Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Im Abendkurs der Rahdeschen Privatmalschule in München, in dem nach lebendem Modell gezeichnet wurde, war eben Pause.

Von der Turmuhrenfabrik drüben an der Theresienstraße, welche diesem Viertel gewissermaßen einen Kirchturm ersetzt, hatte in gellen Glockenschlägen fünf Uhr herübergeklungen, und die Schüler standen, ihre steifgesessenen Beine dehnend, zwischen den Staffeleien herum, teils einzeln, ihre Arbeit mit derjenigen der Nachbarn vergleichend, teils in Gruppen beisammen, aus denen ein lärmendes Durcheinander von Disputieren und Gelächter erschallte.

Der große, niedere Saal lag im Erdgeschoß eines Hofgebäudes und bot Raum für zwanzig Zeichnungsplätze, welche je aus einem dreibeinigen Sitz und einer Staffelei bestanden, mit Nummern versehen sich im Halbkreis um das Podium gruppierten, auf welchem das Modell stand, und jedesmal auf's Neue unter die Teilnehmer des Kurses verlost wurden, wenn das Studium eines Körpers beendet war und eine neue Aufgabe mit einem andern Modell gestellt wurde. Im Übrigen entbehrte der Raum jeder Ausstattung 8 und zeigte jene ungemütliche Allgemeinheit, wie wir sie in den Lokalen öffentlicher Verkehrsanstalten, in Post- und Eisenbahnbureaus zu sehen gewohnt sind.

Auf die leeren Wände mit ihrem eintönigen, schmutzigen Grau hatte da und dort eine mutwillige Hand einen verwegenen Akt skizziert oder die Karikatur eines Nachbars hingezeichnet, und Adressen von Modellen und schlechte Witze auf Kollegen standen mit Kohle angeschrieben. Über den Boden hingestreut lagen zwischen zahllosen Papierschnitzeln überall kleine Kreidestücke und Kohlenbrocken, die unter den Füßen der jungen Leute knisternd zu Staub zertreten wurden. Auch das zinnene Gießfaß in der Ecke schien kein Luxus zu sein; denn unaufhörlich gurgelte das Wasser ins Becken nieder, und Einer löste den Andern ab, seine Hände zu waschen, während von Jedem zum Folgenden die dahängenden zwei Handtücher sich dunkler mit Kohlenfingern und Farbflecken bedeckten und schließlich als abscheuliche Schmutzlappen von ihren Nägeln niederhingen.

Eine schwüle, überheizte Temperatur machte sich fühlbar. Man war schon in der Mitte des Oktober, und die Hitze der Gasflammen hatte die an sich schon große Wärme erhöht, welche in den Aktsälen unvermeidlich ist, wo eine Person stundenlang ohne Bekleidung dastehen soll. Dabei erfüllte ein dampfiger 9 Geruch die Luft, ein Geruch von vielen Menschen, von zerstäubtem Spiritus, Terpentin und Seife, durch den wie verloren Atome von Orangenduft zogen.

Mit der Unsicherheit, welche ein böses Gewissen gibt, war ein schmalbrüstiger junger Mensch auf einen Stuhl gestiegen und öffnete verstohlen in der Höhe ein Spältchen weit sein nächstes Fenster, derweil ein anderer, rund und rosig, noch ganz Kinderstubengesicht, daneben Wache stand, – ob es nicht bemerkt würde; denn es galt als unstatthaft.

»Es war heute auch zu unausstehlich in diesem Loch!«

Sie schimpften jeden Abend und kamen jeden folgenden Tag mit demselben Eifer und Interesse für ihre Studien wieder; blieb ihnen doch dieser schwüle Saal eine der unumgänglichen ersten und niedrigsten Werkstätten ihrer Kunst, die Jeder passieren mußte.

Der Laie, der mit der stufenweisen Entwicklung, mit dem Werden eines Künstlers und mit dem Entstehen der Werke bildender Kunst nicht bekannt ist, der nur das schöne schließliche Ergebnis sieht und sich durch dieses erfreut und erhoben fühlt, hat im Allgemeinen kaum eine Vorstellung davon, daß die ersten Phasen den Künstler durch die gleichen niederen Stufen der Arbeit, durch Schmutz und gemeine Dunstatmosphären geführt haben, wie zum Beispiel den technischen Arbeiter, der 10 in dem rußigen, schmierigen Eisenwerk unter rohen Gesellen seine Lehrjahre gemacht hat, und dessen genial ersonnene, in blinkenden Metallen ausgeführte Maschinen dann eines Tages die verzogenste Dame im sonnigen Palast einer Ausstellung bewundert, ja, gar mit den Spitzen ihrer behandschuhten Finger betippt.

Die Schule von Stephan Rahde war zur Zeit so ziemlich die gesuchteste von allen Privatmalschulen am Ort. Der Meister, ein Hannoveraner, hatte seine Studien in München gemacht, in Paris fortgesetzt, später wechselnd hier und dort gearbeitet, Reisen unternommen und sich mit einer Reihe von schönen Erfolgen auf verschiedenen, auch ausländischen Ausstellungen Namen erworben. Da er aber zu erkennen geglaubt, daß er dennoch mehr zum Lehrer geschaffen, als genügend produktiv veranlagt sei, hatte er nach einigen Jahren die Schule gegründet, um so – einesteils durch deren materielles Erträgnis, andernteils durch die Befriedigung in der ersprießlichen Lehrtätigkeit – seiner Produktion einen freieren, mehr nur den guten Stunden belassenen Spielraum zu schaffen.

Vollständig die Anschauungen der modernen Franzosen vertretend, war er nach München in jenem günstigen Augenblick gekommen, da die ganze junge Künstlerschaft sich mit Begeisterung dem strengen und intimen Naturstudium zuzuwenden begann, das von 11 Paris mit so großem Ernst und so bewundernswerter Konsequenz betrieben, Jahr um Jahr durch seine Errungenschaften mehr Anerkennung eroberte und in Deutschland mehr Anhang gewann.

Rahdes Art, die Schüler sehen zu lehren, ihre Empfindung für Formen und Farbe zu bilden, war eigenartig, anregend und ingeniös, seine Technik glänzend, seine Anleitungen darin einleuchtend und glücklich. Dazu war er mit vollem Interesse bei seinen Klassen, und kaum ein Tag verging, an dem er nicht in seinen sämtlichen Ateliers erschienen wäre, wenn auch nicht zur Korrektur, so doch auf Augenblicke, um zu sehen, ob niemand seines Rates bedürfe.

Nicht minder denn als Lehrer imponierte er den Schülern als Persönlichkeit. Über die Mitte der Dreißig, war er eine große, stattliche Gestalt, dunkelblond, mit einem Kopf, wie man ihn in den Gelagen von Franz Hals trifft. Starkes, kurzgeschnittenes Haar, spitzer Bart zu vollem Gesicht, und ein Paar große, graue Augen voll Feuer. Energisch, aber dabei eine duldsame Natur, blieb er mit dem schwächsten Schüler so lange geduldig, bis er die letzte Möglichkeit schwinden sah, daß sich Talent offenbare; dann aber war er von rückhaltloser Offenheit und verweigerte unerbittlich weiteren Platz in seiner Schule. Seine vornehme Art zu korrigieren zwang die 12 Schüler, an sich selbst die höchsten Anforderungen zu stellen; denn er brachte ihnen einen Respekt vor allem Talent entgegen, glänzender oder schwächer, wie immer es beim Einzelnen sein mochte, daß die minder Begabten sich ermutigt fühlen mußten, und selbst diejenigen, welche vielleicht gleichgültiger und mühescheuer gewesen wären, eine gewisse Ehrenpflicht empfanden, dem Vertrauen des Meisters ihr Bestes entgegenzustellen. Setzte doch dieses Vertrauen schweigend voraus, daß er es in den jungen Leuten, welche seinen Einfluß suchten, mit lauter Persönlichkeiten zu tun habe, die aus ihren Anlagen das Höchstmögliche zu machen Willens seien.

Gemeine Naturen vermochten Rahde daher eine Zeitlang zu täuschen, seine Geduld hinzuhalten, aber allen solchen Komödien folgte regelmäßig ein Ende mit scharfer Ausweisung, was nicht hinderte, daß immer wieder in der Zahl der neukommenden Schüler einzelne vegetierten, welche sichere Anwartschaft auf einen ähnlichen Schlußeffekt hatten.

Eben vor der Pause hatte der Meister den Aktsaal verlassen, wo er ein neues Modell für die Woche gestellt und einigen Jüngeren Weisung für die erste Anlage gegeben hatte.

Auf dem Rande des Podiums, vom hoch herabfallenden Licht einer Kreisflamme kräftig beleuchtet, 13 saß das Modell, ein junges Mädchen, und ruhte aus. Es hatte beim Beginn der Pause ein Tuch von verschossener gelbgrüner Farbe notdürftig um sich geschlagen, während ihm das offene, hochrote Haar in welliger Flut über die unbedeckten Schultern fiel. Daneben hielt sich kameradschaftlich der lange Harkmer, ein Amerikaner, den Alle als den privilegierten Tollkopf und Spaßmacher der Schule ansahen. Er hatte seine mageren Beine lässig übereinander geschlagen und schälte phlegmatisch eine Orange, deren Fleisch er mit dem Mädchen teilte, während er die Schalenstücke mit der Virtuosität eines spiritistischen Taschenspielers, wie sie seine Heimat liefert, bald hierhin, bald dorthin auf einen Kopf oder an eine Nase dirigierte.

Bei jedem wohlgetroffenen Wurf lachte die Rote laut auf, mit jener gellen, näselnden Stimme, welche den Münchner weiblichen Modellen als Spezifikum eigen ist und bei den ersten Worten, die man von ihnen zu hören bekommt, einen Schluß auf das ganze Wesen solch' einer Persönlichkeit erlaubt.

Therese Pöntl war ein wohlbekanntes notwendiges Atelierübel für alle Maler, welche einen linienschönen Ansatz von Hals zu Brust und Schultern brauchten. Unter dem geradschulterigen, korpulenten Frauenschlag der bayrischen Hauptstadt war diese Partie eines Körpers äußerst selten in schöner Ausbildung 14 zu finden. Die Pöntl aber besaß mit ihren kaum vollen zwanzig Jahren eine feingliederige, große, schlanke Figur und war darum als Modell oft auf Wochen im voraus engagiert.

Bei diesem Beruf trug sie als richtige Dirne von Atelier zu Atelier die Dinge, die sie sah und hörte, und kolportierte von Schule zu Schule den Klatsch, den sie selber überall mit anrichten half. Ihre graugrünen Augen flimmerten wie die einer Katze unter dem tief in die Stirn herabgekämmten Rothaar hervor, wenn sie dem Maler, dem sie eben Modell stand, in den langen, stillen Stunden der Arbeit mit ihrer ganzen lastererfahrenen Klatschsucht berichtete, was sie in der vorigen Woche bei dem und jenem seiner Kollegen beobachtet oder selber erlebt hatte. Dabei vermochte sie dazustehen, viertelstundenlang, wie eine Bildsäule, und nur ihre nimmermüde Zunge und die rastlose Pupille unter den regungslos ruhig gehaltenen Wimpern arbeiteten fort und fort, wenn sie die ungeschmeicheltsten Porträts von abwesenden Gönnern entwarf.

Dem langen Harkmer in der Rahde-Schule schien sie wohlgeneigt; sie ließ sich die Orangenviertel von ihm Stück für Stück in den Mund schieben.

»Wo hast du gestern und vorgestern denn gesteckt?« fragte er sie, – er pflegte die Modelle, wenn sie jung 15 und leidlich waren, zu duzen, und eine Person wie die Pöntl erwiderte derlei Vertraulichkeiten mit Aplomb – »wir haben dich im Restaurant gesucht und am Samstag gewartet von Mittag bis halb zwei Uhr. Wir wollten wissen, ob du bestimmt von heut ab hier am Abendkurs stehen werdest.«

»Und ich kam erst gegen zwei Uhr,« sagte das Mädchen ärgerlich. »Ich war wieder bei diesem Moralt an der äußern Findlingstraße; da hält man ja keine Zeit ein! Aber der kann mir nachsehen für immer! Was man bei dem treibt! In die verstrecktesten Stellungen hat er mich gezwungen. Stundenlang haben wir probiert. Immer sollte ich – solch' ein Hirnblase! – in meiner Haltung die Sehnsucht ausdrücken. Er stellte mich. Jetzt so: hochaufgerichtet; jetzt so: vorgedehnt. Er legte mir die Arme, die Hände: so! – so! Ich sollte an etwas denken, sagte er dann, was ich längst zu erreichen wünschte, oder an jemand, bei dem ich sein möchte. Ein verrückter Kerl!«

»An wen dachtest du da?« fragte Harkmer und streckte ihr, wie höchst begierig zu hören, das Ohr ganz nahe hin.

»An dich gewiß nicht!« schrie sie ihm hinein.

Er zwinkerte zweifelnd mit dem einen Auge. Da warf sie ihm einen Orangenschnitz ins Gesicht. »Wenn ich dir's sage! Überhaupt war mir die Drandenkerei 16 zu fad. Das hörte ja gar nicht auf. Bald akt, bald mit Gewandung versuchte er zu erreichen, was er haben müsse. Es sei freilich möglich, das herauszubekommen, schimpfte er, bloß ich sei es nicht imstande; er habe genau vor Augen, was er wolle, aber ich stelle mich zu dumm! Der Narr!«

Harkmer zog die Augenbrauen in die Höhe und machte zu ihrer Erzählung ein gelangweiltes Gesicht.

»Jetzt kommt der schwarze Nicolo statt meiner dran,« – fuhr sie fort – »der eine von den drei Italienerbuben, dem Gelump!«

»Welcher heißt Nicolo?« fragte gleichgültig der Amerikaner.

»Der Älteste, der Zwanzigjährige, den Ihr letzten Winter als Ganzakt, rücklings daliegend, auf der Akademie gemalt habt!«

»Aoh!«

»Der Kerl macht ja mit seinen vier Gliedmaßen das verrückteste Zeug, das einer haben will! Wie er vorgestern kam und sich anbot, hieß ihn Moralt nur gleich so, in den Kleidern, einmal das probieren, was er ihm vorpredigte. Und wie es der nun machte und sich da hinstreckte und seine schwarzen Augen dazu verdrehte und sagte: ›I denken Italien Signore!‹ – war Moralt gleich ganz weg. ›Sehr schön! sehr schön!‹ Da konnte ich gehen, und dem Nickel hat er 17 für die nächsten paar Wochen alle Morgen und alle Nachmittage zugesagt.«

Sie warf gereizt mit der Hand die Haare von der Schulter zurück. »Die sollen jetzt miteinander ihre Sehnsucht herausbringen!«

Sie erhob sich und nahm vor Harkmer eine verspottende Pose an, indem sie die Hände mit ausgespreizten Fingern gegen die Decke streckte, die Augen verdrehte und auf Moralt anspielend, rief: »Denken Sie an etwas, denken Sie an jemand!« Der grüne Schal fiel ihr dabei vom Körper herab bis an die Hüften, wo sie ihn während ihrer erregten Rede unbewußt immer fester und fester umgewunden und geschlungen hatte.

Harkmer war derlei Ausbrüche von ihr gewohnt; sie interessierten ihn gar nicht mehr. Aber jetzt mußte er lachen über ihr Komödiespiel.

»Du siehst aus wie eine verhimmelte Venus von Milo, die Arme gekriegt hat!« sagte er, – »aber schimpfe doch nicht so viel und setz' dich wieder her; ich habe noch eine Orange!«

– Drüben an der Fensterwand hatte sich inzwischen eine Gruppe der jungen Künstler vor einem Reißbrett angesammelt, welches gegen die Wand gekehrt in der Ecke gestanden hatte und von einem Neugierigen herumgedreht worden war. Sie studierten 18 den darauf gezeichneten, halbfertigen Akt. Es war eine ausgezeichnete Arbeit, fein angeschaut und sicher gegeben. »Moralt« stand darunter.

»Warum kommt der eigentlich nicht mehr in die Schule?« fragte Einer.

»Er hat, wie ich merkte, zur Zeit ›Moralischen‹,« gab Holleitner zum Aufschluß, ein Österreicher von kleiner, schlanker Figur, der zunächst stand und als Freund Moralts galt.

Der Frager lachte zweifelnd.

»Einen Moralischen von der Art, ich versichere Sie, daß er seit einer Woche überhaupt kaum mehr sichtbar ist.«

»Einen Katzenjammer? Moralt? – da könnte ich gleich morgen meinen Malkasten in die Isar versenken, wo sie am tiefsten ist!« meinte nachdenklich und aufrichtig Äbi, ein Schweizer, der mit vierundzwanzig Jahren noch zu Rahde gekommen war, um Maler zu werden, und durch seine beinahe komische Ernsthaftigkeit in allen Dingen der Kunst mit der Zeit eine Art Respektsperson in der Schule geworden war.

»Wos Sie denken, Holleitner!« bemerkte achselzuckend Toni Podjenyi, – »hot er übérsponnten Ehrgeiz, sunst nix!«

Der Sprecher war ein schlechtbeleumdeter Ungar mit noch schlechterem, mühseligem Deutsch, den sie in 19 der Klasse seiner gelben Hautfarbe wegen das Umbragesicht hießen.

»Sind es – eh – gar nicht vier Johre fertig,« fuhr er fort, – »daß Moralt studiert; hot sehrr spät ongéfongén; wor ich schon – eh – zwei Johre hier; und hot der Mensch nun eigénes Atelier schon longé neben der Schule. Und jetzt will er malen eigénes Bild auch noch! hähä! Aber, – wos is am ollérbesten: wissen Sie, wos hot der Kerl für vérruckte Idee dazu? fegete kutja! will er malen ein Bild von Sehnsúcht!«

Der Ungar dehnte die zweite Silbe des Wortes singend in die Länge. »Ist Ihnen vielleicht vorgestellt Sehnsúcht? frug ich. Wie sieht sie aus?«

Noch einige weitere junge Leute waren herzugetreten, von dem Lärm angelockt; Podjenyi schrie immer, wenn er etwas behauptete. Jetzt brach der ganze Kreis in ein Gelächter aus; Einige sichtlich aus Schadenfreude, wie sie überall in Künstlerkreisen bei niedriger gesinnten Kollegen vorkommt, wenn Einer, den sie als bedeutender anerkennen müssen, etwas unternimmt, was zu einem recht gründlichen Mißerfolg zu führen verheißt, Andere wieder weniger auf Kosten des abwesenden Kameraden, als über Podjenyis berühmtes Deutsch.

Nur Äbi blieb stumm und rieb sich ungeduldig 20 seinen unwirschen, kurzen Bart. Auch Holleitner war stutzig geworden.

Das Gespräch hatte eine Wendung zum Spott genommen, die ihm peinlich war; er bereute, über Moralts Wegbleiben aus der Schule seine Vermutung geäußert zu haben.

»Ein Bild sollte er malen wollen? – und etwas von Sehnsucht?« wiederholte er fragend, als hätte er nicht richtig gehört. »Davon weiß ich gar nichts, Podjenyi! Ich habe zwar Moralt wochenlang nicht im Atelier besucht, aber ich sehe ihn außerhalb, und bevor er Andern derlei erzählen würde, hätten es wohl zuerst seine Freunde erfahren. Sie müssen wohl wieder schlecht Deutsch verstanden haben!«

»Oh! hob gonz gut Deutsch vérstonden!« gab der Ungar gereizt zurück, – »will er malen ein Bild, und will er malen die Sehnsúcht! kann man das schlecht vérstehen? Obér eine nette Aufgab, nicht wohr?« konsultierte er ringsherum, und sein hageres, in der Tat auffallend gelbes Gesicht mit der kühnen, gebogenen Nase und dem emporgedrehten pechschwarzen Schnurrbart nahm ein schlechtes, verbrauchtes Lächeln an. »Teremtette! ist sie männlich, weiblich, sächlich, diese Sehnsúcht? möcht ich wissen, – und ist sie rot, grün odér blau? Muß sie ›plein air‹ géhalten sein, oder ›braune Sauce‹?« 21

Und er fuhr, während er zum Sprechen beständig den Kopf hin und her wiegte, ebenso gewohnheitsgemäß wie nutzlos mit zwei Fingern ordnend zwischen Hemd und Hals herum. Seine steifen Modekragen waren unter dem gleißnerischen Deckmantel einer tadellosen, breiten Krawatte samt falscher Brillantnadel heimlich in stetem Konflikt mit dem losen Halsschluß seines zerrissenen Wollenhemdes.

»Ach, dieser Moralt ist ja komplett hinüber, das habe ich schon längst heraus!« meckerte, Podjenyis abschätzigem Urteil zustimmend, eine dünne Stimme: der kleine Herr von Paschke, ein talentloses, blutjunges Bürschchen aus Berlin, elegant, kränklich und verzogen, mit schwachem, gequetschtem Organ, aber ungeheurer Zungenfertigkeit, der als reicher Sohn die Kunst zum Sport gewählt und statt auf den Kontorbock beim Vater – der Himmel wußte wie! – in die Rahdesche Schule nach München geraten war.

Da fuhr Äbi auf.

»Ihr Senf hat grad' noch gefehlt!« rief er und schlug gleichzeitig mit seiner großen Hand dem bleichsüchtigen Paschke bekräftigend eins auf die Schulter, daß der ob solcher massiven Kameradschaftlichkeit ganz zusammenfuhr.

Die Heiterkeit schwoll angesichts dieser gesunden Replik abermals mächtig an in der jungen Schar. 22 Und während Einer das Reißbrett wieder gegen die Wand stellte, das den Disput veranlaßt hatte, und Andere sich über die Richtigkeit stritten, überhaupt Bilder zu unternehmen, bevor man sich reif fühlt, die Schule ganz zu verlassen, eiferten Podjenyi und Paschke sich weiter in die edle Bemühung hinein, die Idee und die Kühnheit Moralts lächerlich zu machen und seinen Mißerfolg vorauszusagen.

»Nur abwarten!« – tönte es da plötzlich in die Spötterei. Gelassen zwar, aber doch spürbar mit verhaltenem Unwillen hatte es Einer gesagt, der bisher abseits, dem Ungarn im Rücken, gestanden und Alles schweigend mit angehört hatte: Rolmers. Eines verstorbenen Seemanns Sohn aus Stavanger.

»Von wem haben Sie übrigens diese Ausplauderei, Podjenyi?« fragte er das Umbragesicht und sah ihm scharf in die Augen.

Die Andern hörten auf zu lachen; sie respektierten alle den Norweger hoch. Und wahrlich sah der schon in seinem Äußern nicht danach aus, als ob er mit sich spaßen ließe. Denn er war gewaltig groß und breitschulterig und hatte ein derbes, bloß etwas stark von der Luft der Malsäle gebleichtes Angesicht. Auf den ungemein sympathischen Zügen lag fast immer der gleiche, tiefsinnige Ernst, und man hatte von diesem Menschen sofort den Eindruck, daß er gut und 23 großdenkend sein müsse, aber durch die geringste Niedrigkeit in unberechenbare Wut zu bringen sei. Sein kurzes, trotzig gerades Haar, im Gesamtton blondbraun, hatte an den Schläfen in zwei Flammen das hellere Aschblond der früheren Jugendjahre bewahrt. Die enganliegende, graugestreifte Kleidung, die er trug, paßte zu seinem mächtigen Gliederbau wie eine vorübergehende Mummerei.

Auf den sagenhaften Schiffen der Wikinger in nebligen Nordlandsmeeren hätte seine Erscheinung wahrscheinlicher ausgesehen als in dem kosmopolitischen Mischmasch einer Münchner Privatmalschule.

Nur der kleine Berliner Kunstspörtler, der überhaupt nichts respektierte, als was er auf seiner eigenen Haut zu spüren bekam, ließ sich nicht einschüchtern, sondern legte, indem er vor Rolmers hintrat, den Zeigefinger an die Stirn und streckte ihn dann deutend nach dem Modell hinüber. Die Pöntl und Podjenyi waren alte Vertraute; was sie wußte, wußte er auch. Was war da lange zu zweifeln?

»Hm!« brummte Rolmers drohend. Er wandte sich von den Kollegen weg und schritt auf die Pöntl zu, die eben ihre bloßen Füße über das Podium herabstreckend, eine Reißschiene darauf balancierte und Harkmer die neulich gesehenen Kunststücke einer Akrobatin im Kolosseum erklärte. 24

»Sie verdammte Ratsche!« knirschte er sie an, daß sie zusammenschrak und das Holz fallen ließ, – »behalten Sie gefälligst für sich, was Sie von den Arbeiten in den Ateliers aufschnappen, verstehen Sie mich? Sonst will ich Ihnen eine Reihe von Kunden abspannen, daß Sie von heut auf morgen reinen Mund halten lernen, wenn Sie nicht hungern wollen!«

Die Rote erinnerte sich sofort, daß sie diesen großen Menschen vor einigen Tagen bei Moralt gesehen und gerade anläßlich seines Besuches mitangehört hatte, was Jener zu malen beabsichtigte. Und während Rolmers nun so dicht an sie herantrat, zog sie ihre Kniee langsam, wie in der Angst vor Schlägen, an den Leib und lehnte sich ganz an Harkmer zurück, daß ihr aufgelöstes Haar dessen Brust bedeckte.

»Was wollen Sie denn?« fragte sie halblaut mit frecher, aber bebender Stimme.

»Noch ein Wort von Herrn Moralts Arbeiten – und Sie fliegen für immer hier aus der Schule!« rief er zornfunkelnd. Dann drehte er ihr den Rücken zu. Der Amerikaner aß gelassen seine Orange weiter und sagte nichts.

Die Pause war zu Ende. Äbi, der Obmann der Klasse, drückte auf die Glocke. Die Pöntl stieg langsam auf das Podium, legte ihren Schal weg und 25 nahm ihre Stellung wieder ein. Ihr Gesicht war bleicher als ihr Leib, auf den eben eine mäßige Papierkugel flog – ein freundschaftlicher Gruß von Podjenyi. Sie lachte nicht. Der Blick, den ihr der große Mensch da zuletzt noch zugeworfen, war ihr in die Glieder gefahren. 26

 


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