Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Am Christabend, da es zu dunkeln begann, stand Tino lange am Fenster und schaute hinab. Den alten Postboten hatte er schwerbeladen von Hütte zu Hütte gehen sehen; zu ihm herauf hatte er nichts zu bringen gehabt. Betrübt betrachtete er die Landschaft.

Seit einer Woche war der Winterschnee endlich da; es hatte gewirbelt, unaufhörlich, Tag und Nacht, und aus dem Gestöber hatte sich heute zum erstenmal ein reiner, kalter Abend herausgelöst.

Nun blinkte es von silbernem Frost auf Busch und Gehegen, blinkte mit Millionen Diamanten auf der frischen, weiten Schneedecke, die so still Gebirg und Tal umhüllte, die auch das kleine Gärtchen und die alten Bäume bedeckte, rings um das Berghäusl; und ein weicher, traulicher Friede ging herüber und hinüber durch die kleine bergumschlossene Welt, die plötzlich noch kleiner, die enger, die häuslicher geworden zu sein schien. Wie die schwerbeladenen Äste ihre schimmernde Last über die Fenster herbogen, gleich einem bergenden Dach! Wie das hochverschneite Geländer des Altans beschützend das kleine Heim des 282 Einsamen umfriedete! Wie Alles, Alles zusammengerückt schien und nach innen drängte, nach einem Herd, nach Menschen und Liebe!

Durch die späte Dämmerung glitten drunten eilige Gestalten und huschten in die Türen, sorgsam bergend, was sie zum Christkindl noch eben beim Krämer geholt. Wohlig deckten gaßauf und gaßab die schneeschweren Dächer das alte Gemäuer der Hütten, die schon so unzählige Male hatten Christfest feiern sehen. Da und dort hinter den rotverhangenen kleinen Fenstern leuchtete schon ein hellerer Schein auf, als das Lämpchen oder der altehrwürdige Span zu spenden vermocht hätte, und durch die Scheiben, die sich mit festlichen Eisblumen zu schmücken begannen, ertönte es von Kinderstimmen im Chor gedämpft in die Gasse hinaus und schwebte zuweilen verloren – just eine Ahnung von Klingen – zur Halde empor.

Da wandte der Einsame sein Gesicht ab und schob seine Vorhänge langsam zusammen. An diesem Abend auf einmal sehnte er sich nach einem Menschen, der neben ihm säße, der ihm etwas Liebes sagte; in dieser Stunde zum erstenmal vermißte er einen Freund. Es war licht in seinem Kopf; er empfand deutlich und tief die Situation. Sinnend legte er sich auf sein Ruhebett und sah zur Wand empor. Der kleine, billige Raffael-Engel in seinen unbeholfenen Farben 283 schaute im matten Licht der Lampe freundlich auf ihn nieder. Den betrachtete er lange. Und andere Zeiten und andere Weihnachtsabende tauchten vor ihm empor.

Welch' eine schöne Stimmung hatte seine Mutter, seinen Vater und ihn an diesem Abend stets vereint! Die Liebe der Beiden zu ihm war nie so schön hervorgetreten als da. Und sie waren immer alleingeblieben an diesem Tag, ganz allein, nur sie Drei; es war ihr eigenstes Fest gewesen. Des Vaters edle Güte und Milde bei aller Energie, bei all seinem tatkräftigen, warmblütigen Wesen, seine Liebe, sein Glücklichsein in der Häuslichkeit waren es ja eben gewesen, die Tino waffenlos gemacht hatten gegen seinen Willen, und ihn nach den ersten fruchtlosen Kämpfen den Zwiespalt ihrer Wünsche so wenig berühren ließ, als es ging.

Er hatte gelächelt, wenn sie zu Dritt vor dem lichterfunkelnden Baum gestanden, und hatte der Liebe, die ihn überschüttete, ein glückliches Gesicht gezeigt. Und darin, daß er die Eltern glücklich machte, war an jedem Weihnachtsabend auch er ja wirklich glücklich gewesen. Erinnerung um Erinnerung schwebte vor dem Einsamen empor, quoll gleichsam in lichtem Schein aus dem stummen Dunkel des Zimmers und umzog ihm Kopf und Herz mit erstickender Wehmut. 284

– Aber der milde Schmerz um jenes verlorene Glück blieb nicht lange in ihm. Die Gegenwart fing an, die freundlichen Bilder zu verdrängen. Dem webenden Dunkel entstiegen düsterere Gestalten. Die Phantasie, von den Verwirrungen der Krankheit auf eine Stunde befreit, begann zu arbeiten, ihre Wanderung zu machen durch die Schatten des Raumes.

Und sie führte ihm die Bilder der Vielen herauf, denen er mit seinem Herzen nahegestanden, seine ganze Jugend entlang, daheim, in Paris, in München, und die ihn heute alle vergaßen. Und das Christkind vergaß ihn auch. Und doch wäre sein dunkel gewordenes Gemüt eines freundlichen Freudenscheins so bedürftig gewesen, wie tausend Andere es nicht waren. Aber – den das düstere Los gezeichnet hat, vergessen Alle, Christkind und Menschenvolk! Oh nur Einer, der ihm in diesem Augenblick gezeigt hätte, daß er ihm etwas sei; nur ein Wort, an ihn gerichtet, von jener Liebe, die sie zu dieser Stunde sagten und sangen in der ganzen Welt! Aber nichts!

Ein ungeheures Liebebedürfnis erfaßte ihn im tiefsten Grund der Seele, – und eine Leere, erbarmungslos und dunkel wie die ewige Nacht, tat sich als Antwort gähnend vor ihm auf. Da sprang er von seinem Lager und lief wie von unsichtbaren Stimmen gehetzt durch das Zimmer. 285

»Siehst du, siehst du, das ist der Liebe Dank, die du der Welt gegeben!«

Flammender, heiliger Zorn lohte in ihm empor. Da stand es plötzlich vor ihm, Alles, wie ein überreicher Schatz, den seine Seele zum erstenmal in seinem Wert erkannte, was er in seinem Leben an Freundschaft, an Liebe, an treuester, unveränderlicher Liebe an Viele ausgesät hatte. Stolz, erzürnt, in edlem Selbstgefühl ward er sich dessen bewußt. Ja! es brauchte keine falsche Bescheidenheit, es brauchte kein Verhehlen: er hatte gegeben, wie wenig Andere es vermocht; er hatte hingebend sein können für Anderer Glück von klein auf; es war ein Erbteil von seiner Mutter; er hatte das Beispiel vor Augen gehabt und es befolgt, ohne zu wissen, daß es anders sein könnte. An Dank hatte er nie gedacht, nie auf Vergeltung gerechnet. Aber in dieser Stunde ward ihm doch klar, wie schnöde sie ausgeblieben. Nichts, nichts erntete er dagegen. Oh, sie waren Alle gleich! Jeder ging seiner Wege, und ihn ließen sie herzlos den seinen gehen, allein, so unglücklich, so krank, so verlassen er sein mochte. Der Welt Lauf! Ah, er hatte genug von dieser Welt!

»Friede auf Erden, Friede auf Erden,« murmelte er vor sich hin, – »wie kannst du ihn Millionen Andern heute geben und mir nicht, mein Gott!« 286

Er warf sich wieder auf sein Ruhebett.

»Oh es gibt nur eine Liebe, die unvergänglich ist auf Erden: die Liebe einer Mutter! Und die auch ist mir geraubt! Wohin lege ich mein Haupt, wenn es brennt und schmerzt, wohin berge ich meinen Gram? Ist denn nichts, nichts für mich? Und diese Seele zu haben, die es ersehnt und heischt, die sich verzehrt vor Armut und Hunger und Weh!«

Ein Rasen überkam ihn, das Rasen der Enterbten und Verkürzten im Augenblick, da ihnen die Erkenntnis kommt. Sein Leben erschien ihm in dieser Stunde ärmer als das des Ärmsten. Wo, wo war da Weihnacht und Trost?

»Mutter!« – schrie er plötzlich in das schweigende Haus; – – – – – – eine schauerliche Stille folgte dem Schrei.

Er schaute in's Dunkel, wartend, als müßte daraus in wehenden Schimmern ein Wunder der Barmherzigkeit erstehen.

Dann stürzten die Tränen aus seinen Augen; er brach zusammen. – Es war kein Wunder geschehn. 287

 


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