Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Als es von der Turmuhrenfabrik sechs Uhr schlug, war die angesetzte Zeit des Abendkurses zu Ende; aber die Kunst ist ihren Jüngern keine Schulmeisterei, und von dem Gescharre der Füße und dem Kollern und Rumpeln eilig zusammengeraffter Geräte, wie es die minutengenau eingehaltene Beendigung einer Schulstunde zu bezeichnen pflegt, war im Rahdeschen Aktsaal nichts zu hören. Wohl warf das Modell einen fragenden Blick zum Sitze des Obmannes hinüber, aber es dauerte noch etliche Minuten, bis dieser das Zeichen zum Abtreten gab.

Dann erst erhob sich langsam, zögernd, der Eine und der Andere, und indem er seine Kohlen versorgte und sein Messer zuklappte, warf er einen Blick auf die Staffeleien der Nachbarn, um zu prüfen, wie weit der und jener die Arbeit an diesem ersten Wochenabend geführt. Die letzten der Schüler waren noch immer in den Austausch ihrer Urteile vertieft, als die Uhr auch schon das Verstrichensein einer weiteren Viertelstunde verkündete.

Holleitner hatte sich mit Rolmers verabredet, nach der Schule Moralt aufzusuchen, und Äbi schloß sich 27 ihnen nun an. Sie standen alle drei auf freundschaftlichem Fuße mit diesem Kollegen, dessen großes malerisches Talent und dessen ganze geistige Persönlichkeit ihn zu einer der bedeutsamsten und meistversprechenden Erscheinungen der Rahdeschen Schule machten. Rolmers war in den drei Jahren, in denen sie sich kannten, sogar sein vertrauter Freund geworden.

»Diese vermaledeite Slowakenbande mit ihrem Modellpack im Gefolge!« stieß er zornig zwischen den Zähnen hervor, als sie zu Dritt aus dem dumpfen Hofgebäude an die frische Luft heraustraten, – »Alles ziehen die Kerle in den Schmutz ihrer eigenen Anschauung! Und was ist zu tun? Klug genug sind sie, ihr beleidigendes Geschwätz stets so im Ton der Schulkollegialität zu halten, daß man sie an nichts ordentlich Greifbarem fassen kann!

Moralt plagt sich in der Tat zur Zeit am Entwurf eines Bildes, wie es die Pöntl bezeichnet hat, aber wenn Ihr ihn erst in seinen Absichten begreift, so hat die Sache ein Gesicht, welches so ziemlich das Gegenteil ist von einem verrückten Unterfangen, als welches Podjenyi in seinem traurigen Verständnis für Kunst so etwas deutet.«

– In gemächlichem Schritt verfolgten die drei Maler die Augustenstraße. Rolmers hatte seinen Arm in den Äbis eingehängt, der dadurch eine fast drollige 28 Figur machte, indem er seinen Ellbogen so steif und dienstbereit darbot, als wäre das Armgeben eine wahre Aufgabe.

Er war von untersetzter, fester Statur. Seine kurze Nase, seine groben, braven Züge, die vollen Backen mit der gesund roten Farbe und der breite Nacken bekundeten überzeugend seine Abkunft vom Lande. Unter krausem Haar von brauner Farbe wölbte sich aber eine Stirn, welche, ohne in der Form vom übrigen, derben Charakter des Gesichtes abzuweichen, doch einen auffallend schönen Ausdruck zeigte. Der tägliche sorgenvolle Ernst eines mühseligen Lebenserwerbes hatte seine Spuren in dieses robuste Antlitz gegraben, und wenn Äbi sprach, so war immer etwas herauszufühlen, in Wesen, Sinn und Ton seiner Rede, von der Gediegenheit und Gefestigtheit eines Charakters, der sich reichlich im Feuer bewähren muß.

Er hatte, da von früh auf eine ausgesprochene zeichnerische Begabung bei ihm zutage getreten war, nach dem Verlassen der Schule beim Vater mit vielen Kämpfen die Zustimmung erwirkt, statt der Landarbeit einen Beruf zu erlernen, der seiner besondern Veranlagung entspräche, und war zuerst Lithograph geworden. Aber das hatte auf die Dauer seinem Bedürfnis nicht genügen können. Je klarer er mit den Jahren erkannt, was er zu lernen und zu leisten 29 fähig wäre, desto unwiderstehlicher hatte es ihn nach der freien Kunst hingezogen. Auf's Neue, und diesmal weit schlimmer als das erste Mal, hatte er mit dem bäuerlichen Vater den Kampf aufzunehmen gehabt, um nach beendeter Lehrzeit und zwei weitern Jahren der Arbeit bei seinem Meister, von dem er längst nichts mehr lernen konnte, fortzukommen, zur Malerei überzugehen und in der Fremde das gelernte Sichere gegen neu zu lernendes Unsicheres zu tauschen.

Der karge Lohn, den er als Gehilfe erhalten und den er durch Nachtarbeit noch ein wenig zu vermehren vermocht hatte, war dann, dürftig genug, die Grundlage zum Leben der ersten Zeit in München geworden. Seit langem aber arbeitete er, um überhaupt leben zu können, auch hier neben seinen künstlerischen Studien angestrengt für lithographische Anstalten weiter, und an manchem Morgen, wenn er in die Malschule kam, hatte er bereits drei Stunden peinlicher Arbeit – und kein Frühstück hinter sich. Er zeichnete nach Photographien die Porträts von Verbrechern zur Reproduktion in Polizeiblättern, eine Spezialität, die einträglich bezahlt wurde, aber auf sein ohnehin nicht leichtes Wesen zeitweilig einen düstern Einfluß übte und zudem stets eine eilige, gehetzte Herstellung erforderte.

Au Rolmers' anderer Seite ging das vollständige 30 Gegenstück. Franz Holleitner war der Sohn eines vermöglichen Malers in Wien; der Wahl seines Berufes hatte nie ein Hindernis im Wege gestanden, und auch sein äußeres Leben gestaltete sich, dank seiner glücklichen persönlichen Art, zu einer Wandeldekoration von fast lauter fröhlichen Bildern.

Er schwang, während er mit den Freunden dahinschritt, munter sein Stöckchen und sah jedem Mädchen, das vorüberging, unter die Nase.

Quecksilberig und elegant in Figur und Bewegungen, mit einem Ausdruck gutmütiger Leichtlebigkeit auf den regelmäßigen, nur etwas kleinen Zügen, und lebhaft schauend aus einem Paar prachtvoller brauner Augen, hatte der kleine Österreicher etwas von einem geistreichen Kerl und etwas von einem Tanzmeister an sich. Sein dunkles Haar, in natürlichen oder gebrannten Locken – wer wußte es gewiß – war stets sorgfältig in die Stirn frisiert, sein winziges Schnurrbärtchen gedreht, und er hielt viel auf geschmackvolle Kleidung.

Rings um die Drei regte sich im Zwielicht des herbstlichen Spätabends das Leben der Straße, welches um diese Stunde lebhafter war, als es tagsüber in jenen äußern Quartieren Münchens zu sein pflegt. Ein Blick die einförmig gebaute Straße und die wenig interessante Menschenreihe entlang gab dennoch 31 Rolmers Veranlassung zu behaupten: für ihresgleichen, Maler, sei, wenn sie so aus der Sphäre ihrer Schule oder ihrer Ateliers heraus ins Freie träten, alles, was München mit Ausnahme weniger Straßen an Leben biete, eine schreckliche Ernüchterung, stumpf und brutal. Er konnte das Getriebe von Paris mit seinem Zauber, mit seiner ununterbrochenen Anregung der künstlerischen Phantasie nicht vergessen, nachdem er dieses zu Anfang seiner Studien während mehr als zwei Jahren genossen und nur mit schwerem Herzen gegen München vertauscht hatte.

Aber er hatte es tun müssen, um mit dem Rest seiner geringen Mittel in billigeren Lebensverhältnissen, ohne lähmende Nahrungssorgen, wie sie ihm in Paris drohten, fertig studieren zu können.

Der junge, damals schon bedeutende Rahde, der bereits im Salon ausgezeichnet worden war, hatte während mehrerer Winter in Paris gemalt und war ein solches Semester hindurch jeden Abend im Aktsaal der freien Akademie Colla Rossi mit Rolmers zusammengetroffen. Mit den Verhältnissen des jungen, hervorragend begabten Norwegers einmal bekannt, hatte er ihm einen Freiplatz in der Malschule angeboten, welche er bei seiner Rückkehr in München zu eröffnen gedachte, und ihm so die Möglichkeit ruhiger Ausreifung verheißen. 32

Aber drei Jahre hatten nicht vermocht, in dem also Verpflanzten die Sehnsucht auszulöschen nach dem quartier Montparnasse mit seinen stillen Ateliers, darin die Auslese junger Talente aus der ganzen Welt sich erschöpfte in unausgesetztem Ringen um das Ziel, das sich Jeder gesetzt, darin gearbeitet und gelitten wurde mit einem künstlerischen Überzeugungstrotz ohnegleichen, und geträumt, heiß, leidenschaftlich geträumt, mitten im vollen Kampf des Lebens noch mit dem trostseligen, naiven Kinderglauben der Jugend geträumt, von endlichem Ruhm und Glück. Drei Jahre hatten bei ihm nicht das Bedürfnis aufgehoben, in der Fülle eines Lebens seine Anregung zu holen, wie er es in der Promenade-Wallfahrt der Champs-Elysées, in der raffinierten Vornehmheit der rue royale und der Bummlerflut der großen Boulevards mit immer neuem Entzücken und mit immer neuem Gewinn hatte studieren können.

Ach, wenn er daran dachte: dort das Fiebern und Schillern und Blitzen eines endlos dahinwogenden Menschenstromes in tausendfacher Abwechslung der Köpfe und Figuren, ein unerschöpflich sprühendes Leben; Intelligenz und Reiz, Geist und Temperament auf den einen Gesichtern, Erlebnis und Kummer oder unheimliche Schlauheit und verbrecherische Geriebenheit auf den andern, aber überall Leben, echtestes 33 Leben, überall Charakter und Bild; – dagegen hier die ewig gleichartigen Menschen, die wenigen Fuhrwerke, das unendlich lahme Tempo.

»Es ist trostlos uninteressant!« seufzte er. Und der Augenblick schien ihm recht zu geben.

Vor ihnen bewegten sich ein paar Weiber mit schlappenden Schuhen und schmierigen Schürzen; die liefen mit dem unvermeidlichen Maßkrug nach Bier.

»Seht diese Typfiguren!« machte Rolmers seine Begleiter aufmerksam, »seht diese Gleichgültigkeit, diese Temperamentlosigkeit in all den leeren, dicken, bald roten, bald bierfahlen Gesichtern, die vorüberkommen, diese geschmacklosen Toiletten, dieses Mangeln aller Freude an gefälliger Erscheinung. Wo bleiben schöne Frauen und Mädchen? Man wäre wahrhaftig versucht anzunehmen, es sei hier Alles, was geht und steht, dasselbe materielle, massive Geschlecht, das im Alltag des gedankenlosen Dahinlebens aufgeht. Und doch gibt es Menschen genug in München, die anders sind. Warum diese nie im Leben der Straße mitwirken? Wenn ich einen von ihnen sehe, ist er vereinzelt wie eine Perle im Sand.«

Sie waren an die Kreuzung der Augusten- und der Briennerstraße gekommen.

Im blassen letzten Schein des westlichen Himmels baute sich da plötzlich ein wahres Bild auf; in 34 geschlossenen Massen, duftig im Ton. Die Freitreppen, die Terrassen und Hallen des Löwenbräukellers stiegen empor, malerisch gegliedert, bis zum spitz aufragenden Helmdach des Turmes, kahle Bäume zeichneten feine Linien zwischenhinein in die freie Luft, und die abschließende Mitte des Hintergrundes bildete in massiger, dunkler Silhouette der zackige Giebel des Arzbergerkellers. Ein weißer, lustig wirbelnder Rauch und das bunte, grüne, rote und gelbe Lichtergeschwirr eines daherrumpelnden Zuges der Straßenbahn, welcher von dem stillen, parkumzogenen Nymphenburg zurückkehrte, mischte sich in das Zwielicht der elektrischen Lampen und des verbleichenden Himmels und erfüllte das ganze linienkecke Bild mit den mannigfaltigsten, feinsten Farbentönen.

»Himmel! tausend! ha!« rief Holleitner, welcher Landschafter und nur Landschafter, modernster, naturwahrheitswütiger, sogar bis zu gewissem Grade kompositionsfeindlicher Landschafter und Freilichtfanatiker war und am Aktzeichnen mit den Andern nur noch weiter so eifrig teilnahm, um sein exaktes Sehen und sein Zeichnen auf's Raffinierteste zu vervollkommnen. »Ist das fein! ist das pikant!« stieß er hervor und blinzelte studierend mit den Augen.

Die Andern prüften und bewunderten ebenfalls.

»Was wollt Ihr da lange komponieren?« fuhr er 35 los, da sie noch schwiegen, »schaut Euch doch so was in der Natur an!«

»Fein, fein, in der Tat!« sagte Äbi.

Der Zug hatte angehalten. Die farbigen Flämmlein standen still. Der weiße Rauch zog ruhig an ihnen vorüber, so daß sie zarter wirkten, und webte dann, vom Schein des elektrischen Lichtes durchzittert, über den gelblich blassen Westen einen silbernen Schleier von wunderbarem Duft.

Der Kleine geriet, je länger er hinschaute, desto mehr in Ekstase.

»Wenn man doch nur mit seiner hundselendigen Schmiererei so weit wäre, so etwas erträglich wiederzugeben, nachdem man es zwingend, wie hier diese Abendstimmung, in den Leib gekriegt hat!« Und da ihm Keiner darauf erwiderte, antwortete er sich gewissermaßen selber: »Derlei mögen die Franzosen und die Holländer machen, oder ein Menzel oder Whistler, unsereiner ist ein trauriges Jammergeschöpf! Zum Teufel mit der ganzen Malerei! Ich möchte den ganzen Rumpel in eine Ecke schmeißen, wenn ich so etwas sehe. Was will man sich abquälen, etwas zu malen, was man doch niemals auch nur annähernd zu geben vermag, wie es die Natur geboten hat? Wer den Sinn dafür hat, soll spazierengehen und seine Augen aufsperren; dann sieht er, was wir jetzt da sehen, und 36 sieht es viel schöner, als wenn es ihm unsereiner vorschmiert, genießt es hundertmal reiner, als in unseren bestzurechtgequälten Abklatschen – diesem jämmerlichen Unter-die-Nase-Schieben auf der Leinwand!«

Eine neue Wirkung war in das Straßenbild gekommen: im Innern des Löwenbräukellers und auf der Terrasse waren die elektrischen Lampen soeben auch noch erglüht, und die Architektur zeichnete sich plötzlich kraftvoll, mit prächtiger Präzisheit in den Vordergrund des Ganzen. Die Säulen, die hellen Balustraden, die breiten, weißen Treppenaufgänge vom Garten zur Terrasse, Alles trat plastisch aus den tiefer gewordenen Abendschatten hervor und baute sich in das märchenhafte Dunst- und Lichtmeer wie ein Zauberschloß.

»Seht doch!« rief Holleitner, den die immer interessanteren, immer unmöglicher zu malenden koloristischen Effekte da vor ihnen zur Verzweiflung brachten, – »wer wollte sich unterstehen, das zu machen? Wahrhaftig, nicht Bilder malen sollten wir, sondern diejenigen Mitmenschen, welche Sinn für Bilder haben, um das gleiche Geld malerisch sehen lehren, welches man sich sonst mit seinen Bildern verdienen muß!«

»Bravo! bravo Kleiner, immer toll drauf los!« klopfte dem losgelassenen Teufelchen der große Rolmers auf die Schulter. »Da haben wir einmal aus 37 deinem eigenen Munde die letzte Konsequenz Eurer alleinseligmachenden Richtung, in welche Ihr, exklusive Landschafter, unsere gesamte Malerei drängen möchtet. Wenn die Kunst im malerisch geschulten Sehen und virtuosen Wiedergeben der Wirklichkeit, und in weiter nichts bestehen soll, dann hast du so recht, daß dir nur ein Dummkopf oder ein Unehrlicher widersprechen wird. Dann würde ich mich allerdings morgen schon auf das Stundengeben im malerischen Anschauen der Natur einüben, statt die handwerkliche Schinderei fortzusetzen; denn die kann auch im glänzendsten Falle nur zu einer relativen und unzulänglichen Fähigkeit im Wiedergeben des Geschauten führen. Aber, mein Lieber,« – und er klopfte ihm noch stärker auf die Achsel – »wenn ich mit meiner Kunst noch Anderes zu sagen habe, als was ich auf der Gasse fand, und was die Menschen selber dort auch sehen können, sofern sie Augen haben, dann bleibt mir meine Malerei trotz der tausendmal wunderbareren Natur noch vollauf berechtigt. Denn was in mir, dem Künstler, und einzig in mir erblühen kann, eben weil ich anders als sie, weil ich Künstler bin, das muß ich den Menschen vermitteln, und dazu sind mir meine handwerklichen Studien unumgänglich vonnöten. Um dieses Zweckes willen sind sie aber auch wert, durchgeschunden zu werden, so jämmerlich sie lange Zeit hindurch scheinen, und 38 so relativ das endlich errungene Können sein mag – unerbittlich durchgeschunden, bis meine Hand fähig ist, das was ich zu sagen habe, so hinzuschreiben, wie ich es bedarf!«

Holleitner brummte etwas.

»Ich vergleiche mich darin einem Komponisten,« schloß der Andere – »der die Orchestrierungskunst bis in alle Errungenschaften der neuesten Periode studieren will, aber nicht, um wie Ihr, dann gewissermaßen bloß eminente Orchestereffekte zu erzielen, sondern um endlich unbeschränkt seine Seele ausmusizieren zu können.«

Rolmers, der meist so wortkarge Rolmers, wenn von Kunst gesprochen wurde, war laut und eifrig und gar doktrinär geworden, und sie standen noch immer an der Ecke vor dem Straßenbild.

Die Dienstmädchen, welche mit den Bierkrügen nach dem gegenüberliegenden Restaurant Walhalla liefen, sahen den predigenden, großen Menschen lachend an, wenn sie an den drei Herren vorüberhuschten, die da so hartnäckig das Trottoir versperrten. Aber Keiner von ihnen merkte es.

»Wollen Sie hier übernachten?« fragte endlich eine gaumige Stimme, und Harkmer stieß Holleitner sanft in den Rücken. An seiner Seite ging die Pöntl, der er in der Schule noch gewartet hatte. In der 39 Dämmerung unterschied man auf ihrem Kopf die Umrisse eines immensen, breitkrempigen Federnhutes, der wohl den Weg von seiner ersten Besitzerin zu ihr durch den Trödlerladen gemacht hatte und zu den abgetragenen Kleidern des Modells seltsam kontrastierte. Sie drückte sich vorüber, ohne zu grüßen; schwänzelnd ging sie ihrem Begleiter voraus, während dieser mit den Dreien noch ein paar Worte wechselte.

Dann setzten auch die Freunde ihren Weg fort und sahen vor sich die Gestalten des Paares in der hellen Türe des Gasthauses verschwinden.

Es war fast Nacht geworden, als sie die Findlingstraße an der Theresienwiese erreichten; die äußerste Straße der Stadt gegen Süden. Diese Straße, die das seltsamste Durcheinander von geschmacklos überladenen Mietsbauten und von originellen Villen zeigt, die Straße, die wie keine andere den Doppelcharakter des modernsten architektonischen Münchens trägt: spekulierendes Protzentum und ungebundenes künstlerisches Element. Charakteristisch stehen die Bauten der Geldsäcke steif in Reih und Glied auf der einen Seite der Straße, während sich die Häuser der Künstler in unregelmäßig eingeteilten Arealen in der Theresienwiese verlieren.

Keine dieser Villen wie die andere, aber alle eigenartig, in unabhängiger, freier Stilbehandlung, 40 reizvoll durch überraschende Lösungen, durch malerische und zugleich trauliche Einzelheiten. Die einen behäbig in einfachen, schönen Verhältnissen der Renaissance, die andern lustig, zuweilen ein wenig schwerfällig in ihren, auf heutige Bedürfnisse angewandten, verbreiterten Formen des Zopfstils; aber immer überzeugend Schöpfungen eines Künstlers.

Hinter diesem Villenviertel dehnte sich die Wiese hin und verlor sich in der Dämmerung. Fern im Süden über dem Vorland lag jetzt noch, mehr zu ahnen als zu erkennen, ein lichterer Streifen: die Gebirge des bayrischen Hochlandes.

In jenem Quartier befanden sich auch in den Höfen und Hintergebäuden der Reihenhäuser eine Anzahl Ateliers, und eines von diesen bewohnte seit mehr denn einem Jahr Konstantin Moralt. 41

 


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