Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Schwer blieb der Winter nun mit Schnee und grauen Lüften über dem Hochland liegen, und Wochen und Wochen vergingen, der »Narr« blieb denen im Dorfe unsichtbar. Sie vergaßen ihn beinahe.

Im Innern des Berghäusl's spielte sich das ganze Leben und Leiden des Einsamen ab; zwei dürftige Räume umschlossen dies ganze Geschick: eines edeln, vielverheißenden Menschenlebens vorzeitigen Niedergang, die letzte Umnachtung einer schönen, nobeln Geisteswelt.

Der Eingeschlossene lebte den Februar meist still und untätig zu Ende, die wenigen Anfälle von wilder Aufregung aber, die er in dieser völligen Isoliertheit erlebte, waren von einer so merkwürdigen Furcht vor dem Gesehenwerden begleitet, daß er sich dabei in sein Schlafzimmer einschloß, sich einige Male sogar zu Bett legte, dort hastig und flüsternd mit sich selber sprach und beständig gegen die Lauscher wehrte, welche er vor der Türe zu haben glaubte. Erst wenn am Abend die Dienstboten das Haus verlassen hatten, stand er wieder auf und hielt solcherweise die schlimmsten Stunden so geheim, daß er den Beiden zur Zeit 314 eigentlich kaum durch Anderes, als sein anhaltend brütendes, immer gleichgültigeres Verhalten auffällig war und in die Fortführung seines Haushaltes keine ernsteren Schwierigkeiten brachte. So gingen die Dinge nach außen einen unveränderten Gang und gingen ihn bis zum letzten Tage.

Die Stimmen, die er so fürchtete, ließen ihn oft mehrere Tage in Ruhe, dann kamen sie wieder und schüchterten ihn ein. Die äußeren Dinge hatten je länger je mehr vollständig unberechenbare Wirkung auf ihn. Langes Ansehen eines Gegenstandes, langes Anhören eines Geräusches konnte ihn heute einschläfern, morgen aufregen oder schmerzen. Eines Nachmittags in dieser Zeit zum Beispiel, saß er still in seiner Sofaecke, den Blick auf die gegenüberliegende Wand geheftet, und sah dabei unwillkürlich das kleine, kribbelige Muster der Tapete an. Auf hellgrauem Grunde kreuzten sich da schräge Streifen von dunklerem Grau, und auf jeder Kreuzung saß ein kleines, giftig rotes Kreuzlein, das in seiner Farbstärke vollständig aus der übrigen, verwaschenen Mattheit des Papieres herausfiel, und in seiner endlosen Wiederholung, bei längerem Betrachten, förmlich vor den Augen zu flirren begann. Hundert und hundertmal hatte der Kranke in seinen Stunden des tatlosen Vorsichhinschauens diese Tapete schon betrachtet; heute 315 tat er es wieder, bis ihm die Augen davon ermüdet zusanken. Dann saß er da, ohne zu schlafen, mit geschlossenen Augen.

Vor dem Fenster drunten, wo der Martl Holz klein machte, erklang das Geräusch einer Säge, das gleichmäßige, ruhige Auf und Nieder. Dem droben kam dies Geräusch mit seiner Eintönigkeit vor, wie die leise Melodie, die ein Kind in Schlaf singt. Er gab sich dem immergleichen Rhythmus hin, wie dem Schaukeln einer Wiege. Wenn der Ton jäh abbrach und der durchsägte Block mit kurzem Klang zu Boden fiel, hielt er den Atem an und wartete, bis die Säge ihr sanftes, melodisches Knarren und Sausen von Neuem begann. Mählich ging das Horchen zum leisen Schlummer hinüber – und da war es ihm, als würden die Züge der Säge zu den hastigen, mühsamen Atemzügen einer Lokomotive, die einen schweren Zug eine Steigung hinanschleppte. Zuweilen stand die Maschine plötzlich still, es knackte, und eine Angst befiel den Träumenden, der ganze Zug müsse sich lösen, müsse sausend rückwärts herabkommen mit seiner Last und ihn zerdrücken. Aber schon begann es wieder zu atmen, zu keuchen, Zug für Zug, und höher und höher vor seinen Augen kletterte die schwarze Masse die Steigung hinan. Jetzt stand sie oben still. Und eine Menge roter, ganz feuerroter 316 Insekten entflogen dem Schlot der Lokomotive, – Insekten wie Wespen, aber ohne Flügel, mit langem Leib und einem Querholz, wie Kreuze, wie lauter rote Kreuzlein, – so wie sie – – – er besann sich – – so wie sie auf seiner Tapete zu Hause waren! Da saß er ja auch mit offenen Augen und langsam erwachenden Sinnen zu Hause und starrte auf die gekreuzelte Tapete drüben.

Der Martl hatte zu sägen aufgehört; die kräftigen Schläge der Axt, welche die gesägten Blöcke spaltete, machten Moralt vollends wach. – Es war eine dieser hypnotisierenden Wirkungen äußerer Eindrücke gewesen.

Ein andermal, es war bereits in den ersten Märztagen, und die Sonne vermochte täglich auf ein paar Stunden die graue Schicht in der Höhe zu durchbrechen, hatte er nach Tisch ein wenig das Fenster geöffnet, die dunkeln Vorhänge aber zusammengezogen, und lag, den Kopf hintenüber, ausgestreckt auf seinem Ruhebett; da machten ihn ein paar unschuldige Laute ganz krank.

Völlige Stille, viel Luft und ein stark gedämpftes Licht war, was er seit Kurzem mit einer Art Manie um sich zu vereinigen und mit allen Mitteln zu erhalten suchte, vom Morgen bis zur Nacht. Der volle Tag stimmte ihn unruhig, ließ ihn unzählige Dinge 317 anfassen und wieder hinlegen, sich ankleiden, vor die Türe treten und sofort wieder umkehren. Nur noch dies Dahinleben in Dämmerung, das hatte er entdeckt, gewährte ihm Ruhe. Er konnte dann, sobald das Zimmer dunkel gemacht war und die leichtdurchsonnte Frische hereinwehte, stundenlang daliegen, ohne etwas zu wünschen, ohne etwas zu vermissen.

Während er nun an diesem Tage wieder die Nachmittagsruhe genoß, drang plötzlich eine Stimme von draußen an sein Ohr und ließ ihn aufhorchen. Auf dem Wege, der unter dem Häuschen vorbeiführte, hatte im Laufe des Winters ein Bauer Holzstämme abgeladen. Auf einen dieser Stämme hatte sich ein alter Mann in den Sonnenschein gesetzt und sprach jetzt mit einem des Weges gehenden jungen Weib. Seine Stimme klang freundlich, aber alt und müd, die der Frau kräftig und etwas tief. Zu anderer Zeit hätte Moralt dem Gespräche des Alten gern zugehört, der sich über allerlei neue Zustände im Dorf und dann über diese neue Scheune und über jenes neue Dach, welches er von da oben als in Arbeit stehend entdeckte, mit greisenhafter Verwunderung aufhielt, und von der Frau gutmütige Aufklärung entgegennahm. Jetzt drang jeder Ton dieser Stimmen in Moralts Mark wie physischer Schmerz. Sein ganzer Organismus war wie ein empfindliches 318 Saiteninstrument, in das Töne hineingeschrieen werden, die es dann disharmonisch, bebend, nachschrillt. Mit der Anspannung eines Menschen, der sich zusammennimmt, um einem Schmerz, der sich in der nächsten Sekunde wiederholen wird, zu begegnen, erwartete er jedes Wort, welches die da unten sprachen. Und wenn der Ton kam, dann zitterte es in ihm empor, von den Füßen, durch das Innerste der Knochen, der Schenkel, den Rücken hinan bis in die Schädelhöhle, wie ein leises, aber grausam schmerzhaftes Schauern.

Eine Weile hielt er es aus. Dann sprang er auf, schlug zornig das Fenster zu und rannte, mit beiden Händen die Ohren zuhaltend, in seinem Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit blickte er lauernd hinunter, ob die immer noch da schwatzten. Erst als das Weib seines Weges ging und der Alte sich mühsam erhob, tat er die Hände von den Ohren und schaute dem Greise feindselig nach – wie Einem, der ihm etwas zu leid getan.

Und die Tage des Hinlebens im Halbdunkel dauerten weiter.

Erst gegen Mitte des März, als die Sonne kräftiger in das Hochland niederschien und die Tage länger wurden, kroch er wieder aus seinen Räumen hervor. Aber wie scheu nun! Viel scheuer denn 319 zuvor. Er hielt sich zuerst bloß auf seiner Laube versteckt, dann aber, als es ein paarmal gar so leuchtende Nachmittagsstunden gab, glitt er die nächste Gasse hinab, an des Zimmermanns Haus vorüber in's freie Feld hinaus. Die Leute ließen ihn ungegrüßt vorbeigehen; er erweckte mit seinen ängstlichen Bewegungen in ihnen Mitleid und Verlegenheit.

Die Natur, wenn er glücklich in's Tal entkommen war, sagte ihm aber beinahe nichts mehr. Er sah sie an – – es war ihm wie Aufatmen, daß er da draußen sei an der vollen Luft. Zum Heimweg wartete er immer sorglich die Dämmerung ab. Wenn er von solchen Gängen zurückkehrte, so schlief er besser als sonst.

Allmählich ließ ihn der anhaltende und täglich wirksamere Sonnenschein sein bisheriges Leben im dunkeln Zimmer aufgeben, ihn das Bedürfnis danach mehr und mehr wieder verlieren. Es lockte ihn bald schon am Morgen hinaus auf die Laube, wo er dann ruhig stand und zu Tal schaute. Aber was er von da aus vom Treiben der Menschen erblicken konnte, betrachtete er jetzt viel mehr mit kindischer Neugier, als mit Interesse und Verständnis. Bei Vorkommnissen, die ihn früher stark beeinflußt haben würden, blieb er sogar gänzlich gleichgültig.

Nach einer Woche solcher sonniger Tage hatte die 320 Samstagsnacht durch Südwind und warmen Regen einen großen Teil des Schnees plötzlich geschmolzen, und der Sonntagmorgen zeigte eine Landschaft wie im ersten Vorfrühling. An den Südhängen war die weiße Decke wie mit Zauberschlag verschwunden. Den Bergen nach kroch langsam das feuchte, schwere Gewölk davon, und in der Höhe, in einem kühlen blauen Himmel, schien eine blendendweißliche Sonne.

Glockengeläute, welches lange anhielt, und allerlei seltsames Getön weckte Moralt an diesem Morgen zu früher Stunde. Er kleidete sich flüchtig an und trat neugierig auf die Laube. Da erblickte er zuerst die veränderte Landschaft – und mit Augen, wie sie ein Knabe vor dem Jahrmarktspanorama macht, vor welchem plötzlich die weiße Scheibe mit einer grünen gewechselt worden ist, starrte er lange das Tal und die Berghalden an und schien nicht zu begreifen, wie das zugegangen.

Als er aber den Blick zum Dorf hinabwandte, um zu erfahren, was das Tönen bedeute, bemerkte er, daß es ein Totengeleite sei, welches sich gerade von den nächsten Hütten unter ihm dorfabwärts und hinaus in's Tal bewegte, zu der kleinen, uralten Kapelle am Friedhof. Sie trugen den jungen Burschen zu Grab, von dem die Nandl berichtet hatte, daß ihn die Tanne erschlagen. 321

Ein Gemurmel des betenden Volkes, wachsend und abnehmend, dumpf und düster, als käme es von Scharen klagender Geister und nicht von Menschengebet, stieg auf aus der wallenden Menge. Jetzt wieder schwach, wenn es durch Häuser gehemmt war, jetzt wieder stark anschwellend, wenn der Zug an den Gartenzäunen hervortrat. In der stechenden Sonne glänzten die goldenen Schaustücke des Kirchenprunkes; vier Jünglinge in schwarzen Radmänteln trugen den Sarg; ein gelbes Kreuz, groß und breit, war in das schwarze Bahrtuch genäht und blinkte herauf.

Aus der dunkeln Masse, die sich wie eine Schlange dahinbewegte, jetzt hinter Häusern verschwindend, jetzt zwischen Hecken und kahlen Bäumen wieder auftauchend, schienen wie Farbflecken die Hemden der Chorknaben und die roten Unterröcke der Bauernweiber hervor, die des Schmutzes wegen ihre schwarzen Feiertagsgewänder in die Höhe hoben. Schnarrend mehr als schmetternd, fielen die Stöße der Posaunen aus der Trauermusik heraus und drangen herauf an's Häuschen des Bleichen. Der stand da und sah dem Schauspiel zu – nicht im geringsten davon berührt. Seine Züge trugen zwar eine Art Feierlichkeit zur Schau, aber leer; nicht wie die eines empfindenden Menschen, sondern wie die eines wohlerzogenen Kindes, das bloß weiß, was sich schickt und 322 sich bei etwas Ernstem, was es nicht begreift, ruhig verhält.

Als der Zug im Dorfe ferndrunten verschwunden war, setzte sich Moralt auf die Brüstung und schaute hinaus in das schimmernde Tal.

In das Rauschen der kleinen Bäche, die vom schmelzenden Schnee der höhern Bergwände herniederkamen, in das Trillern der Vögel, das schon vereinzelt aus den kahlen Büschen erklang, in den Schrei der jungen Hähne, die dort hinter einem Bauernhäuschen in der auftauenden Wiese umhergingen und mit den Schnäbeln den weichgewordenen Boden hackten, tönte nach einer Weile unbestimmt, schwallweise vom Morgenwind heraufgetragen, der ferne, düstere Grabgesang der Menge, die schwere Tonmasse der Posaunenmusik. Und draußen, weit im Tal, senkten sie an diesem Sonnenmorgen Jenen in's Grab, den der Lenz wohl noch besser gefreut hätte, als den armen »Narren« auf seiner Altane, der noch immer hinausschaute, und den Sonnenschein und Grabgesang allbereits gleich ungerührt ließen. 323

 


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