Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Am Weihnachtsmorgen lagen neben einem großen Eierzopf, den die Lammwirtin gesandt, und neben ein paar mit bäuerlichem Geschmack zusammengebundenen Geranien von der alten Nandl nicht weniger als vier Briefe auf dem Frühstückstisch. Sie waren zum Teil schon rechtzeitig am Vorabend angelangt, aber weil es nur Briefe waren und nicht Poststücke, die auf eine Bestimmung für den Christabend schließen ließen, hatte der Bote sie nicht mehr heraufgebracht.

Draußen vor den Fenstern zitterte eine wunderbar reine Wintermorgenluft über der Schneelandschaft, in klarer Herrlichkeit ragte rings die weiße Gebirgskette auf in ein feines grünliches Himmelsblau. Ein paar Vögel flatterten auf dem Geländer der Laube umher, mit lautem Flügelschlag und kurzen, frohen Rufen, und putzten ihr Gefieder im Strahl der Festtagssonne, die über der Erde aufgegangen war. Mit wahrhaftem Feiertagsglanz spielte der goldige Schein auch schon tief in das Wohnzimmer herein, als Tino, der sich später als gewöhnlich erhoben hatte, aus der Tür seines Schlafgemaches trat.

Er hatte einen schweren Schlaf getan. 288

Einen Augenblick übersah er erstaunt, als fehlte ihm die Kraft, an etwas so Freundliches zu glauben, den lichten Raum und den geschmückten Tisch; dann glitt ein milder Strahl über sein düsteres Gesicht. Er beugte sich prüfend über die Briefe und ergriff mit einer hastigen Bewegung, als faßte er die Hand eines geliebten Menschen, nach dem er sich gesehnt, die Enveloppe mit des Norwegers Handschrift, die Züge lange betrachtend. Vom Dorf klang währenddem gedämpft und feierlich der Kirchenglocken Ton herauf und sang den Raum in eine ungewohnte Festtagsstimmung.

Nichts regte sich im Hause. Das Frühstück sah Tino im Ofen stehen; die Nandl war zur Kirche hinabgegangen. Er holte es heraus und setzte sich still in seine Sofaecke. Alle seine Bewegungen waren behutsam, vorsichtig; er klirrte nicht mit dem kleinen Löffel; er schob seine Tasse nur leise auf das Gedeck, als wäre er ängstlich, Geräusch zu machen. Er schien mit Entzücken diese Feierstille zu genießen. In der Linken hielt er immerzu des Freundes Brief; er las, las wieder ein Stück weiter, dazwischen sah er mehrmals vor sich auf, – er mußte von Zeit zu Zeit einen Atemzug nehmen von dieser Weihnachtslust. Die Uhr über ihm tickte heute so viel andächtiger, schien ihm; die Ruhe im Hause war so viel tiefer als sonst; 289 die Scheite im Kamin knisterten leiser, sanken nur geräuschlos in sich zusammen. Alles atmete Ruhe, alles atmete Frieden, und das goldige Strahlenlicht leuchtete immer heller auf in dem traulichen Raum; – es war fürwahr Weihnacht in der Welt!

Rolmers' Brief – aus Paris – war voll treuer Liebe. Er fragte nicht viel wie sonst, er erzählte mehr.

Tino las sehr langsam, als brauchte er mehr Zeit zum Begreifen als früher. Seine Brust hob und senkte sich in gleichmäßigen, ruhigen Atemzügen. Plötzlich schüttelte er verwundert den Kopf und ein Strahl von freundlicher Klarheit leuchtete in seinen Augen auf. Wie? Was stand da? Der kleine Holleitner verlobt! Er las es noch einmal und wieder: mit Rahdes Schwester verlobt, der schönen schwarzen Hedwig!

»– – Wir Freunde können uns gratulieren;« fügte Rolmers dieser Meldung bei, – »denn daß dieses Mädchen mit ihrem ernsten Wesen es ist, die unsern kleinen Holl erobert hat, ist mir der beste Beweis, daß unser Einfluß auf ihn gute Früchte getragen. Das Kerlchen hat doch Geschmack am Soliden bekommen und kann nun als versorgt und aufgehoben betrachtet werden. – Von mir kann ich dir nur sagen, daß über meine Rückkehr noch nichts zu bestimmen ist, und daß ich nichts sehnlicher wünsche, 290 als nach dem Abschluß der Arbeiten, die meiner in München noch harren, wieder bleibend hier in Paris zu schaffen.«

– Der zweite Brief war von Äbi und kam aus der Schweiz.

»– – Noch immer« – schrieb der – »bin ich hier, und es geht mir wie dem Pfaffen um Ostern! Ich bin über die Festzeit bei meinen Leuten, und mein Vater ist nun endlich überzeugt, daß ich doch ein Mensch sei, der sein Brot verdienen könne und überdies erst noch ein wenig berühmt werden. Ich schicke dir hier einen Zeitungsausschnitt mit der Kritik über mein Bild. Ich habe ein Glück damit gehabt, wie ich es nicht erhoffen durfte, und nebst den 3000 Franken Ankaufspreis von der Regierung noch einen schönen Auftrag für eine Villa in Thun erobert, an welchem ich, da es Fresko zu machen ist, bis zum Frühling an Ort und Stelle zu tun haben werde. Du wirst lachen und sagen: ›on revient toujours à ses premières amours‹, es ist nämlich abermals ein Frühlingszug, aber in der Komposition ganz neu, und ich freue mich diese Arbeit zu machen.

So bin ich denn gottlob nach manchen schwierigen Zeiten, die ich oft nur durch den Halt in dir und den Andern zu überstehen fähig war, jetzt aus der Tinte. Ich sehe es jeden Tag mit Dankbarkeit ein. 291 Wir arme Künstlerschlucker sind offenbar doch so eine Art Lilien auf dem Felde, – es kommt das Nötige schon vom Himmel; man muß nur darauf vertrauen!«

Moralt mußte lächeln. Daß er doch auch so eine Lilie auf dem Felde wäre für den Herrgott! Daß ihm doch auch vom Himmel bald das Nötige käme! Er legte den Brief beiseite und nahm den Zeitungsausschnitt vor.

Es war eine Kritik voll hohen Lobes, die mit Wärme und Empfindung auf Äbis Werk einging und auch den Stoff des Bildes, einen »Kirchgang im Berner Oberland« mit Plastik wiedergab.

Sie schloß mit den Worten: »Und so ist das ein Bild voll Lebensfreude und Sonntäglichkeit, voll Gesundheit und gottgesegneter Wohlhabenheit, daß dem Beschauer das Herz aufgeht und er neben dem Künstler auch den Schweizer lieben muß, der sein herrliches Land und dessen Volksleben so schön und wahr zu preisen weiß.«

Moralt war über dieser Lektüre abermals vollständig zu einer seiner hellen Stunden erwacht. Es war in seinem Kopf wieder so licht, wie am gestrigen Abend. Er las das Zeitungsblatt ein zweites Mal. Er vermochte sich das Bild jetzt ziemlich vorzustellen. Das mußte so recht aus Äbis Herzen gemalt sein! Der gute Mensch! Tino hätte ihm die Hand drücken 292 mögen. Wahrhaftig, wenn in diesem Augenblick die Freunde unter der Tür erschienen wären, er hätte keine Scheu vor ihrem Besuch empfunden!

Der dritte Brief war von Zakácsy; den schob er einstweilen weg. Auf dem letzten erkannte er die Handschrift nicht. So schrieb doch Holleitner nicht? Er brach ihn auf. Er war dennoch von ihm. Aber der Junge mußte ja Schreibstunden genommen haben! Er hatte früher beinahe unleserlich geschrieben, jetzt waren es wohlgefügte Buchstaben.

Oben das Motto: »Gerettet ist das edle Glied!« Und welch' ein Stil, welch' eine Beredsamkeit gleich auf der ersten Seite! Der Kleine strömte über von seines Glückes Fülle. Er mußte dem alten Freunde Alles sagen, Alles beichten. Er plauderte wie ein Kindskopf und sprach wie ein Mann, der sich auf einem ernsten Punkt seines Lebens angelangt erkennt. Alles durcheinander, der ganze Holl wie er leibte und lebte.

Auf Moralts Zügen begann sich Erregung, Rührung zu malen, und als er zu Ende war, verklärte ein Ausdruck von Glück sein bleiches Gesicht. Noch einmal und noch einmal las er den Schluß.

»Ich habe es immer an mir erlebt,« – schrieb Holleitner da – »daß jeder nicht unbedeutende Mensch, der in unsern Lebensweg tritt, sein Teil zu unsrer 293 Entwicklung beiträgt; positiv fördernd, wenn er Verwandtes besitzt, oder als purifizierendes Element, das zur Selbstkritik treibt, wenn er ein Geist ist, der stets verneint. Selbst eine Figur wie Podjenyi, in ihrer haarsträubenden Schwindelhaftigkeit, konnte ihr Gutes für Manchen haben; denn was man an einem Andern, den man verachtet, recht abstoßend vor Augen sieht, davor ist man selber gefeit. Wieviel mehr als alle diese aber mußtest du auf mich einwirken, der du mit Rolmers und Äbi durch Jahre die Geduld gehabt hast, mich bei meinem Besten zu nehmen und meine Gaminerieen zu ertragen. Ich danke dir viel, lieber Tino, ich danke deinem Einfluß sogar mein Bestes; denn du hast auf mich stets ebensoviel mit dem gewirkt, was du warst, wie mit dem, was du für mich tatest. Guck, das wird einem Alles klar, wenn man ein anderes Wesen an seine Existenz zu ketten im Begriff steht und als ehrlicher Kerl sich doch fragt, was man mit seinem Persönlichen denn eigentlich dem Andern zubringe. Und da gestehe ich dir, ohne den Einfluß unseres Kleeblattes, dem vor allem dein Stempel aufgedrückt war, könnte ich heute kaum mit so gutem Gewissen an mein künftiges Glück denken. Ich habe ein verdammt leichtes Blut gehabt und gehörte von Natur ein wenig zu denen, welchen ihr menschliches Teil so übel das 294 Bein stellen kann, daß sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit und mitsamt ihrer Kunst immer wieder darüber purzeln und sich so oft die Glieder zerschlagen, bis der ganze Kerl nicht mehr recht auf seinen Füßen steht. Wenn Ihr gewußt hättet, was ich oft für Gelüste hegte! Ihr habt gedacht, ich tue trotz Euch Alles, was mir beliebe? Holla! Ich habe dich nicht nur geliebt, guter Kamerad, ich habe dich auch gefürchtet! Das beichte ich dir heute gerne, wo ich mich im sichern Hafen gelandet fühle und erkenne, was ich dieser Furcht und dir verdanke.« – – – – –

Moralt war es ganz andächtig zumute geworden. Wer hätte diesen schönen Ernst bei Holleitner erwartet! Durch ihn also war dieser Freund einen Weg geführt worden, den er sonst vielleicht nicht zu verfolgen die Kraft gehabt hätte? Er, Moralt, war durch seine Person einem Menschen bestimmend gewesen? Der Gedanke tat ihm unendlich wohl. Er legte den Kopf zurück und sah zur Decke empor, wo vom Wiederschein der Sonnenstrahlen, die von den Platten des Kamins zurückgeworfen wurden, viel schimmernde goldene Ringe ineinander zitterten. Sie schienen ihm wie freundliche Segensstrahlen zuzunicken, herniederzugleiten und still zu schweben über seinem Haupt.

So war sein Leben nicht umsonst gewesen! Äbi 295 und Holleitner sagten es ihm. Nun mochte die Zukunft sich für ihn gestalten wie sie wollte, selbst wenn er nichts mehr sollte schaffen können, – was gut gewesen an ihm, das lebte fort in Andern. Tröstliche Erkenntnis! Jetzt hatte er auch sein Weihnachtsgeschenk. 296

 


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