Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Friedlich regte sich unter den Fenstern das Leben des Dorfes. Im warmen Schein der Herbstsonne, die Tag für Tag aus einem wolkenlos blauen Himmel niederstrahlte, setzte sich Tino um Mittag gewöhnlich auf seine Laube und sah hinab. Da blinkten rings im weiten Tal die hundert grauen Dächer der Häuser und der zerstreuten Heustadel. An den tiefern Hängen tönten noch immer die Glocken einzelner kleiner Herden, und ein geschäftiges Rauschen, Klopfen und Hämmern drang herauf aus Gassen und Landschaft. Die Weiber legten ihre Wäsche an die Sonne in die Wiesen, die Männer zimmerten den Winterstall für die Schafe vor den Scheunen draußen zurecht. Aus einzelnen Tennen erscholl das rhythmische Klopfen der Drescher, ihrer drei, ihrer sechs, ihrer acht. Moralt liebte es, sie zu zählen. Er erriet mit Sicherheit die Zahl der Drescher aus dem Rhythmus des Klopfens.

Schlank wie ein Pfeil stieg der Turm der Dorfkirche in die reine Luft empor und zeichnete sich mit seinen Schieferziegeln in bläulich metallischem Glanz ab auf dem weißen Duft der hohen Schneehäupter, die dort drüben den Horizont abschlossen. Und die 168 Türen und die Fenster der Bauernhütten standen weit geöffnet. Bunt im Schmuck ihrer letzten Blüten prangten die Blumenstöcke auf den Simsen, während ein leiser Luftzug einzelne farbige Blätter von den Bäumen löste und in freundlichem Spiel auf die Dächer streute.

Zu den beschaulichen Stunden, die er so auf seiner Laube verbrachte, kamen bald die näheren und weiteren Wanderungen, welche er, angelockt durch die einsame Pracht der Gegend, täglich unternahm. Voll wechselnder Eindrücke und doch von einer Grundstimmung, hatten sie in dieser ersten Zeit alle nur die eine Wirkung auf sein Gemüt: ein Einlullen in resignierte, milde Melancholie. Durch die verlassenen Höhen, von denen Hirt und Herde schon abgezogen waren, streifte er bald am liebsten. Keine Seele weitum. Nur das Wild, das ihn neugierig und erstaunt betrachtete, wenn er über einen der hügeligen, welligen Grashänge heraufklimmend, plötzlich in ein kleines Hochtal trat, wo Rehe mit ihren Jungen oder Hirsche mit ihren Tieren beisammenstanden. Mit großen, dunkeln Augen sahen sie ihn an, blieben einen Augenblick stutzig und sprangen dann bergan. In den höheren Regionen sah er zuweilen im Geschröff die Gemsen weiden. Tiefer schon ließen sie sich herab gegen das Tal, und auf dem hellen Felsgestein zeichneten sich 169 deutlich ihre schlanken Körper mit dem dunkler werdenden Winterfell ab. Immer höher hinaus dehnte er seine einsamen Wanderungen aus; durch die Hochwälder hinan, auf entlegene Alpen, nach wilden Geröllhalden, die nur des Jägers Tritt sonst berührte.

Hoch droben über der Hälfte des gewaltigen Bergrumpfes im Norden, der wie ein gigantischer Klotz aus vorsündflutlichen Zeiten über dem Dorf aufragte, dunkel und trotzig, mit wilden, zerrissenen Formen und struppig düstern Waldflecken, fand er eines Tages eine kleine Alm, die von unten gar nicht zu sehen gewesen war. Arm und niedrig, auf einem Wieslein am Felsvorsprung die Hütte, seit dem Spätsommer schon verlassen. Auf dem Rasenfleck davor, dem Talgrund zu und gegen die schneeigen Firnen hinüberschauend, ragte ein großes, wettergebleichtes Holzkreuz still in die Luft. Und um das verlassene Hüttlein schwirrten im warmen Schein der Nachmittagssonne ein paar müde, große Käfer. Die Türe des kleinen, aus rohen Balken gefügten Pferchs für die Ziegen und Schafe, welcher die hintere Hälfte des Gebäudes bildete, stand noch geöffnet, das Hüttchen selber verschlossen. Zwar die Läden der zwei kleinen Fensteraugen waren offen geblieben, und die einzige Scheibe, aus der solch' ein Fensterlein je bestand, strahlte mild das Blau des Himmels wieder. 170

Der Wanderer trat an die Tür. Ein einfacher hölzerner Nagel, der an einer Schnur am Türpfosten befestigt war, steckte als Verschluß in einem Ring der Türe, und zu dem kleinen eisernen Schloß ohne Schlüsselloch lag der rostige Griff oben auf dem Balken. Moralt steckte ihn ein und öffnete. Ein Schmetterling, der auf den besonnten Steinen der Mauer geschlummert hatte, flog auf. Die Tür war so niedrig, daß man sich bücken mußte. Ein Kreuz war in ihre dürren, braunen Bretter eingeschnitten und unbeholfene Buchstaben in Tür und Pfosten zeigten Namen von Jägern und Hirten, welche der Hütte ihren Besuch gemacht.

Das Innere bildete einen einzigen Raum und war vom Rauch geschwärzt. Der Wind sang leise durch die Schindeln. In der Mitte des Gelasses ein viereckiger Haufe von Felsblöcken, ursprünglich und roh, wie vor Jahrtausenden die Völker dieser Lande ihre Herde gebaut haben mochten, wie ein Opferaltar der ersten Bajuvaren. Ein paar Kohlen lagen vergraut in Asche und gelblichem Staub. Lange schon mußte der Hüterbub abgezogen sein. Drüben aber in der Ecke über der harten, einfachen Lagerstatt, drauf dürres Reisig ausgebreitet lag, waren neben dem Madonnenbild und dem Weihwassergefäßchen blinkende Silberdisteln aufgesteckt, und ihre zackigen, 171 strahlenförmigen Blätter schimmerten noch frisch im Grün, als wären sie erst gestern hingesteckt worden, auf der dunkeln, verrauchten Wand. Gruß eines weichern Sinnes in all der herben, rauhen Ärmlichkeit dieser Hirtenbehausung. Der Rest eines Stoßes Brennholz, zerstückelte Föhrenäste, lag in der Ecke hinter der Tür, und im unverschlossenen Kasten sah Tino die Schüsseln und hölzernen Löffel des Hirten. Welche Dürftigkeit und welcher Friede in diesem Raum! Wie mußte es da zu leben sein ohne Kenntnis der Welt und ohne ein verzehrendes Feuer in seiner Seele, wie er es hatte, – allein mit seiner Bergwelt, seiner Herde und einem frohgesunden Sinn!

Das farbige Madonnenbildchen war der einzige Reichtum in dieser kleinen Welt. Tino betrachtete es mit einer gewissen Pietät; er fühlte sich da eingedrungen in die Intimität einer herzenseinfältigen Existenz des Friedens und des Frohsinns in Armut. »O Maria, Königin des Rosenkranzes, bitte für uns« – stand darunter in goldenen Lettern gedruckt. Wie oft schon mochte der Hirt diese paar Worte gelesen haben, wenn er an trüben Tagen, da die Herde eingetrieben war und der Sturm um die Hütte pfiff, auf der Wandbank saß, so mutterseelenallein, und keine andere Unterhaltung hatte, als seine Augen an den Mauern seines kleinen Heims umherschweifen zu 172 lassen. Wie oft auch mochte er dann den Kalender gelesen haben, von dem das Titelblatt, mit einem leeren blauen Tabakpaket zusammen, noch dort lag, – den Kalender, sein einziges Buch, mit den paar simpeln Geschichten von der Welt da draußen hinter den Felswänden; wie oft auch die Aufschrift des Tabakpapiers und den Preis: »das Paket 16 Pfennige!« – Von dem geringen Hirtenlohn mußte ein Kleines wenigstens in Rauch aufgehen! Wie glücklich ein Mensch, dem derlei sein Höchstes bedeutete!

In der dreieckigen Nische der Mauer über der Lagerstatt, die als Behälter diente, entdeckte der einsame Besucher jetzt noch, sorgfältig mit einem Stück Felsstein beschwert, ein vergilbtes Papier, darin lag ein Bild und ein bedrucktes Blatt. Das faltete er auseinander: »Eine kurze Geschichte des traurigen Endes Seiner Majestät, des Königs Ludwig II.«

Er nickte, als hätte er sich so etwas gedacht. Bis in die letzte Hütte lebte ja in diesem Bergland die Verehrung fort für den toten Herrscher. Die Bauern, die Jäger, die Hirten, die Holzknechte – alle sprachen sie von ihm mit Begeisterung, von seinem Tode nur mit Wehmut und Scheu. Etwas Dunkles, was sie nicht begriffen, mußte ihren einsamen Herrn, den sie als größer und schöner und stärker denn alle anderen Menschen im ganzen Lande schilderten, plötzlich 173 erfaßt und vernichtet haben. Sein Bild fehlte in keinem Haus, in keiner Wirtsstube; nun traf er es auch hier oben, im letzten armen Hirtenhüttchen, samt der Geschichte des tragischen Endes sorglich eingehüllt und aufbewahrt in der Wandnische über der harten Lagerstatt eines Hirtenbuben. Sorgsam legte er es wieder an seinen Ort, verschloß die Hütte und setzte sich draußen auf den Ahornstamm, der die Bank bildete.

Da ragten rings um ihn die Berge in die reine Luft; der Schnee der höchsten Spitzen glänzte hoheitsvoll herab in die weite, selige Nachmittagsstille der ersterbenden Natur; von drüben aber, von steiler Felsenwand, sah er plötzlich, verlassen in des Hochgebirgs Ureinsamkeiten, ein Schloß des toten Königs niederblinken, – das entlegenste, höchste. Da starrte er hinüber, wie gebannt. Entrückt in lichten Höhen stand es vor ihm da, wie das Denkmal einer untergegangenen Märchenwelt; – ein geisterumschwebter Ort, der ein unenthülltes Mysterium umschlossen: die tragische Geschichte einer großen, einsamen Menschenseele.

Er mußte verweilen und schauen, es anschauen, immerzu, versunken tief in Gedanken, – bis die Sonne sich dem Rande des Gebirges im Westen näherte und das verwitterte Kreuz vor ihm auf dem Wieslein lange abendliche Schatten herüberwarf. 174

 


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