeit um Verzeihung.«

Eine Pause in dem Gespräche der Gatten folgte. Die Baronin nähte emsiger denn je, der Baron hatte sich seine Brille aufgesetzt, ein Zeitungsblatt ergriffen, das der Postbote vor einer Stunde gebracht hatte, und begann, die Lippen leise bewegend – denn Lesen und Schreiben war des guten Mannes Sache nie gewesen –, sich in die Lektüre zu vertiefen.

»Personalveränderung in der Armee«, murmelte er; »der Oberst von –, der Major von –, lauter alte Bekannte. Der junge Grieben, schon Premierleutnant – das geht schnell.

Dem Sekondeleutnant Felix von Grenwitz – Ersuchen – Abschied – ei der Tausend; ich dachte, Felix wollte nur um Urlaub einkommen, und hier lese ich, daß er seinen Abschied genommen hat.«

»In der Tat!« sagte die Baronin, die betreffende Stelle in dem Blatte, das ihr der Baron hinreichte, lesend. »Nun das freut mich, freut mich sehr. Ich will nur gestehen, lieber Grenwitz, daß ich Felix selbst diesen Rat erteilt und seinen Austritt aus der Armee mit zu den Bedingungen gerechnet habe, die er erfüllen müßte, bevor wir ihm unsere Helene geben könnten.«

»Aber warum das?« fragte der Baron erstaunt.

»Warum?« antwortete die Baronin. »Nun, ich dächte, lieber Grenwitz, der Grund wäre doch klar genug. Ich dächte, es wäre die allerhöchste Zeit, daß Felix ein anderes Leben beginnt, und darauf möchten wir wohl lange vergeblich warten, solange er in denselben Kreisen und denselben Verhältnissen bleibt, wo er seine Lebensweise nicht ändern könnte, selbst wenn er wollte. Ich sehe aus diesem Schritt, der auch mich überrascht – denn ich glaubte nicht, daß er sich so schnell dazu entschließen werde –, daß es ihm wirklich ernstlich um die Hand Helenens zu tun ist; und, wie gesagt: ich freue mich, freue mich sehr darüber.«

»Aber, liebe Anna-Maria«, sagte der Baron, sich hinter dem Ohr reibend, fast verdrießlich, »Wir laden uns auf diese Weise Verpflichtungen auf, die wir am Ende gar nicht erfüllen können. Wenn unser Kind, wenn Helene nun –«

»Nicht will – meinst du?« unterbrach ihn die Baronin, sich in ihrem Stuhl in die Höhe richtend, und die Augenbrauen zusammenziehend. »Oh, ich denke, sie wird wollen; ich denke, sie wird nicht vergeblich gelernt haben, daß ein Kind den Eltern Gehorsam schuldig ist.«

»Aber wenn sie den Felix nun nicht lieben kann!« sagte der alte Mann bekümmert.

»Aber, Grenwitz, ich begreife dich nicht«, erwiderte die Baronin; »diese Heirat ist seit langer Zeit unser liebster Wunsch gewesen. Helene hat, die paar tausend Taler, die wir bis jetzt zurückgelegt haben und die Ersparnisse, die wir in den kommenden Jahren etwa noch machen können, abgerechnet, kein Vermögen; denn Stantow und Bärwalde gehören vorläufig noch nicht uns, sondern – dank der Freigebigkeit des freigebigen Barons Harald – jedem beliebigen Abenteurer, der unverschämt genug ist, mit ein paar gefälschten Zeugnissen in der Hand, die Güter für sich zu beanspruchen. Felix' Güter sind allerdings sehr verschuldet, ich gebe es zu; aber er kann, wenn er nur will, und ich bin überzeugt, daß er jetzt zur Vernunft gekommen ist, sich mit unserer Hilfe wieder herausreißen, und wenn Malte, was der Allgütige verhüten solle! – aber in solchen Dingen muß man alles, selbst das Äußerste bedenken, und Maltes Gesundheit macht mir unbeschreibliche Sorge – wenn, sage ich, Malte ja vor der Zeit sterben sollte, so ist Felix Herr von Grenwitz und ich dächte, es müßte dir ein lieber Gedanke sein, deine Tochter so gleichsam an Maltes Stelle treten zu sehen.«

In diesem Augenblick öffnete sich langsam die Tür, ein bebrilltes Gesicht schaute vorsichtig herein, und eine quäkende Stimme fragte:

»Darf ich näher treten, Gnädigste?«

»Ah, sieh, der Herr Pastor!« sagte der Baron, aufstehend und dem Eintretenden entgegengehend, »Seien Sie bestens willkommen! Wollen Sie nicht ablegen?«

»Bitte, bitte, Herr Baron – bemühen Sie sich doch ja nicht – ich kann ja selbst – danke verbindlichst!« sagte Pastor Jäger, Hut und Stock auf einen Stuhl legend. »Ich wollte mich gar nicht aufhalten; – danke verbindlichst – ich würde einen Rohrstuhl vorziehen – danke! – Ich wollte mich nach dem Befinden der gnädigen Herrschaften erkundigen, denn ich hörte heute morgen, daß Sie das Zauberfest in Barnewitz gestern mit Ihrer Gegenwart beehrt haben. Recht gut bekommen? Nicht sonderlich? Oh! Die Frau Baronin sehen in der Tat etwas angegriffen aus –« und der Pastor blickte, den Kopf wie ein kranker Papagei auf die rechte Schulter neigend, mit dem Ausdruck des innigsten Bedauerns auf die Baronin.

»Ich befinde mich leidlich«, sagte diese, die Arbeit, die einen Augenblick geruht hatte, wieder ergreifend, »aber Grenwitz scheint die Tour weniger gut bekommen zu sein.«

»Oh, in der Tat!« sagte der Pastor, den Kopf schnell auf die linke Schulter neigend. »Darf ich Ihnen von meinem Tropfen offerieren, Herr Baron, sechs bis zwölf auf Zucker?«

»Sie sind doch der wahre Arzt für Seele und Leib«, sagte die Baronin, während der Pastor auf eine abwehrende Bewegung des Barons sein Fläschchen wieder in das Papier wickelte und in die Tasche steckte.

»Ja, ja; mens sana in corpore sano, ein gesunder, das heißt ein frommer Geist in einem gesunden Körper, – das habe ich als Knabe in der Schule gelernt, und suche es jetzt als Mann zu üben. – Wo sind denn aber die lieben Knaben? Noch beim Unterricht? Ja, ja, der Herr Doktor Stein scheint ein recht strebsamer, fleißiger junger Mann, unter dessen Anleitung die Junker es mit Gottes Hilfe recht weit bringen werden.«

Nun glaubte der Pastor Jäger mit diesen, Oswald gespendeten Lobsprüchen etwas dem Baron und mehr noch der Baronin besonders Wohlgefälliges gesagt zu haben. Oswalds ruhiges, sicheres Auftreten hatte ihm gewaltig imponiert; Primula Veris, deren Urteile über Dinge und Menschen ihm Evangelium waren, hatte seit acht Tagen nur das Lob des jungen »Gastfreundes« gesungen, der ihr in einer Stunde mehr Verbindliches gesagt hatte, als ihr sonst vielleicht in einem Jahr gesagt wurde; heute morgen hatte Frau von Plüggen, die Nachbarin und gute Freundin Primulas, dieser einen Besuch gemacht, um ihr von dein gestrigen Balle den pflichtschuldigen Bericht abzustatten. Frau von Plüggen, eine Dame, die schon erwachsene Töchter hatte, aber noch immer gern die Jugendliche spielte, war entzückt von Oswald, der ihr mit scheinheiliger Miene versichert hatte, sie könne sich getrost für ihre jüngste Tochter ausgeben. Sie erzählte der horchenden Primula, welche Sensation Oswalds Geschicklichkeit im Schießen unter den jungen Männern hervorgebracht, welche Anerkennung seine schöne Gestalt, seine feinen Manieren in der Damenwelt gefunden; wie er mit Hortense getanzt, Frau von Berkow zu Tische geführt habe; und eigentlich alles in allem der Löwe des Tages gewesen sei. Schon, daß Oswald an einer Gesellschaft, deren exklusive Tendenzen dem Pastor sehr wohl bekannt waren, überhaupt hatte teilnehmen dürfen, war in den Augen des letzteren ein merkwürdiges, tief bedeutungsvolles Zeichen. Und zu alle diesem kam noch ein Umstand, der dem hochwürdigen Herrn Oswalds Gunst und Freundschaft vorzüglich wünschenswert erscheinen ließ. Der Pastor war nicht ohne Ehrgeiz. Er glaubte sich zu größeren Dingen berufen, als den Bauern von Faschwitz das Evangelium zu predigen. Er wollte nicht umsonst sich bei der Lektüre alter Manuskripte der Grünwalder Universität die Augen verdorben, nicht umsonst über die verschollenen Fragmente der verschollenen Schriften eines verschollenen Kirchenvaters eine grundgelehrte Dissertation geschrieben haben. Er war Doktor, er wollte Professor sein, Professor in derselben Musenstadt, die ihn vor zwanzig Jahren als verkümmerten Studiosus der Theologie in abgeschabtem Röckchen durch ihre Gassen hatte schleichen sehen.

Er wollte es um so mehr, als seine Primula es wollte, Primula, die die ländlichen Gefilde, in denen ihre »Kornblumen« erblüht waren, herzlich satt hatte und sich im Geiste als geniale Gemahlin des gelehrten Professors an den ästhetischen Teetischen der Musenstadt glänzen sah. – Zur Erreichung dieses höchsten Ziels konnte dem Pastor der Professor Berger, den er wegen seines offen zur Schau getragenen Voltaireanismus, Spinozismus, Atheismus gründlich verabscheute, und dessen Protektion er doch schon oft vergeblich erstrebt hatte, außerordentlich nützlich werden. Oswald aber war der erklärte Günstling des großen Mannes, der erste Schüler des alten Meisters. Eine Empfehlung Oswalds war mehr wert als eine gelehrte Dissertation – folglich Oswalds Freundschaft ein Ziel, »aufs innigste zu wünschen«, und ein gelegentliches Lob, das ihm doch wohl wieder zu Ohren kommen konnte, gar »keine schlechte Theologie«.

So dachte, so rechnete der Pastor.

Wie erstaunt war er daher, als die Baronin mit einem Ton der Stimme, der nicht viel Gutes verhieß, seine huldvolle Phrase mit der Frage beantwortete: »Sagen Sie einmal aufrichtig, Pastor Jäger, was halten Sie von dem jungen Menschen?«

Den Schüler Bergers, den Günstling Primulas, den Löwen vom gestrigen Junkerfest schlechtweg als einen »jungen Menschen« bezeichnen zu hören! Der Pastor traute seinen Ohren kaum. Er schoß über die runden Brillengläser fort einen forschenden Blick auf die Baronin, ob ihr Gesicht etwa einen Kommentar zu der rätselhaften Frage geben möchte. Da er sich in dieser Hoffnung getäuscht sah und schlechterdings nicht wußte, was er antworten solle, griff er zu dem Mittel, zu dem er in solchen kritischen Fällen stets seine Zuflucht nahm: er zog die Schultern und die Augenbrauen möglichst in die Höhe und die Mundwinkel möglichst tief herunter, und überließ es dem indiskreten Frager, aus der Miene zu machen, was er wollte und konnte.

»Sie zögern mit Ihrer Antwort!« sagte die Baronin. »Ich gebe zu, es ist nicht ganz leicht, über Herrn Stein ins klare zu kommen. Er hat unleugbar manche schätzenswerte Eigenschaften. Seine Manieren sind für einen Menschen von so niedriger Extraktion wirklich überraschend gut; noch gestern glaubte die Gräfin Grieben im Anfang, ich wollte sie mystifizieren, als ich ihr sagte: der junge Mann, der mit uns gekommen, sei unser Hauslehrer. Aber mit einer erträglichen Turnüre, mit gewandter Rede und dergleichen ist es nur leider nicht getan, und ich bin heute noch immer nicht mit mir einig, ob wir an dem jungen Manne eine gute Akquisition gemacht haben oder nicht.«

»Aber liebe Anna-Maria«, sagte der Baron, »warum sollen wir uns nicht auf den Professor Berger verlassen –«

»Lieber Grenwitz, ich verlasse mich auf niemand als auf mich selbst. Der Professor kann sich durch Steins einnehmendes Wesen so gut haben bestechen lassen wie du und viele andere; und gesetzt auch, seine wissenschaftliche Bildung sei wirklich ausreichend –«

»Nun, darüber dürfte wohl kein Zweifel obwalten, Gnädigste«, sagte der Pastor, der, wenn er Oswald, wie er jetzt wohl einsah, fallenlassen mußte, sich wenigstens nach dieser Seite sichern wollte. »Es ist durchaus nicht anzunehmen, daß der Professor, dem niemand, man mag über seine – ich will nicht sagen, unchristliche, aber wenig kirchliche Gesinnung denken, wie man will, einen durchdringenden Scharfblick, eine eminente Gelehrsamkeit absprechen kann, sich in dem intimen Umgange eines Ignoranten wohlgefühlt haben sollte.«

»Ich erlaube mir in wissenschaftlichen Dingen kein Urteil«, sagte die Baronin, »und so mag meinetwegen Herr Stein neben dem Pistolenschießen, worin er ja, wie ich höre, glänzen soll, auch noch zu streng wissenschaftlichen Studien Zeit gefunden haben; aber es kann jemand gute Manieren haben und Gelehrsamkeit dazu, und doch ein unmoralischer Mensch sein.«

»Aber liebe Anna-Maria«, sagte der alte Baron ganz erschrocken, während der Pastor die Mundwinkel herunterzog und beistimmend nickte.

»Ich bleibe dabei«, fuhr die Baronin fort, »ein unmoralischer Mensch. Hätte ich gewußt, was ich leider zu spät erfuhr, daß der Professor bei aller seiner vielgerühmten Gelehrsamkeit in dem Geruche eines Demokraten oder Atheisten – ich weiß nicht, welches von beiden das Schlimmere ist, denn wer seinen Gott nicht ehrt, kann auch seinen König nicht ehren und umgekehrt – ich sage, hätte ich gewußt, daß der Professor ein Freidenker und ein Mann der Umsturzpartei ist, ich würde ihm nimmermehr bei der Wahl eines Erziehers für meinen Sohn eine entscheidende Stimme eingeräumt haben.«

»Aber liebe Anna-Maria«, sagte der Baron, »es ist doch möglich, daß du in betreff Steins unbegründeten Befürchtungen Raum gibst. Ich erinnere mich nicht, je ein Wort von ihm gehört zu haben, in dem man mit Sicherheit die Bestätigung eines so schrecklichen Verdachtes hätte finden können.«

»Nun, Pastor Jäger«, sagte die Baronin, »sind Sie auch von der Unschuld des jungen Mannes so fest überzeugt?«

»Ich würde nicht der Wahrheit die Ehre geben«, sagte dieser mit der Miene und dem Ton herzinnigen Bedauerns, »wollte ich leugnen, aus seinem Munde Äußerungen vernommen zu haben, die an das Gebiet des Frivolen, ja, ich möchte sagen, Unheiligen nahe genug streiften, um mich, ich darf wohl sagen – recht schmerzlich zu berühren. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß auch ein späterhin trefflicher Wein in der Zeit der Gärung unschmackhaft und trübe ist, und vertraue der Allgüte dessen, der aus dem Saulus einen Paulus machte.«

»Das ist sehr schön und christlich«, sagte die Baronin, »beruhigt mich aber keineswegs. Wenn die Seele meines Kindes einmal vergiftet ist, kann es mir gleichgültig sein, ob der Vergifter später seinen Frevel bereut; und ich gestehe: nach den Ereignissen des gestrigen Tages hat sich der Verdacht, den ich, ohne Übertreibung von dem ersten Augenblicke an gegen Stein nährte, fast bis zur Gewißheit gesteigert.«

»Ist etwas Besonderes vorgefallen, Gnädigste?« fragte der Pastor, mit seinem Stuhle einen halben Zoll näher rückend.

»Ich spreche nicht gern darüber«, antwortete die Baronin, »und wenn ich es doch tue, so ist es, weil ich Sie als einen langjährigen Freund unseres Hauses kenne, und zu Ihrer Diskretion –«

»Meine Pflicht und Schuldigkeit, Gnädigste«, rief der Pastor, die Hand aufs Herz legend und den Rücken krümmend.

»Sie kennen den Baron Oldenburg«, fuhr die Baronin fort.

»Nicht persönlich, Gnädigste, nur nach dem, was ich in vertraulichen Unterredungen der gnädigen Herrschaften, denen ich beiwohnen zu dürfen gewürdigt wurde, über den Herrn Baron zu hören nicht umhin konnte.«

»Sie wissen also, in welchem Ruf – Gott sei es geklagt – der Baron steht; Sie wissen, daß wir den Kummer haben, sehen zu müssen, wie der letzte Sproß einer unserer ältesten, berühmtesten Familien mit sehenden Augen – denn der Baron ist ein außerordentlich begabter Mann – ins Verderben rennt.«

»Aber, liebe Anna-Maria«, sagte der Baron, der in seinem Stuhle hin und her rückte, »ich dächte, der Gegenstand dieses Gespräches eignete sich nicht besonders –«

»Ich kenne die Rücksichten, die ich unserm Stande schuldig bin«, sagte die Baronin, »und werde sie zu beobachten wissen. Der Abfall des Barons von dem Glauben seiner Väter ist leider zu notorisch, als daß ich einem Freunde des Adels (der Pastor krümmte den Rücken), einem Freunde unseres Hauses (Se. Ehrwürden legte die Hand aufs Herz) gegenüber mit dem schmerzlichen Geständnis der Wahrheit zurückhalten sollte. – Sie wissen, Pastor Jäger, daß der Baron unsere Gesellschaft flieht, um die von allerlei sonderbaren Menschen, denen man sonst geflissentlich ausweicht, mit Vorliebe aufzusuchen, daß er die gottlose Phrase von den sogenannten Rittern vom Geist beständig im Munde führt, und daß von ihm ausgezeichnet zu werden namentlich, wenn diese Auszeichnung jemanden trifft, dessen gesellschaftliche Stellung so himmelweit von der seinigen verschieden ist – beinahe so viel heißt, als ein verlorener Mensch sein. Nun hat der Baron gestern abend Herrn Stein in einer ganz auffallenden, um nicht zu sagen, anstößigen Weise ausgezeichnet; er hat nicht nur sein möglichstes getan, ihn bei der Gesellschaft zu introduzieren, sondern ihn vollkommen wie seines-, wie unsersgleichen behandelt, und um diesem Benehmen, für das ich keinen Ausdruck suchen will, die Krone aufzusetzen, ihn, als der Wagen von Grenwitz, der Herrn Stein von Barnewitz abholen sollte – wir waren schon vor dem Souper aufgebrochen – nicht gleich zur Stelle war, in seinem eigenen Wagen bis vor unser Hoftor mitgenommen, das heißt, ihm zu Gefallen einen Umweg von fast einer Meile gemacht.«

»Aber, liebe Anna-Maria, das würde auch jeder andere –«

»Verzeihe, lieber Grenwitz, das würde nicht jeder andere getan haben, und vor allem würde es der Baron, dessen schroffes, ungefälliges Wesen selbst den Standesgenossen gegenüber sprichwörtlich ist, nicht getan haben, wenn er nicht in Herrn Stein auch so einen Ritter vom Geist gefunden zu haben glaubte, das heißt, einen Gesinnungsgenossen, einen Freidenker und Freiheitshelden, enfin einen unmoralischen Menschen, um das Wort zu wiederholen, das vorhin deinen Unwillen erregte, lieber Grenwitz, und von dem du mir jetzt zugeben wirst, daß es leider das passende ist.«

Die Baronin schwieg, in dem wohltuenden Bewußtsein, ihre Ansicht siegreich verfochten zu haben; der Pastor schwieg, die edle Gönnerin in diesem Genusse nicht zu stören und der Baron schwieg, weil er schlechterdings nichts zu sagen wußte. In dieses dreifache Schweigen hinein ertönte vom Hausflur her, auf welchen die Tür des Zimmers führte, das Miauen einer Katze, dem sofort das laute zornige Kläffen eines Hundes folgte. Diese Töne waren im Schlosse Grenwitz, wo weder Hunde noch Katzen geduldet wurden, etwas so Unerhörtes, daß die im Zimmer Befindlichen sich erstaunt ansahen. »Was bedeutet denn das?« sagte der Baron aufstehend und die Tür öffnend.

»Ah, sieh da, Herr Baron!« ertönte eine helle, klare Stimme.

»Es ist Herr Timm!« sagte dieser zu den im Zimmer Befindlichen zurückgewandt, und dann zu dem draußen:

»Wollen Sie nicht näher treten, Herr Geometer?«


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