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Achtundvierzigstes Kapitel

Als Oswald, nach der peinlichen Szene mit Emilie von Breesen auf sein Zimmer kam – denn zur Gesellschaft zurückzukehren, war ihm unmöglich –, sah er auf seinem Tische ein versiegeltes Paket liegen, das während seiner Abwesenheit dort hingelegt sein mußte. Schon der Zusatz der Adresse: »Hierbei die bewußten Bücher mit vielem Dank zurück. Ihr getreuer B.« sagte ihm, von wem dieses Paket gebracht worden war, und was es enthielt. Und seltsam! Er zögerte, die Siegel zu lösen. Es war ihm, als ob er kein Recht mehr zu Melittas Briefen habe, seitdem sein Herz ihr nicht mehr ganz gehörte; als ob vor allem sie, deren Herz er nie vollständig besessen, nie das Recht gehabt, ihm diese Zeichen der Liebe zu geben. Endlich, fast mechanisch, öffnete er das Paket. Es waren drei Bücher darin. Aus dem mittleren fielen zwei Briefe – der eine von Melitta, der andere von Bemperlein. Melittas Brief enthielt nur wenige herzliche Worte, die »über die lange Trennung klagten, in der sich mit dem weiten Raum auch noch so vieles andere zwischen die Herzen, die einst voller Seligkeit aneinandergeschlagen, drängen könnte«; und schließlich die Hoffnung eines recht baldigen Wiedersehens ausdrückten. Der Brief trug keine Unterschrift. »Er könnte ja in fremde Hände fallen«, sagte Oswald bitter. »Ich will noch großmütiger sein, ich will diesen Zeugen eines Verhältnisses, dessen sie sich zu schämen beginnt, vernichten«, und er verbrannte das Papier an der Flamme des Lichtes. Der Brief von Bemperlein war ausführlicher, aber er handelte fast nur von Professor Berger. Bemperlein war während seines kurzen Aufenthaltes in Grünwald sehr viel in der Gesellschaft des Professors gewesen, an den ihn Oswald so warm empfohlen hatte, und hatte sich die Gunst des wunderlichen Mannes im hohen Grade erworben, ebenso wie er sich seinerseits für den genialen Gelehrten begeisterte. Man kann sich daher sein Entsetzen vorstellen, als Doktor Birkenhain ihm eines Tages mitteilte, soeben sei der Professor Berger in das Krankenhaus abgeliefert worden. Bemperlein schrieb Oswald, daß er sogleich um die Erlaubnis gebeten habe, Berger besuchen zu dürfen; daß ihm diese Erlaubnis gegeben sei, und daß er seitdem jeden Tag viele Stunden bei dem Kranken zugebracht habe, der seine Gesellschaft jeder andern vorziehe. Berger spreche größtenteils vollkommen vernünftig, nur komme er bei der geringsten Veranlassung auf seine fixe Idee des Nichts zurück. Er finde es ganz in der Ordnung, daß man ihn in eine Irrenanstalt gebracht habe, denn, sagte er, der Unterschied zwischen den Leuten draußen und denen drinnen bestehe nur darin, daß jene das werden könnten und eigentlich werden müßten, was diese schon seien. Wenn zum Beispiel Doktor Birkenhain nur einmal seinen Kopf auseinandernehmen wollte, so würde er dessen absolute Hohlheit mit eigenen Augen wahrnehmen und sich in seinem Hause ein behagliches, sonniges Zimmer anweisen lassen, um in aller Stille über das Ur-Nichts nachzudenken. Bemperlein schrieb, daß Doktor Birkenhain Bergers Wahnsinn nur für temporär halte und die bestimmte Hoffnung habe, den ausgezeichneten Mann in kurzer Zeit seinen Freunden und Schülern geheilt zurückzusenden.

»Was uns selbst angeht«, schloß Bemperlein, »so wird Ihnen die gnädige Frau ja wohl alles der Ordnung gemäß berichtet haben. Ich füge nur noch hinzu, daß unsers Verbleibens hier, Gott sei Dank, nun wohl nicht mehr lange sein wird. Herr von Berkow wird täglich schwächer; die Schwindsucht macht reißende Fortschritte. Birkenhain gibt ihm nur wenige Tage. Wir bleiben auf jeden Fall, bis alles entschieden ist. Ich sehe diesem Augenblick mit einer Ungeduld entgegen, die ganz rein von Selbstsucht ist. Aus dem Tode dieses Unglücklichen, der nun seit Jahren kaum noch zu den Lebenden gehört, wird für zwei Menschen ein neues Leben erblühen – zwei Menschen, die mir unendlich wert und teuer sind.«

»Wirklich?« sagte Oswald, den Brief auf den Schoß sinken lassend. »Bist du dessen so gewiß, guter Bemperlein? Freilich, was ahnt dein reines Herz von adeligem Betrug und freiherrlicher Tücke?

Und doch! Weshalb erwähnt auch er Oldenburgs Anwesenheit nicht? Was hat er davon, ein Faktum zu verschweigen, von dem er wissen mußte, daß es mich interessieren würde? So ist auch er in dem Komplott? Wohl; so wirst du fortan dich auf niemand verlassen als auf dich selbst! Unter den Wölfen muß man heulen, und der ist ein Narr, der unter Betrügern und Lügnern den ehrlichen Mann spielen will. Heuchelt ihr – ich kann es auch; spielt ihr Komödie – ich will nicht im Parterre sitzen; lacht ihr euch ins Fäustchen – ich werde nicht weinen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

»Ich freue mich, Sie in so ausgezeichneter Laune zu treffen«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Oswald fuhr von seinem Stuhle empor und starrte die lange Gestalt, die plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihm stand, erschrocken an.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Baron Oldenburg, Oswald die Hand, welche dieser zögernd ergriff, entgegenstreckend, »daß ich wie Nikodemus in der Nacht bei Ihnen erscheine. Aber ich komme diesen Augenblick erst von meiner Reise zurück und hörte von einem Bedienten, der mit einem Präsentierbrett voll Gläser und Tassen an mir vorbeirannte, Sie seien auf Ihr Zimmer gegangen. Der Mann hatte eben nur noch Zeit, mir den Weg zu beschreiben, und klapperte mit seinen Gläsern weiter. Da bin ich denn nun, und, wie gesagt, freue mich, Sie in guter Stimmung zu finden, denn sonst hätte ich kaum den Mut, Ihnen zu sagen, weshalb ich da bin. Wissen Sie, wo wir heute nacht vor einem Monat waren? Es ist die Nacht, welche uns die braune Gräfin zum Rendezvous bestimmte. Nehmen Sie noch so viel Interesse an mir und unserer kleinen Pflegebefohlenen, um mich zu dem bewußten Platze zu begleiten?«

»Ich stehe in wenigen Minuten zu Ihrer Verfügung«, sage Oswald; »erlauben Sie nur, daß ich mich zu unserer Fahrt zurechtmache.« Er nahm eins der beiden Lichter, die auf dem Tische brannten und ging in die Nebenstube.

»Ziehen Sie sich ja warm an«, rief ihm Oldenburg nach, »es ist jetzt sehr kühl gegen Morgen, noch dazu im Walde.«

»Hm!« murmelte er, als Oswald verschwunden war, »er sieht bleich und angegriffen aus und war weniger freundlich, als seine Gewohnheit ist. Er wird doch nichts von meinem Aufenthalte in Fichtenau, den ich ihm so sorgfältig verheimlichte, erfahren haben? Ich muß ihn ein wenig aushorchen. Es wäre fatal, denn ich spreche mit niemand gern über mein Verhältnis zu Melitta, mit ihm am wenigsten.«

Unterdessen sagte Oswald, während er sich umzog, vor sich hin: »Jetzt gilt es klug sein wie die Schlange. Spielt Ihr mit mir, so will ich mit Euch spielen.«

Er trat wieder ins Zimmer. »Ich bin bereit.«

»So wollen wir aufbrechen. Mein Wagen hält vor dem Tor«, sagte der Baron, während sie die Treppe, die nach dem Garten führte, hinunterstiegen, »die Czika sitzt, in meinen Mantel gehüllt, darin. Meinen Sie nicht auch, daß es geraten ist, das Kind zu der Zusammenkunft mitzunehmen? Wenn die Zigeunerin wirklich des Kindes Mutter ist, so sind wir ihr wohl diese Aufmerksamkeit schuldig. In jedem Fall kann sie sich überzeugen, daß das Kind lebt und gesund ist und sich in seinen neuen Verhältnissen wohl befindet. – Aber was bedeutet denn dies rege Leben im Schloß? Anna-Maria ist doch sonst keine Freundin von Festgelagen. Ist Malte vielleicht fortgelaufen gewesen und wieder zurückgekehrt und wird dem Kalbe jetzt ein Kalb geschlachtet?«

»Es handelt sich nicht um einen verlorenen Sohn, sondern um eine wiedergefundene Tochter«, sagte Oswald, sich zu einem scherzhaften Tone zwingend, »Fräulein Helene ist aus der Pension zurück. Seitdem reiht sich Fest an Fest.«

»Tempora mutantur«, sagte Oldenburg, »das muß ja eine Circe von Mädchen sein, die solche Metamorphosen zuwege bringen kann. Ist sie schön?«

»Mir erscheint sie so.«

»Lassen Sie uns einmal an das Fenster treten«, sagte Oldenburg, als sie im Garten über den Rasenplatz gingen, »ich bin unendlich neugierig, dies Wunder zu sehen. Es wird uns ja niemand bemerken.«

Er schritt nach der Treppe, die auf den Perron hinaufführte. Oswald folgte. Die Türe war jetzt, wo es draußen kühler wurde, geschlossen, auch die Fenster; aber die Vorhänge waren nicht heruntergelassen; man konnte von diesem Standpunkte aus alles beobachten, was in den blendend hell erleuchteten Zimmern vorging.

Als sie an das Fenster traten, saß ihnen gerade gegenüber Helene am Klavier, Felix stand hinter ihrem Stuhl. Er beugte sich über sie und schien eifrig mit ihr zu sprechen. Oldenburgs falkenscharfes Auge hatte sogleich die Gruppe erfaßt:

»Wer ist der junge Mann?« fragte er.

Oswald antwortete nicht; die Unterlippe zwischen die Zähne gepreßt, die starren Augen nicht von den beiden am Klavier wegwendend, stand er da. Felix beugte sich noch tiefer; Oswald preßte die Lippe, daß das Blut durch die Haut sprang. Da erhob sich Helene plötzlich und schritt durch die Gruppen der Tänzer hindurch, die durch das Aufhören der Musik wie am Boden gefesselt waren, oder lachend weiterzutanzen versuchten, gerade auf das Fenster zu, vor welchem Oldenburg und Oswald sich befanden, die ein paar Schritte zurück in den Schatten traten. Sie blieb, in der Fensternische angelangt, stehen, die Arme über dem Busen verschränkt, die großen, dunklen Augen auf den Mond gerichtet, dessen goldene Scheibe draußen in dem tiefblauen nächtlichen Himmel schwamm. Ihr von der Aufregung der eben mit Felix gehabten Szene noch leidenschaftlich erregtes, in dem Strahl des Mondes geisterhaft bleiches, von dem herrlichen blauschwarzen Haare eingerahmtes Gesicht gemahnte den Baron an die schönste der antiken Medusen. Ein Herr – es war Adolf von Breesen – trat an sie heran und sprach zu ihr. Sie antwortete ihm kurz, ohne die Stellung zu verändern, ohne kaum die Lippen zu regen. Er verbeugte sich und trat zurück. – Dann, als ob sie sich eines andern besonnen hätte, wandte sie sich und schritt wieder zum Klavier zurück, setzte sich und begann von neuem zu spielen. Wie von einem Zauberstabe berührt, kamen die Paare der Tanzenden wieder in Bewegung – und das bunte Bild, das Oldenburg und Oswald zuerst erblickt hatten, war wiederhergestellt.

»Wer war der Fant, der dieses Intermezzo veranlaßte?« fragte Oldenburg, als sie wieder in den Garten hinabgingen.

»Felix von Grenwitz, ihr Cousin.«

»Ein allerliebstes Püppchen; und die junge Schönheit soll die Puppe zum Gemahl haben; nicht?«

»Ich glaube.«

»Und wie erscheint Ihnen das?«

»Wie die Welt dem Hamlet: ekel, schal und flach und unersprießlich.«

»Meine böse Ahnung geht in Erfüllung«, murmelte Oldenburg durch die Zähne.

»Sie sagten?«

»Ich dachte eben daran, ob Karl wohl den Wagen in die Höhe geschlagen hat, damit meine kleine Czika nicht ganz unter freiem Himmel sitzt. Freilich, ihr wäre es am liebsten, wenn sie nie eine andere Decke über sich hätte. Auf unsrer Reise jubelte sie jedesmal, sooft wir in die Nacht hineinfuhren und sie die vielgeliebten Sterne über sich leuchten sah.«

»Und – darf man fragen, was Sie so plötzlich aus unserer Nähe riß?« fragte Oswald und seine Stimme bebte.

»Eine Angelegenheit, die eigentlich nur indirekt für mich von Bedeutung ist. Die Krankheit eines Mannes, dessen Tod auf das Geschick einiger Personen, die mir wert sind, von großem Einfluß sein kann.«

Der Baron wartete, ob Oswald etwas erwidern würde.

»Ich war eitel genug, zu glauben, daß meine Abreise eine Sensation in der Gesellschaft hier erregen würde«, fügte er hinzu, als Oswald schwieg, »dies scheint indessen nicht der Fall gewesen zu sein.«

»Man ist seit so langen Jahren gewohnt, Sie unvorbereitet kommen und gehen zu sehen, daß man sich nachgerade daran gewöhnt hat«, sagte Oswald, »doch da hält Ihr Wagen, glaube ich.«

»Wo ist Czika, Karl?« fragte der Baron.

»Sie liegt im Wagen fest eingeschlafen«, antwortete der Kutscher, der vom Bocke gestiegen war, den Tritt herabzulassen, »ich habe sie sorgfältig zugedeckt.«

»Wir wollen sie zwischen uns nehmen, wie damals, als wir von Barnewitz kommend, sie auf der Landstraße fanden.«

Der Baron war schon im Wagen.

»Bist du es, Herr?« fragte das Kind, aus dem Schlaf erwachend,

»Ja, mein Herz.«

»Wer ist der Mann bei dir?«

»Dein Freund, der Mann mit den blauen Augen.«

»Er soll bei uns bleiben«. murmelte Czika schlaftrunken, sich an Oswald, der nun auch eingestiegen war, schmiegend. »Czika ist müde; Czika will in deinen Armen schlafen.«

»Ich glaube«, sagte der Baron, als sich der Wagen in Bewegung setzte, »Sie haben einen unauslöschlich tiefen Eindruck auf Czika gemacht. Sie spricht sehr oft von Ihnen und fragt, warum der Mann mit den blauen Augen – so bezeichnet sie Sie stets – nicht wiederkommt? Es ist doch ein wunderlich Ding, das Menschenherz; ein unergründliches Rätsel, zu dem der Weiseste der Weisen keinen Schlüssel hat. Wer erklärt uns das Wunder der Sympathien und Antipathien? Welche Mühe habe ich mir gegeben, das Herz dieses Kindes mir zu eigen zu machen! Ich möchte so gern etwas auf der Welt mein eigen nennen! Und ist es mir gelungen? Ich weiß es nicht. Sie folgt mir, aber nur wie ein Kind, dem die Mutter gesagt hat: Geh mit dem Herrn und sei hübsch artig! Ich bin ihr heute noch, was ich ihr am ersten Tage war. Ich habe sie mit der zärtlichsten Sorge umgeben. Sie nimmt alles hin, wie eine Gabe, die man nicht ausschlägt, um den Geber nicht zu beleidigen.«

»Aber machen es nicht alle Kinder mehr oder weniger so?« erwiderte Oswald. »Ist es nicht ihr gutes Recht, sich lieben zu lassen, ohne weiter dankbar dafür zu sein? Und dann, was ist am Ende eine Liebe, die auf Dank rechnet? Heißt es nicht auch hier: Wer Lohn begehrt, der hat seinen Lohn dahin?«

»Mögen Sie das nie an sich selbst erfahren!« sagte der Baron mit bewegter Stimme. »Und mögen es andere nie durch Sie erfahren. Wüßten Sie, was hoffnungslose Liebe ist, wüßten Sie auf der anderen Seite, was es heißt: Das Gefühl mit sich herumtragen, Liebe, warme aufrichtige Liebe mit Kälte, mit Gleichgültigkeit erwidert zu haben – Sie würden nicht so sprechen. Nein, nein! Grausam gewesen zu sein gegen ein Herz, das uns liebt, ist eine Erinnerung, die auf unserm Gewissen brennt, und die kein neue Liebe, und wäre sie wirklich reiner als die, die wir damals fühlten, wieder auslöscht!«

»Und haben Sie diese Erfahrung an sich selbst gemacht?«

»Leider, ja! Ich habe in meinem Leben viele Verhältnisse angeknüpft und wieder gelöst, ohne daß ich darüber Gewissensbisse empfunden hätte. Wußte ich doch nur zu wohl, daß die guten Herzen nicht brechen würden! Es waren Conta meta Geschäfte, bei denen jeder seine Rechnung gefunden hatte, oder die, schlimmstenfalls, den einen oder den andern und meistens beide Partner so bettelarm ließen, wie sie vorher gewesen waren. Nur einmal – und ich war damals noch ziemlich jung, und das gereicht mir einigermaßen zur Entschuldigung – nur einmal habe ich mich des Frevels schuldig gemacht, ein Wesen, von dem ich überzeugt sein konnte, daß es mich treu und aufrichtig liebte, mit schnödem Undank zu belohnen. Die Geschichte würde mir unvergeßlich sein, auch wenn sie nicht durch die Begegnung mit der braunen Gräfin auf eine wunderliche Weise mir wieder in die Erinnerung gerufen wäre. Habe ich Ihnen nicht erzählt, wie ich einst vor vielen Jahren im fernen Ungarlande, als ich mich auf dem Gute eines Bekannten zum Besuch aufhielt, ganz zufällig ein Zigeunermädchen fand –«

»Ja«, sagte Oswald, »ich erinnere mich Ihrer Erzählung, die durch das Hereintreten Herrn von Clotens unterbrochen wurde, sehr wohl. Ich vergaß hernach, Sie um die Fortsetzung zu bitten. War es nicht so? Sie hatten das Mädchen gefunden, als Sie fern von der Wohnung, in dem Walde umherschweiften, in einem Zigeunerlager, das für den Augenblick von der übrigen Bande verlassen war. Sie erblicken und sie lieben, war eins. Sie verlebten mit ihr in der romantischen Einsamkeit mehrere glückliche Tage. Die Geschichte schloß mit folgendem Tableau. Zigeunerlager im Walde – Sonnenuntergang – unter dem überhangenden Dache einer breitastigen Buche ein liebendes Paar auf schwellendem Moosteppich –«

»Ihr Gedächtnis ist gut«, sagte der Baron, »auch haben Sie die Stimmung, welche ich damals dem Bilde gab, getreu reproduziert. Ich werde nur nachträglich noch einige Schlagschatten hineinzeichnen müssen. – Ich saß also mit der Zingarelle – Xenobi war ihr süßer Name – in der von Ihnen angedeuteten Situation. Ich sang das alte Finklerlied von der Liebe, die nimmer enden würde, und das holde Vögelchen traute der alten falschen Weise und schmiegte sich innig und inniger an mein Herz. Da plötzlich ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und das Lachen und Schwatzen einer fröhlichen Kavalkade. Ich hatte kaum noch Zeit, die Kleine unsanft von meinem Schoß zu stoßen und mich zu erheben, als die Schar schon unter den hohen Bäumen hervor auf den Platz gesprengt kam. Es waren meine Wirte: der junge Graf Cryvany mit seinen Schwestern und mehrere Herren und Damen aus der Nachbarschaft. Sie können sich die nun folgende Szene denken. Ich wurde sofort umringt und mit Fragen überschüttet: Wo ich gewesen? Wie ich hierher gekommen sei? – ›Ich dachte, die Wölfe hätten Sie zerrissen!‹ rief der eine; ›oder Sie hätten sich aus unglücklicher Liebe erschossen‹, ein anderer. – ›Ich habe des Rätsels Lösung!‹ schrie ein dritter: ›Liebe freilich ist im Spiel, aber beileibe keine unglückliche. Sehen Sie dort!‹ und er deutete mit dem Stiel seiner Reitpeitsche auf meine arme Xenobi, die sich bei der Annäherung der Kavalkade scheu hinter dem dicken Stamm der Buche versteckt hatte. – Ein allgemeines Gelächter belohnte den Witzbold. Nur ein Gesicht blickte finster drein. Es war die jüngste und hübscheste der Schwestern, der ich noch zuguterletzt den Hof gemacht hatte und die, glaube ich, in ihrer Weise – was freilich nicht viel sagen will – mich mit ihrer Neigung beehrte, mir wenigstens schon einige nicht mißzuverstehende Zeichen ihrer Gunst gegeben hatte. Ich schämte mich plötzlich meiner armen Xenobi ganz entsetzlich und hatte nur den einen Wunsch, mich aus der Affäre zu ziehen, ohne die stolze Georgina zu beleidigen. Ich spielte den Entrüsteten, ich behauptete, tagelang im Wald umhergeirrt und nur eben erst auf das Zigeunerlager gestoßen zu sein. ›Woher hat denn das Mädchen die goldene Kette um den Hals, die wir kürzlich noch an Ihnen bewunderten?‹ fragte Georgina. – Ich hätte Georgina ermordet, können. Xenobi kam dem Fassungslosen zu Hilfe. – ›Hier, Herr!‹ sagte sie. ›Nimm, was ich dir gestohlen habe‹, und sie reichte mir das Geschmeide. Ich werde die zitternde Hand, dies von Schmerz und Zorn entstellte Gesicht des armen Geschöpfes nie vergessen. – ›Machen wir, daß wir nach Hause kommen!‹ rief Herr von Cryvany, ›es zieht ein Wetter herauf‹. – Ich bestieg das Pferd eines der Bedienten, und fort ging es durch den dämmrigen Wald. Ich wagte nicht, mich nach Xenobi umzublicken. Georgina, an deren Seite ich ritt, würde es mir nie vergeben haben. Ich hatte mir die Gunst der Dame vollständig wiedererobert, aber um welchen Preis! Als ich am Abend des folgenden Tages – früher konnte ich mich nicht von der Gesellschaft losmachen – in den Wald gerannt war, mein Unrecht wiedergutzumachen, fand ich wohl nach vielem Suchen den Platz, aber nicht mehr Xenobi. Die Bande hatte, als sie ihren Schlupfwinkel verraten sah, ihre Zelte abgebrochen und war wer weiß wohin gezogen. Von Xenobi habe ich nie wieder eine Spur entdecken können.«

Der Baron schwieg und blies den Rauch seiner Zigarre in mächtigen Wolken in die Luft.

»Sehen Sie«, hub er nach einer langen Pause wieder an, »ich bin fromm genug oder abergläubisch genug, wenn Sie wollen, um anzunehmen, daß ich durch diese Tat einen Fluch auf mich geladen habe, den keine Reue wieder sühnt. Und nun werden Sie auch begreifen, was mir Czika ist – ein Engel im eigentlichsten Sinne des Wortes, ein holder Bote des Himmels, der mir Friede, Friede! in das kranke Herz singt. Hat mir das Bild des Kindes doch schon seit Jahren vor der Seele geschwebt, glaubte ich doch die Erfüllung meiner Träume schon zweimal leibhaftig vor mir zu sehen. Hier ist die rote Rose Xenobi noch einmal, aber in dem Morgentau süßester Unschuld. Die rote Rose hat nun der Sturm des Lebens wohl schon lange geknickt, und hätte ich sie auch damals treuer bewahrt – was würde die Welt, die kalte, freche, lästernde Welt aus der romantischen Liebe eines Barons und einer Zingarelle zuletzt gemacht haben! Damals war ich zu jung und hätte die Geliebte vor dieser schnöden Welt nicht verteidigen können; jetzt bin ich ein Mann geworden und habe bloß ein Kind, einen Findling zu schirmen und zu schützen. Ich werde der Zigeunerin geben, was sie verlangt, und wärmsten, aufrichtigsten Dank in den Kauf. Ich hoffe, sie hat die Verabredung nicht vergessen. Halt, Karl! – Wir müssen hier aussteigen, um durch den Wald zu gehen. Ich kenne den Pfad von früher her noch ziemlich gut. Es ist die Stunde, welche uns die braune Gräfin bestimmte. Wir kommen gerade zur rechten Zeit.«

»Wollen wir nicht doch die Kleine lieber hier lassen?« sagte Oswald.

»Weshalb?« fragte der Baron, der schon aus dem Wagen gestiegen war.

»Das Kind hängt sehr an der Frau, die ja am Ende doch seine Mutter ist. Vielleicht wird es bei ihrem Anblicke von der alten Liebe zum Waldesleben erfaßt, und es gibt zum mindesten eine peinliche Szene.«

Oswald sprach die Worte leise, denn Czika regte sich in seinen Armen.

»Czika will mit«, sagte das Kind plötzlich, »Czika will in den Wald und den Mond und die Sterne durch die Zweige tanzen sehen. Czika kennt jeden Baum und jeden Busch.«

Sie stand auf dem feuchten Waldboden und klatschte vor Vergnügen in die Hände und tanzte und lachte und rief:

»Kommt, kommt! Du, Herr, und du, Mann mit den blauen Augen! Czika will euch einen schönen Platz zeigen, Czika kennt jeden Baum und jeden Busch im weiten Wald.«

Sie huschte auf einem schmalen Pfad, der sich von dem Wege, auf dem der Wagen hielt, seitwärts in den dichtesten Forst schlug, vorauf, wie eine wilde Katze durch die Büsche schlüpfend, deren dünne Zweige wieder hinter ihr zusammenschlugen. Nur mit großer Mühe folgten die beiden Männer. Czika war nicht zu bewegen, ihren Lauf zu hemmen. Ihre einzige Antwort auf das: Nicht so schnell, nicht so schnell, Czika! Nimm uns mit, Czika! war der helle, lustige Schrei des jungen Falken, den sie wieder und wieder, lauter und schriller, wie Antwort heischend erschallen ließ. Plötzlich ertönte die Antwort durch den stillen Wald, derselbe stolze Schrei, dessen sich Oldenburg und Oswald noch so deutlich von jenem Morgen erinnerten, als die Zigeunerin aus der Ferne den Ruf der Kleinen erwiderte.

Da leuchtete ein roter Schein, der mit jedem Augenblick heller und heller wurde, durch die hohen Stämme der Bäume. »Wir sind gleich am Ziele«, sagte der Baron, welcher voranging.

Wirklich traten sie nach wenigen Minuten auf die Lichtung heraus, die Oswald von dem Nachmittage, als er sich auf dem Wege zu Melitta verirrt hatte, so unvergeßlich war. Auf derselben Stelle, nicht weit vom Rande des Sumpfes, wo damals die Zigeunerin ihre Mahlzeit kochte, brannte jetzt wieder ein Feuer, aber groß und mächtig, wie um die Szene in das hellste Licht zu setzen. Die Kronen der mächtigen Bäume glühten purpurot oder tauchten in schwere Schatten, je nachdem die Flamme des Holzstoßes emporloderte oder zusammensank; von dem dunklen Wasserspiegel des Sumpfes erglänzte der Widerschein – und, umflossen von dieser magischen Beleuchtung, erblickten die Männer, als sie atemlos den Saum der Lichtung erreichten, die braune Gräfin auf den Knien vor Czika, die sie mit Küssen und Liebkosungen überhäufte; während das Kind sich vergeblich bemühte, sie vom Boden emporzuziehen und sich endlich zu ihr auf die Knie warf, ihr Haupt an dem Busen des Weibes verbergend. Schweigend und regungslos standen die beiden Männer, tiefergriffen von dem Schauspiel einer so leidenschaftlichen Zärtlichkeit.

Da erhob sich die Zigeunerin, und das Kind in die Hand nehmend, trat sie auf die beiden zu und sagte zu Oldenburg, der sie mit weitaufgerissenen Augen anstarrte:

»Kennst du mich, Herr?«

In diesem Augenblick leuchtete die Flamme hoch auf, und jeder Zug in dem edelstolzen Gesicht des ägyptischen Weibes und jede Linie ihres schlanken, hohen Leibes war wie vom Tageslicht erhellt.

»Xenobi!« schrie der Baron, seine Arme ausbreitend. »Xenobi!«'

Das braune Weib stürzte sich mit einem Schrei wahnsinnigen Entzückens an seine Brust und klammerte sich an ihn, als ob sie sich nie wieder von dem geliebten Manne trennen wolle. Aber im nächsten Moment schon riß sie sich los, trat ein paar Schritte zurück und stand da, unbeweglich, die Hände über den vollen Busen faltend. Czika stand zwischen ihr und dem Baron, die großen dunklen Augen voller Verwunderung von diesem zu jener, von jener zu diesem wendend.

Der Baron nahm sie bei der Hand und sagte, näher an die Zigeunerin tretend, in einem Tone, der, sosehr er sich auch zu beherrschen suchte, deutlich die ungeheure Erregung verriet, die in ihm wühlte.

»Xenobi ist dieses Kind –«

Er vermochte nicht weiterzusprechen; er rang mühsam nach Worten. Endlich stammelte er:

»Dein und mein Kind?«

»Ja, Herr!« sagte die Zigeunerin, ohne sich zu regen; die dunkeln glänzenden Augen fest auf das Antlitz des Barons heftend.

Oldenburg hob das Kind in seinen Armen empor und drückte es an seine Brust. Oswald fühlte, daß er die drei allein lassen müsse, und zog sich bis an den Rand des Waldes zurück. Dort setzte er sich. Es war dieselbe Stelle, auf der er an jenem Nachmittage gelegen hatte, als er den köstlichen Traum von Melitta träumte, und von wo aus er hernach Czika auf dem Cymbal hatte spielen hören, während die braune Gräfin am Feuer schaffte und mit ihrer tiefen, weichen Stimme die ungarische Volksweise sang. Wie vieles hatte sich nicht seit jenem Tage geändert! Was hatte er nicht alles gewonnen und wieder verloren! Damals hatte sein Herz der schönen Frau so sehnsuchtsvoll entgegengeschlagen; heute erfüllte die Erinnerung an sie seine Seele mit Trauer und Schmerz. Warum hatte sie ihn so unendlich glücklich gemacht, wenn ihre Liebe doch nur die souveräne Laune eines Augenblicks war, nur ein hübsches Spiel, der Stunden Einerlei auszufüllen, über den momentanen Bruch ihres Verhältnisses zu Oldenburg besser hinwegzukommen? Würde die hochgeborene Dame, die stolze Aristokratin, ihn über kurz oder lang nicht verleugnen, verleugnen müssen, wie der Mann da das arme Zigeunermädchen vor seinen Freunden verleugnet? Und hatte er diesen Gedanken nicht immer schon mit sich herumgetragen? Hatte sich dieser Gedanke nicht selbst in den sonnigsten Augenblicken der Liebe wie ein düsterer Schatten zwischen ihn und die reizende Frau gestohlen? Hatte er nicht, als der Name Oldenburgs zum ersten Male sein Ohr berührte, in diesem Manne, wie von einem Dämon getrieben, seinen Nebenbuhler erkannt! Und mußte er sich nicht eingestehen, daß dieser Mann alles besitze, in dem Herzen einer stolzen Frau eine heroische Leidenschaft zu entflammen? Rang und Reichtum, eminente Gaben, den Mut des Ritters ohne Furcht und Tadel, und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, das nicht ganz reinen Herzens ist, zu bestricken?

Und wie gut stand ihm sein Weltschmerz und die Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte, nicht glauben, er werde nächstens in die Wüste gehen und sich von Heuschrecken nähren? Jetzt wird er die Zigeunerin mit sich auf seine Solitüde nehmen, damit die Einsamkeit bis zu Melittas Rückkehr etwas weniger einsam sei!

So wühlte sich Oswald geflissentlich tief und tiefer in die bittersten Empfindungen hinein. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie abgehetzt und müde, wie unfähig, über sich selbst zur Klarheit zu kommen. Er wäre am liebsten gestorben, um all dem Wirrsal zu entfliehen, wie ein Schwimmer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlassen, und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn ist, sich in den Abgrund sinken läßt. Er drückte das Gesicht in seine Hände, um nichts mehr zu sehen und zu hören.

Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, riß ihn aus seinem wirren Traum. Es war Oldenburg. Der Baron war allein. Das Feuer des Holzstoßes flammte nur noch auf Augenblicke empor und drohte zu verlöschen. Der Mond, über den graue Wolkenschleier zogen, flimmerte geisterhaft in dem dunklen Wasser des Sumpfes. Unheimlich zischelte und flüsterte der Wind in den langen Binsen des Ufers.

»Wo ist Czika?« fragte Oswald.

»Fort«, erwiderte der Baron, »lassen Sie uns aufbrechen. Es ist spät.«

»Wird sie nicht wiederkommen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und Sie haben zugegeben, daß dies Kind, Ihr Kind, der Zigeunerin folgt in die weite Welt!«

»Was sollte ich tun? Ist es nicht ihr Kind tausendmal mehr als meines? Hat sie es nicht mit Schmerzen geboren, es genährt und gepflegt und beschirmt alle diese Jahre, durch Regen und Sonnenschein, in Not und Armut, im wilden Wald, auf der offenen Landstraße? Hat sie nicht für dies Kind gebettelt und gestohlen und vielleicht getan, was noch schlimmer ist? Was habe ich für mein Kind getan, nichts – nichts, als seine Mutter vor den Augen eines vornehmen Pöbels wie einen verlaufenen Hund von mir gejagt, einer elenden Kokette zuliebe! Nein, nein! Ich habe kein Anrecht an diesem Kinde!«

Während der Baron so sprach, stieß er mit dem Fuße die halbverkohlten Feuerbrände aus dem Holzstoß in den Sumpf, daß sie zischend verlöschten.

»Weshalb hat denn die braune Gräfin Sie aufgesucht? Weshalb Ihnen das Kind in die Hände gespielt? Weshalb dieses Rendezvous selbst herbeigeführt?«

»Sie wollte den Geliebten ihrer Jugend, den einzigen Mann, den sie vielleicht je geliebt hat, noch einmal sehen; sie wollte ihm das Kind, sein, Kind, in die Hände legen und zurücktauchen in ihre Waldesnacht. Aber sie kann ohne das Kind nicht leben und das Kind nicht ohne sie. So mußte ich denn beide ziehen lassen.«

»Aber weshalb nicht beide mit nach Cona nehmen?«

»Soll ich den Falken an die Kette legen? Der Falke fühlt sich nur wohl in dem unermeßlichen Äthermeer; er stirbt in der dumpfen Stubenluft. Kommen Sie! Es ist für uns zivilisierte Menschen die höchste Zeit, daß wir ins warme Bett kommen.«

Der Baron stieß den letzten Brand hinunter ins Wasser und wandte sich, zu gehen.

Zwischen den hastig treibenden Wolken hervor blickte der Mond trübäugig in das schwarze Wasser des Sumpfes, und Oswald war es, als ob die langen Binsen, die am Rande wuchsen, flüsterten: Hier ist kühle Ruh' für alles Erdenleid.


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