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Sechzehntes Kapitel

»Gott zum Gruß, lieber Herr Kollege! Viele Empfehlungen von Frau von Berkow, und hier schickt sie Ihnen den Bemperlein und den Julius zur gefälligen Ansicht, aufgeschnittene Exemplare werden nicht zurückgenommen.«

So sprach lächelnd ein kleiner, blasser, schwarzhaariger, Brille tragender, etwas unmodisch, aber sehr sauber und nett gekleideter Herr von etwa dreißig Jahren, der am Nachmittag desselben Tages, einen Knaben an der Hand führend, in Oswalds Zimmer trat.

»Seien Sie bestens willkommen!« sprach dieser, sich hastig aus der Sofaecke erhebend, in der er, in Sinnen und Brüten versunken, gesessen hatte, und reichte dem Eintretenden nicht ohne einige Verwirrung die Hand. Mit unendlichem Interesse blieb sein Blick auf dem Knaben haften, dem Sohn der Frau, die er liebte. Julius von Berkow war eine reizende Erscheinung. Die Bluse von dunkelgrünem Sammet, die er mit einem breiten Riemen um den schlanken Leib gegürtet trug, gab ihm das Aussehen eines allerliebsten kleinen Pagen. Dunkle Locken wallten in weichen Ringeln von dem edelgeformten Kopfe, sein Gesicht war mädchenhaft schön und zart, und Oswald zuckte zusammen, als er die warme, weiche Hand des Knaben für einen Augenblick in der seinen hielt und in die großen lichtbraunen, träumerischen Augen schaute. Es war ihm, als hätte er Melittas Hand berührt, als hätte er in Melittas Augen geschaut.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Bemperlein«, sagte er, seine Verwirrung bemeisternd, »daß Sie noch die Zeit gefunden haben, herüberzukommen. Aufrichtig, ich habe Sie heute halb und halb erwartet, um so mehr, als Bruno es für eine Unmöglichkeit hielt, Julius könne abreisen, ohne vorher von ihm förmlichen Abschied genommen zu haben.«

Da sprang die Tür auf und herein stürzte Bruno, ein mächtiges Butterbrot in der Hand. »Hurrah, Julius, Zuckerpuppe!« schrie er. »Dein Glück, daß du gekommen bist! Ich wäre dir sonst nach Grünwald nachgelaufen, dich auf offener Straße durchzuprügeln. Hier, beiß ab! Das letzte Butterbrot, das wir für lange Zeit miteinander teilen! Und nun komm! Wir wollen noch einmal durch den Garten in den Wald laufen. Sie bleiben doch zu Abend hier, Herr Bemperlein?«

»Non, Monseigneur«, erwiderte dieser, der sich auf einen Stuhl gesetzt hatte und sich den Schweiß von der Stirn trocknete »unsere Augenblicke sind gezählt. Sie würden mich verbinden, wenn Sie Ihre Exkursion nicht über den Garten ausdehnten und vor allem, wenn Sie Julius nicht wieder in den Graben würfen wie das letzte Mal.«

»Julius, habe ich dich in den Graben geworfen?«

»Nein, aber herausgezogen, nachdem ich hineingefallen war.«

»Nun, so komm, mein Zuckerpüppchen!« rief Bruno, hob den schmächtigen Knaben empor und trug ihn zur Stube hinaus.

»Ist das ein Junge!« sagte Herr Bemperlein, »Herr meines Lebens, ist das ein Junge! Wahrlich, Herr Kollega, ich bewundere Sie.«

»Weshalb?«

»Weil ich Sie in einen leichten Sommerrock gekleidet sehe und nicht umhüllt mit dreifachem Erz, wie der erste Schiffer des Horaz, und wie, meiner Meinung nach, der Mann gepanzert sein muß, der es mit solch einem Seeungeheuer, so einem Haifisch, so einem stachligen Rochen – ich meine Bruno – zu tun hat.«

»Um Himmels willen, Herr Bemperlein, sagen Sie mir nicht, wenn wir Freunde werden wollen, daß Sie Bruno nicht leiden können.«

»Ich ihn nicht leiden können! Ich liebe ihn wie einen Sturm auf der See, den ich vom Ufer aus beobachten kann, wie ein wildes Pferd, das mit einem andern durchgeht, wie ein Gewitter, das eine Meile von mir einschlägt. – Apropos! Das war gestern ein entsetzliches Gewitter. Wir sind erst um elf Uhr nach Hause gekommen. Frau von Berkow sagte mir, Sie seien vollständig eingeregnet gewesen in dem Waldhäuschen.«

»Wollen Sie in der Tat schon morgen abreisen?« sagte Oswald, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Ob ich will?« sagte Herr Bemperlein in weinerlichem Tone. »Ob ich will? Durchaus nicht, Wertgeschätzter; aber muß! Das ist es ja eben. Ach, wenn ich könnte, wie ich wollte, ich ginge im Leben nicht weg von Berkow; und auch im Tode nicht, denn ich würde mir als letzte Gunst erbitten, dort begraben werden zu dürfen. – Und wie es mit mir werden soll, wenn ich nun doch weggehe, daran, lieber Kollege, mag ich gar nicht denken. Leben Sie einmal wie ich sieben Jahre an einem und demselben Ort, und lassen Sie diesen Ort Berkow sein, und wachsen Sie fest an diesem Ort mit allen Wurzeln Ihres Wesens, daß Sie jeden Spatz, der über Ihrem Fenster nistet, persönlich kennen, und mit jedem Pferde in dem Stalle auf du und du stehen; und dann versuchen Sie, sich loszureißen – und Sie werden empfinden, wie weh das tut.« Der gute Mann griff wieder nach seinem Taschentuche und fuhr sich unter dem Vorwande, den Schweiß von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paarmal über die nassen Augen. »Ich begreife das vollkommen«, sagte Oswald mit ungeheuchelter Teilnahme.

»Sie können das nicht begreifen, lieber Kollega! Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr angefangen, mir einen Efeu in meinem Fenster zu ziehen, und mich den ganzen Sommer und Winter darauf gefreut, wie hübsch es in diesem Herbst sich ausnehmen würde, wenn das Fenster von unten bis oben berankt wäre und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und mein Laubfrosch, uns hinter den breiten Blättern verstecken könnten – denn Sie glauben nicht, wie breite Blätter ich gezogen habe – so groß, wie Weinblätter – und in diesem Herbst wird mein Fenster mit grünen Ranken ganz vergittert sein; aber meine Stube wird leerstehen, und die Sonnenstrahlen werden durch die Blätter schimmern und die Regentropfen daran herunterrinnen, und keine Menschen- und keine Tierseele wird sich darüber freuen.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen das nachfühlen«, sagte Oswald.

»Unmöglich, lieber Kollega, unmöglich!« seufzte der andere. »Ich sage Ihnen, so ein Fenster gibt es auf der weiten Welt nicht mehr. – In der tiefen Nische steht ein Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen, den mir Frau von Berkow vor zwei Jahren zu meinem Geburtstage geschenkt hat; – eine Schlummerwalze, die sie mir zu meinem letzten Geburtstage selbst gehäkelt hat, hängt an der Lehne – na, das läßt sich eben nicht beschreiben. Aber da so zu sitzen an einem Sommerabend, wenn die Stimmen von Frau von Berkow und Julius aus dem Garten zu mir herauftönen und der Rauch meiner Zigarre in blauen Streifen durch die Blätter hinauszieht –«

Bei diesen Worten blies Herr Bemperlein zwei mächtige Rauchwolken aus seiner Zigarre durch das geöffnete Fenster, an dem er saß, und schüttelte wehmütig den Kopf, als wollte er sagen: Das bringt hier nicht die mindeste Wirkung hervor; das sollten Sie einmal von meinem Lehnstuhle aus sehen.

»Ja, ja, –« schaltete Oswald ein.

»Nein, lieber Kollega, Sie können sich unmöglich in meine Stimmung versetzen. Sie wissen nicht, welch ein liebenswürdiger Knabe Julius ist. Sieben Jahre bin ich nun bei ihm, aber wenn er mir in allen diesen Jahren auch nur eine böse Stunde, ja nur Minute gemacht hat, so will ich nicht Anastasius Bemperlein heißen. Und nun die Frau von Berkow – Sie kennen sie nicht, lieber Kollega –«

Oswald wandte sich ab, denn er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß –

»Sie haben keine Ahnung, welch ein Engel von Güte diese Frau ist. Was verdanke ich ihr nicht! Bevor ich nach Berkow kam, wußte ich von Luft und Sonnenschein und allem Schönen auf der Welt gerade soviel wie ein Maulwurf – ich war ein richtiger Bär, ein vollständiges Nilpferd, und daß ich jetzt einigermaßen einem Menschen ähnlich sehe, verdanke ich nur ihr. Und wie hat sie sich meiner in jeder andern Beziehung angenommen! Einmal, erinnere ich mich, lag ich viele Wochen lang am Typhus danieder. Die ersten Wesen, die ich deutlich erkannte, als ich aus meinem Torpor erwachte, waren die gnädige Frau und der alte Baumann. Es war ein Sommernachmittag wie heute. Meine Bettvorhänge waren halb zugezogen, Baumann und die gnädige Frau standen ein paar Schritte entfernt am Tisch. ›Wenn ich nicht selbst krank werden will, so muß ich heute nachmittag eine halbe Stunde spazierenreiten, Baumann‹, sagte Frau von Berkow, ›daß Er mir den Bemperlein unterdessen nicht sterben läßt.‹ ›Zu Befehl‹, sagte der alte Baumann. Aber damit Sie nicht etwa glauben, lieber Herr Kollega, daß ich in dieser Behandlung von seiten der gnädigen Frau eine Bevorzugung erblicke, die meinen ganz besonderen Verdiensten zuteil würde, so setze ich hinzu, daß ich Frau von Berkow dieselbe Huld und Gnade an viele andere, zum Teil ganz gleichgültige Personen habe verschwenden sehen, so daß ich wahrlich glaube, das Herz dieser Frau ist aus durchaus edlerem Stoffe, als sonst die Menschenherzen sind, und daß sie Gutes tun und andere beglücken muß, gerade wie ein Kanarienvogel singt und ein Eichhörnchen springt, weil's eben so ihre schöne Natur ist, und sie nicht anders kann. Verzeihen Sie, lieber Kollega, daß ich mit diesen Dingen, die Sie nicht interessieren und nicht interessieren können, Ihre Zeit in Anspruch nehme, aber mein Herz ist wirklich zu voll, als daß es nicht überfließen sollte, und ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie mich deshalb nicht für einen sentimentalen Gesellen halten werden.«

»Ich kann Sie nur versichern, daß Sie Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen schenken, Herr Bemperlein, auch wenn Sie mir nicht erlauben, mit Ihnen zu sympathisieren.«

»Ich Ihnen das nicht erlauben? Es ist mein innigster Wunsch, daß Sie das vermöchten, um so mehr, als ich, offen gestanden, hauptsächlich in der ganz egoistischen Absicht herübergekommen bin, Sie in einer für mich hochwichtigen Angelegenheit um Rat zu fragen.«

»Mich?«

»Ja, Sie! Ich will Ihnen auch ganz offen sagen, wie Sie dazu kommen, bei mir die Stelle des weisen Einsiedlers im Walde einzunehmen, zu dem sich die vom Zweifel geplagte Kreatur flüchtet. Sie sind zu diesem verantwortlichen Amte durch eine Stimme erhoben, gegen die für mich kein Appell existiert; ich meine durch die Stimme der Frau von Berkow. Ich versuchte ihr heute morgen auseinanderzusetzen, was ich Ihnen alsbald mit Ihrer gütigen Erlaubnis mitteilen will; sie hörte mich mit himmlischer Geduld von Anfang bis zu Ende an und sagte dann, ihre Hand für einen Augenblick auf die meinige legend: ›Lieber Bemperlein‹, sagte sie, ›wollen Sie meinen Rat hören?‹ ›Natürlich, gnädige Frau!‹ sagte ich. ›Nun denn‹, sagte sie, ›lieber Bemperlein, gehen Sie hinüber nach Grenwitz, bringen Sie Herrn Doktor Stein eine Empfehlung von mir, und erzählen Sie ihm ganz ausführlich, was Sie mir eben gesagt haben; und was er Ihnen dann antwortet, das nehmen Sie als meine Antwort.‹«

Auf Oswalds Lippen schwebte ein stolzes Lächeln. Er sah in dieser Demut Melittas eine ihm dargebrachte Huldigung; er fühlte, daß sie ihrer Liebe keinen reineren Ausdruck geben konnte als durch dieses Geständnis, wie fortan ihre Existenz in der ihres Geliebten aufgehe.

»Wie Sie sich aus dieser Verlegenheit ziehen werden«, fuhr Herr Bemperlein fort, »ist Ihre Sache: Die Rolle des Vertrauten ist Ihnen einmal zugeteilt, und Sie müssen sie herunterspielen, so gut Sie können. Die Sache ist nämlich einfach die, oder vielmehr gar nicht einfach, sondern sehr komplizierter Weise, auf alle Fälle indessen ist die Sache die: Ich bin nämlich – ich habe nämlich – aber hier kann ich Ihnen das nicht erzählen, ich muß dazu den Himmel über mir haben, denn unter dem blauen Himmel sind mir die Gedanken gekommen, die eine solche Revolution in meinem Innern hervorbrachten. Sie täten mir also einen Gefallen, Herr Kollega, wenn Sie mir nach Berkow das Geleit geben wollten. Unterwegs lege ich Ihnen meine Beichte ab. Jetzt will ich gehen, Julius zu rufen und mich bei den Herrschaften zu empfehlen. Machen Sie sich unterdessen zurecht; aber lassen Sie mich um Himmels willen nicht lange warten. Zehn Minuten reichen vollkommen zu, und länger halte ich auch ein tête-à-tête mit Ihrer Baronin nicht aus. Also au revoir in zehn Minuten, es schadet nichts, wenn es auch nur neun sind.«

Als Oswald nach unten kam, komplimentierte sich gerade Herr Bemperlein vor dem alten Baron zur Tür der Wohnstube hinaus.

»Keinen Schritt weiter, Herr Baron! Uff! – Nun lassen Sie uns machen, daß wir wegkommen, Herr Kollega. Wo ist mein Julius?«

Auf dem Hofe fanden sie die Knaben. Bruno saß auf dem Rand des Brunnens der kopflosen Najade und schlichtete Julius, der zwischen seinen Knien stand, das lange lockige Haar.

»Wie willst du denn ohne den Pony fertig werden, Julius?«

»Ja, ich will sehen, vielleicht lasse ich mir ihn nachschicken.«

»Du Glücklicher, ich glaube, du läßt dir auch deine Mama und Herrn Bemperlein nachschicken, wenn's ohne sie nicht geht. – Ich wollte, ich könnte mit dir nach Grünwald und sähe dies verdammte Nest im Leben nicht wieder.«

»Mama sagte mir, du hättest Herrn Stein so lieb, ist das wahr?«

»Ich ihn lieb?« sagte Bruno, den Kopf trotzig in die Höhe werfend. »Weshalb sollte ich ihn liebhaben? Er ist mir ganz gleichgültig. Er bekümmert sich viel um mich! Er! Gestern ist er den ganzen Tag ohne mich umhergelaufen, und heute hat er mich noch keines Blickes gewürdigt – Er ist mir ganz gleichgültig!« – Und damit verbarg er sein Gesicht in Julius Locken und schluchzte.

»Was ist dir, Bruno?«

»Mir? Nichts! Was sollte mir sein!«

»Bruno, ich begleite Herrn Bemperlein!« rief Oswald herüber.

»Herr Doktor, ich begleite Julius!« rief Bruno zurück.

»Wo ist Malte?«

»Soll ich Maltes Hüter sein?«

»Malte ist auf dem Zimmer des Barons«, sagte Herr Bemperlein, »er ist von der Fahrt sehr angegriffen; die Baronin meint, er fiebere etwas, und der Baron hat ihm auf dem Sofa ein Lager zurechtgemacht wie einer jungen Katze. Welchen Weg nehmen wir?«

»Ich denke, wir gehen durch den Wald«, sagte Oswald.

Sie gingen über die Zugbrücke, die seit zwei Jahrhunderten nicht mehr aufgezogen werden konnte, durch die Lindenallee in den Wald, Herr Bemperlein und Oswald voran, Bruno und Julius folgten in einiger Entfernung. Bruno hatte den Arm um Julius' Nacken geschlungen, er hatte heute oder wollte heute für nichts Interesse haben als für seinen Freund, den er immer sehr geliebt und auf dessen braune Augen er mehr als ein Gedicht gemacht hatte, und den er jetzt in der Trennungsstunde mit stürmischen Zärtlichkeiten überhäufte.

»Du wirst fortreisen, Julius«, klagte er, »und wenn du drei Tage fort bist, wirst du mich vergessen haben.«

»Ich werde dich nie vergessen, Bruno.«

»So? Weißt du das gewiß? Da hast du ein besseres Gedächtnis als Oswald – ich meine Herrn Doktor Stein. Der hat mir auch gesagt, daß er mich lieb habe wie einen Bruder, und seit vorgestern abend weiß er nicht mehr, daß ich auf der Welt bin. Jetzt erzählt er wahrscheinlich Herrn Bemperlein, daß er ihn wie seinen Bruder liebt; sieh nur, wie er ihm vertraulich den Arm gibt! Nach mir sieht er sich nicht einmal um. Oh, ich hasse ihn, ich hasse alle, alle – nur dich nicht, Julius!«

Während so der unglückliche Knabe seine Liebe und seinen Kummer in den Busen seines Freundes schüttete und wohl fühlte, daß auch er ihn nicht verstehe und daß er allein, ganz allein sei auf dieser für ihn so freudelosen Erde, sprach Herr Bemperlein also zu Oswald:


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