Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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»Ist Ihnen zu kalt hier drin, Nicolo? Sie zittern ja!«

Das Modell schüttelte den Kopf und behielt ruhig seine Stellung.

Moralt sah an den Thermometer. 15° Reaumur – und Nicolo saß doch heute in den Kleidern!

Eine Weile arbeitete er weiter. Neben dem großen Bild, auf einer leichtern Staffelei, stand die Studie seines eigenen Kopfes von Rolmers. Moralt war mit der Änderung des Mundes beschäftigt. Eine heikle Arbeit, die seinen ganzen Menschen in Anspruch nahm, bei der er eigentlich mehr mit der Empfindung, als mit der Sicherheit der Hand malte, so ganz mit der Empfindung, daß, während er jetzt an der Mundspalte die feine, fast in nichts, in einer unmerklichen Biegung der Linie, in einem kaum wahrnehmbaren höheren Licht bestehende Ausladung der Lippe zu modellieren bestrebt war, er unbewußt selber den Ausdruck annahm, den er dem Antlitz vor ihm zu geben sich bemühte. Er prüfte, prüfte nach jedem kleinsten Ansetzen des Pinsels mit blinzelnden Augen, setzte 296 nur nach reiflichem Vorbedacht wieder Farbfleckchen neben Farbfleckchen.

Es schien doch zu werden; es kam jetzt langsam; er wagte leise zu hoffen, seitdem unter diesem beständigen angestrengten Vergleichen und Herausstudieren aus der Studie da und aus Nicolos Zügen, dieses peinlich vorsichtige neue Hineinmalen in den zwei letzten Tagen anfing, jene geistige Schönheit in dem Kopf hervorzurufen, nach der er vorher so lange vergeblich gerungen hatte. Am Auge und im Mund – da lag die große Arbeit, die noch zu tun war; und wie sie zu tun war, das fühlte er jetzt auch.

»Ein wenig links! – ein wenig den Kopf höher!« deutete er dem Italiener mit einer Bewegung des Kinns.

Draußen trieb mit Schnee und Regen ein Unwetter vorbei, doch ward es nicht dunkel. In die tiefe Stille des Ateliers sang leise der Wind. Eine rechte Stimmung zum Arbeiten.

»Aber Nicolo! so sagen Sie doch, wenn ich mehr feuern soll!« unterbrach der Maler plötzlich abermals das Schweigen. »Ich sehe es ja, daß Sie frieren!«

Jetzt ließ sich der Bursche aus seiner Stellung zurücksinken, die er bisher mit größter Anstrengung noch erzwungen hatte, und sogleich schüttelte er sich auch heftig in einem Frost. Nun erst sah Moralt, daß der Italiener ja ganz blaß und elend im Gesicht war. 297

»Ist Ihnen unwohl?« rief er erschrocken.

Nicolo bemühte sich zu lächeln; aber das gewaltsame Schütteln seiner Schultern, das Klappern seiner Zähne verriet, daß er schon allzu lange sich bezwungen.

Sofort holte ihm Moralt ein Glas Rum und hieß ihn das auf einen Zug leeren. Aber es half nur auf einen Augenblick; Nicolo war nicht mehr imstande zu stehen.

»Sie müssen nach Hause und sogleich zu Bett,« rief der Maler und sandte die Hausmeisterin nach einem Wagen. »Ich mache Ihnen zuvor eine Tasse Tee!« tröstete er den armen Burschen, der ganz erschrocken auf dem Rande des Podiums beim Ofen saß und schlotterte.

In der Ecke hinter der spanischen Wand, wo der Teekessel stand, begann Moralt eifrig zu hantieren.

»Haben Sie denn zuvor noch nichts gespürt? Kam das so plötzlich?«

»Erst wenn Signore haben fragt!« erwiderte Nicolo trübselig.

Moralt schüttelte den Kopf. Während er darauf den Tee anziehen ließ, betrachtete er heimlich hinter der Wand hervor das bedenkliche Aussehen, das immer wiederkehrende Zittern Nicolos. Was war da zu tun? Was konnte dieser plötzliche Anfall sein? 298

»Ich gebe Ihnen noch Tee und Rum mit nach Hause,« sagte er schließlich, – »da machen Sie sich eine weitere Tasse voll, bevor Sie zu Bett gehen und trinken sie heiß, verstehen Sie? heiß! Dann werden Sie tüchtig schwitzen können, und morgen komme ich vorbei. Vorher stehen Sie nicht auf, hören Sie? Sonst werden Sie ernstlich krank! Sie sind stark erkältet!«

Nicolo nickte, mit seinem Blick eines treuen Hundes. Er fühlte sich ganz zerschlagen; er ließ Alles mit sich geschehen. Der Maler mußte ihm den Radmantel umhängen, die Pelzmütze aufsetzen, ihn in den Wagen packen; so vollständig war er innerhalb einer Viertelstunde gleichgültig geworden.

Und am folgenden Tage blieb Moralt nichts übrig, als für die sofortige Verbringung des Burschen ins Krankenhaus zu sorgen. Eine Lungenentzündung war ausgebrochen, und Giuseppe, der zweite Bruder, saß heulend am Bett, während der Kleine in seine Sitzung geschickt worden war.

Die Stube im vierten Stock eines düsteren Hauses an der Schleißheimerstraße, in welcher die drei Brüder hausten, war ein unmöglicher Aufenthalt für einen Schwerkranken.

Mit Hilfe der Zimmervermieterin, die sich als eine gutmütige alte Person erwies und über das 299 Krankenhaus Auskunft wußte, und des Jüngern, der sogleich die nötigen Gänge tun mußte, brachte es Moralt dahin, daß Nicolo im Laufe des Morgens noch abgeholt wurde.

Jetzt kehrte er nach der Findlingstraße zurück.

Das Mitleid mit dem Fiebernden, der unter heftigen Stichen beim Atmen beständig stöhnte, und von dem er nicht sicher gewesen war, ob er seine Antworten mit vollem Bewußtsein geben konnte, der Einblick in die armselige Behausung und in das dürftige Leben dieser Brüder hatte ihn so beschäftigt und erfüllt, daß er erst beim Betreten seines Ateliers den ganzen Schrecken über den Schlag verspürte, der ja für ihn selber in dem plötzlichen Ereignis lag. Aber jetzt überkam ihn dieser Schrecken auch mit solcher Macht, daß er wie zusammengeschmettert mitten im Raum stehen blieb, den Hut noch auf dem Kopfe, und mit Entsetzen immer nur die eine Frage wiederholte. was nun? was nun?

Der Nachmittag war ein ununterbrochenes Hin- und Hersuchen nach Möglichkeiten, die Arbeit fortzusetzen. Aber wie denn war das denkbar? Gerade in diesem wichtigsten Stadium des Bildes, jetzt, wo er nur mit dem gleichzeitigen Benutzen aller ihm zu Gebote stehenden Mittel diese letzte, die ausschlaggebende Ausarbeitung, die eigentliche Vollendung 300 durchzuführen vermochte! Die Arme, die Beine, der Hals, die Gewandung – das Alles war so weit, daß schließlich die Möglichkeit bestand, diesen Partieen auch ohne weiteres Benutzen des Modells die letzte Hand angedeihen zu lassen. Aber der Kopf? Nicht dran zu denken! Der verlangte noch die subtilste Arbeit mehrerer Wochen, und die Hand mußte ebenfalls nach Nicolos Hand sich richten können; mit den Skizzen von Rolmers allein war nicht auszukommen.

Als es dämmerte, saß Tino noch immer da und sann und sann. Über die Arbeit drüben legten sich die Schatten des Abends.

Sollte jetzt, da es geschienen, als wolle trotz Allem und Allem das Werk sich endlich zum Gelingen wenden, die ganze bange Zeit der Kämpfe doch noch ein Ende mit Jammer nehmen? Welche Lösung er auch finden mochte, um ohne Nicolo fertig zu werden, – zu seiner eigenen Befriedigung konnte sie nie führen! Was Andere vielleicht nicht sehen würden, er selber mußte es immer in dem also, erzwungenerweise, vollendeten Bilde fühlen: das Flickwerk, das Steckengebliebene, dies Scheitern am letzten, höchsten Aufschwung. Sah er doch heute noch, er allein, was kein Anderer je bemerken konnte: daß die Ferne trotz ihrer wiedererlangten Kraft nicht den sehnsüchtigen Zauber besaß, der einem Künstler hätte gelingen müssen, 301 welcher das Übrige so mächtig zu stimmen vermochte, und den sie einst auch besessen, bevor er sie verdarb. Solche Stellen sind einem Künstler wie Wunden, die wohl vernarbt, überwachsen sind, für sein eigenes Empfinden jedoch nie wieder mit dem Ganzen in einem Stück und Guß zusammenhängen. So mußten, falls Nicolo nicht mehr zu haben war, gerade die wichtigsten Partien für ihn auf immer zu solchen Wunden werden, zu Schäden, die zu heilen er nicht die Macht besaß.

Er schrieb wieder an Rolmers. Einen verzweifelten Brief. Er brauche seinen Rat, seinen Beistand. Als der Freund unverzüglich erschien, stand die Staffelei mit dem Bilde frei im Atelier.

Unter andern Umständen als denen dieser Stunde, würde Rolmers in stolze, freudige Worte ausgebrochen sein. Heute betrachtete er das Werk stumm, in großer Bewegung, lange Zeit. Dann sagte er mit ruhiger Wärme: »Du darfst mit dir zufrieden sein, dein Ringen ist belohnt!«

Moralt, der hinter ihm saß und zu Boden geschaut hatte, erhob langsam den Blick; die Worte gingen nicht ohne wohltuenden Eindruck vorüber, aber er war unfähig, darauf einzugehen.

»Und nun?« fragte er nur dumpf.

»Was so weit ist,« rief Rolmers zuversichtlich, – 302 »wie sollte das nicht auch zu Ende kommen! Sieh, mir macht der Kopf einen großen Eindruck allein schon wie er jetzt ist, und was da noch gewollt ist,« – er duckte sich, um das Licht schräg über die Leinwand fallen zu sehen, und deutete auf die zwei zuletzt gemalten, eingeschlagenen Stellen am Mund und am Auge – »verstehe ich vollkommen, wenn ich die Skizze deines eigenen Kopfes daneben halte.

Wenn es nun auch unendlich viel heikler ist, dies ohne Modell vor Augen noch hineinzubringen, so scheint es mir doch im äußersten Falle keine Unmöglichkeit zu sein.«

Moralt machte eine heftige Bewegung der Abwehr. »Ein Anderer mag es können, ich kann es nicht! Ich habe mich kennen gelernt! Alles würde ich verderben, wenn ich mich da dranwagte, wo ich doch von vornherein ans Gelingen nicht glaube.«

Rolmers sah auf den eingetrockneten Farben des Gewandes und des Steines jetzt auch die nasse Hand glänzen.

»Und hier,« fragte er, »willst du da auch noch weitergehen?«

»Natürlich! ich habe ja kaum begonnen, in die bloße Modellhand das Meinige hineinzubringen.«

»Du willst viel, wahrhaftig sehr viel, lieber Freund! Ich für mich, kann mir so vollauf genug aus 303 dieser Hand nehmen. Aber allerdings, ich kann nur für mich sprechen. Du, für dich, mußt selbstverständlich bis zum letzten Strich tun, was du bedarfst!«

Moralt war auch vor die Leinwand getreten und versuchte, mit dem objektiven Blick, den ein Neuhinzukommender wie Rolmers haben mußte, sich einen Eindruck zu verschaffen. Aber es gelang ihm nicht. Er sah eben, was er sah; er, der Maler, der zugleich das innere Bild vor Augen hatte und aus dem Geschaffenen alle Schwächen kannte. Er setzte sich wieder hin.

»Was bleibt mir jetzt übrig, sag' es selber, lieber Rolmers, als meine Hände in den Schoß zu legen und in diesem scheußlichen Zustand von Hangen und Bangen abzuwarten, ob über dem Werke das Verderben oder der Sieg beschlossen ist.«

In seinen Augen loderte plötzlich etwas empor, und noch ehe der Norweger erwidern konnte, war Moralt aufgesprungen und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Aber nein! und tausendmal nein! Es wird nicht und kann nicht sein, daß ich das stecken lasse. Um äußerer Umstände willen – ha!« – er lachte, daß es dem Andern in die Seele schnitt, – »stecken lassen, was ich einmal so weit gebracht? Nie! Diese plumpen, traurigen Zufälligkeiten sollen mich nicht zuletzt noch zum Kapitulieren bringen, 304 nachdem ich so lange aufrecht geblieben bin! Ich warte. Ich warte! Und wenn es ganz schlimm geht und Nicolo stirbt, dann allerdings weiß ich, daß ich nur noch mich selber zum Anhalt habe, und dann treib' ich es eben, soweit ich es treibe. Lieber kaputt gehen an dieser Aufgabe!« schrie er, und zwei Tränen der Wut quollen ihm aus den Augen, – »als daß ich mich jetzt noch so elend um die Genugtuung bringen lasse: wenigstens zu Ende geführt zu haben, so lange meine Kraft reichte, was ich mir einmal vorgenommen!«

Mit Mühe vermochte Rolmers ihn zu beruhigen und durch verständnisvolles Darlegen der Sache endlich dahin zu bringen, daß er sich zu jedem möglichen Ausgang dieses betrübenden Verhängnisses Stellung schaffte und schließlich gefaßt erschien, so oder so, nach der Entscheidung von Nicolos Krankheit die Beendigung des Bildes in die Hand zu nehmen.

Was Rolmers aber an diesem Abend aus dem ganzen Reden und Gestehen des Freundes herausfühlte, war angetan, ihn ernstlich besorgt zu machen. Man konnte es ernst nehmen mit den Ansprüchen an sich selbst, man konnte elende Stimmungen durchmachen während der Entstehung eines Werkes, gewiß! Aber derart monatelang in innerer Gedrücktheit zu verharren, das mußte für Jeden zu viel werden, wie 305 sehr erst für Moralt, der so sensibel war wie von ihnen Allen kein Zweiter.

In großer Unruhe verließ der Norweger spät das Atelier. Er war entschlossen, sobald das Bild wirklich seine Vollendung erlebt hätte, Moralt mit Gewalt auf einige Wochen aus München fortzutreiben. 306

 


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