Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Der Sommer verging, der Herbst. Die kalten Nebeltage waren da und wehten ihre grauen Schleier über die Stadt. Früh und rauh waren sie diesmal ins Land gegangen und hatten die Münchner Künstlerschaft schleunig, von einer Woche zur andern, aus ihren bekannteren und versteckteren Sommeraufenthalten in die Hauptstadt zurückgetrieben. Die Fenster der Ateliers, die monatelang verstäubt und trüb geblieben waren, glänzten wieder mit klargewaschenen Scheiben; die Akademie und die Malschulen waren eröffnet; die Universität hatte ihr Semester begonnen. Die Straßen des Nordens zeigten wieder ihren lebhaften Verkehr: Maler, Studenten, Polytechniker, Kunstgewerbler; Bummler, elegante und schäbige; im ganzen Quartier neue Gesichter und neue Erscheinungen die Menge, an denen die Altansässigen herumstudierten, welche von den vielen Anziehungskräften Münchens sie wohl bestimmt haben mochte, ihren Winteraufenthalt da zu nehmen. Auf den Trottoirs alle Augenblicke Begrüßungen von Zurückgekehrten, vor allen Haustoren und Dachrinnen, wo 98 Zettel mit Mietsanzeigen klebten, lesende Fremde, und droben in den Wohnungen bereits die behagliche Wärme der Ofenfeuer; – München winterte sich ein.

Von seinem Schreibtisch aus sah Tino Moralt zu Ende Oktober die ersten Flocken an den Fenstern vorbeifliegen, den ersten Schneesturm über den Koloß der neuen Pinakothek hinwehen.

Seine neue Wohnung war nun eingerichtet, wie er sie brauchte zum ruhigen Schaffen; er teilte seine Zeit in das Studium zu Hause und in den Besuch einzelner Vorlesungen an der Universität. In einer der ersten Zeitschriften war im September- und Oktoberheft eine Serie kleinerer Arbeiten von ihm erschienen, Augenblicksblätter, die als Äußerungen einer eigenartig tiefen dichterischen Persönlichkeit die Aufmerksamkeit des besten Teiles im Publikum erregt hatten.

Bei seinen Freunden hatte er damit einen Erfolg erlebt, der ihm ermutigend war. Und auch als das, was es ihm selber hatte sein müssen: – eine Übung, sich für Stimmungen und starke Eindrücke, welche nicht Beiträge zu größerem Werk werden konnten, einen künstlerischen Ausdruck zu schaffen – sowie endlich als erstes Schaffenszeichen des zurückgetretenen Malers für die Fernerstehenden, hatte es auf das Erwünschteste seinen Zweck erfüllt. Eine gewisse Beruhigung war 99 dadurch in Moralt gekommen und die Fähigkeit, geduldig Weiteres abzuwarten.

Jetzt zwang er sich zu der Klugheit, vorderhand nicht mehr von sich zu verlangen, sondern die Pläne zu Größerem, was in seinem Innern keimte, reifen zu lassen. Er lebte dem innerlichen Werden seines ersten Buches, das die Geschichte eines in Paris zugrunde gegangenen Freundes behandeln sollte, dessen Geschick tief in Moralts Seele gegraben stand. Das Schicksal eines gemütstiefen deutschen Jugendfreundes, der seine Kraft zum Leben daran eingebüßt hatte: daß er dem eigenen Ich unter den verführerischen Eindrücken einer ihm total neuen Welt, wie Paris, untreu geworden war. Gewaltsam untreu, mit Verstandesgründen, die der einen Hälfte seiner Natur bequem waren, während sein Gewissen doch das alte blieb und nach jedem Sieg, den seine neue Lebensanschauung über sein altes Ich davongetragen, sich wieder regte und rächte, bis er im Gefühl, sein bestes Selbst verloren zu haben, und in der Erkenntnis, daß es für ihn kein Rückwärts mehr gebe, am inneren Zerfall tragisch unterging.

Zur Einkleidung dieses Knochengerüstes der Handlung und der psychologischen Entwicklung in Fleisch und Blut der äußeren Umstände, ließ Moralt seinen Gedanken und seiner Phantasie nun vollauf freie Bahn 100 und ging, den Stoff seines Romans in Kopf und Herzen, ohne Hast, sammelnd und bauend umher. Das Skizzieren einzelner Kapitel, sowie die Bereicherung, die er aus den Vorlesungen heimbrachte, gewährten ihm in diesen ersten Winterwochen ein Gefühl, wie er es lange nicht mehr gekannt: ein Gefühl der täglichen Pflichterfüllung und des Wirkens an etwas, was mit gutem Gelingen enden konnte.

Als ihm nach einiger Zeit seine Vorarbeiten nicht mehr genügten, unternahm er, um sich recht in die Atmosphäre von Paris zurückzuversetzen, die Übersetzung einzelner besonders interessanter Kapitel aus Goncourt, Zola und Loti, deren Schwierigkeiten ihn reizten. Er hegte von je einen wahren Abscheu vor der landläufigen, ungefähren Übersetzerei dieser Literatur, deren nicht geringster Reiz ja in der Charakteristik der in den jeweiligen Umständen geführten Sprache und in der Kunst jener Autoren lag, beim Leser intensiv das Empfinden des besonderen Milieus zu erwecken, in dem die Handlung sich eben abspielte. Einzig durch eine möglichst sorgfältige Übertragung dieser Eigenschaften in die andere Sprache konnte für den deutschen Leser der wahre Genuß an der Kunst der modernen französischen Romanciers zustande kommen. Diese zu lesen, war aber in den letzten Jahren nachgerade das Bedürfnis der ganzen jungen und auch 101 eines großen Teils der älteren Künstlerschaft Münchens geworden, ja, es hatte sich eine Begeisterung dafür verbreitet, die im weniger künstlerischen Publikum vielfach als eine Unterschätzung der eigenen Dichter und als verwerfliche Anbeterei des Fremden mißbilligt wurde. Trotzdem hatte gerade Moralt als einer der Eifrigsten immer wieder das eigenartig Vortreffliche jener zeitgenössischen Franzosen empfohlen, das er in seiner anregenden Kraft selber so dankbar genoß. Deswegen fühlte er sich seiner deutschen Bildung, der er wohlbewußt sein Bestes verdankte, so wenig untreu, als irgend einer jener Pedanten, welche sich puritanisch von allem welschen Einfluß fernhielten.

Mit seinem künstlerischen Gefühl für das Wesen der französischen Sprache, mit seiner Kenntnis von Paris, und dem gewissen besondern Instinkt für jene Atmosphäre, der sich nur durch das längere Leben an Ort und Stelle entwickeln läßt, – welche Vorbedingungen alle ihn den französischen Autor vollkommen erfassen, dessen Schöpfung in ihm lebendig dastehen ließen, – ging er daran, vorab solche Partieen, welche feinste psychologische oder hervorragende künstlerische Schilderungen enthielten, so zu übersetzen, daß sie, deutsch gelesen und mit deutschen Vorstellungen aufgenommen, so annähernd und so charakteristisch wie irgend möglich dem 102 Leser das Gleiche sagten, was der fremde Schriftsteller in seiner Sprache und mit seinen Bildern gesagt hatte.

Mit der Zeit hoffte er solcherweise die Kunst zu erlangen, welche nötig war, um einmal das eine oder andere bedeutende Buch, das nicht allzu ausschließlich französisch wäre, um überhaupt als Ganzes glücklich übertragen werden zu können, vollständig zu übersetzen und neben das Diktionär-Handwerk, das im Allgemeinen getrieben wurde, einmal eine wirklich künstlerisch durchgeführte Arbeit zu stellen.

In diesen heikeln Übungen, deren Ergebnisse Rolmers regelmäßig durchlas, bewies Moralt zu des Norwegers großer Bewunderung jene undefinierbare, unaussprechlich feine Geisteskraft, welche man die Intelligenz der Nerven nennen möchte; welche mit dem schärfsten Verstand nicht zu ersetzen, mit der größten Feinfühligkeit nicht zu erreichen, eines der wunderbarsten Phänomene der Künstlernaturen und sozusagen deren Monopol ist. Einzig diese besondere Gabe vermag oft die nötige glückliche Umschreibung einzugeben, während die gründlichste Sprachkenntnis es nicht imstande ist, ebensowenig wie die Klarheit des Bildes an sich, welches, in der einen Sprache vom Übersetzer vollkommen begriffen, nun auch in die andere zu übertragen wäre.

Ein Gefühl der Zufriedenheit lohnte an manchem 103 Abend die Bemühungen Moralts, sich in dieser schwierigen Arbeit genug zu tun, – die ja auch Produktivität in gewissem Sinne nicht ausschloß. Indem er seine Tage, seine Wochen mit solch' mannigfaltiger Tätigkeit ausfüllte, kam auch wieder eine gleichmäßigere Stimmung in ihn, und er vermochte sein Inneres eine Zeitlang in einen so wohltätigen Schlummer zu wiegen, wie es bisher noch nicht gelungen war. Denn wenn auch seit dem Sommer sein Leben den Anschein geboten hatte, als sei mit dem Aufenthalt im Gebirg eine neue, von guten Hoffnungen in die Zukunft erheiterte, durch das völlige Begraben der Erlebnisse als Maler ruhig gestaltete Periode eingetreten, so war in seinem Innern doch die Last schwer genug geblieben.

Das wilde, gierige Leben zu führen, das er sich in jener schwülen Sommernacht geschworen, das ihn entschädigen, gewaltsam zerstreuen, lebenslustig machen sollte – hatte er nicht vermocht. Er war in Allem längst zu bewußt, als daß er es fertiggebracht hätte, sich gedankenlos dahineinzustürzen. Ein Mensch wie er konnte nicht mehr, was ein unbewußter oder leichtblütiger Junge kann. Abenteuer der Sinnlichkeit aber, die erst Zeit bekamen, ein Gegenstand bewußten Trachtens zu werden, mußten einer vornehmen Natur wie der seinen peinlich werden. Auch brachte er es nicht über sich, mit einer plötzlichen sichtlichen Annäherung an 104 die libertinischen Kreise, denen er bisher ferngestanden, das Schauspiel eines jungen Mannes zu bieten, der mit dem Zusammenbruch künstlerischer Hoffnungen auch menschlich kapituliert. Das Empfinden aber, daß dies der Schein sein müßte, drängte sich ihm auf, so oft er sich zurechtlegte, ob er sich nicht der Resemann'schen und Valentin'schen Bande enger anschließen sollte.

In dieser Zeit ein günstiger Zufall im Stillen – und er hätte vielleicht auch ein Leben gelebt, wie so viele Andere um ihn her. Aber dieser Zufall blieb aus. Aus ästhetischen Gründen – genau besehen – mehr als aus moralischer Kraft war die Änderung in seiner Lebensführung nicht eingetreten. Die alte Bitterkeit, wenn sie in einzelnen Stunden durchbrach, ließ ihn sogar höhnen über jene moralische Kraft, und er fühlte ein grausames Bedürfnis, alle Anwandlungen zu verlachen, welche ihm den Stand der Dinge eben doch als Frucht tieferer Überzeugung und nicht als bloße Folge des Zufalls bewußt zu machen suchten.

»Zufall, nur Zufall!« redete er sich dann ein, gleichsam als wollte er sich vor sich selbst auch für die Folge noch alle Wege offen halten.

In dieser Verfassung, allzeit auf dem Sprung sich ins Leben zu stürzen und doch nie imstande, es zu tun, hatte er den Sommer verbracht, in dieser 105 Verfassung lebte er noch jetzt. Wie bei den meisten Künstlernaturen waren eben auch bei ihm die Stimmungen zwar leidenschaftlich stark, doch nicht lange ausdauernd, und er ertrug oft morgen mit Ruhe das eingetroffene Gegenteil von dem, was er heute um jeden Preis ertrotzen zu müssen glaubte. Und so kam er auch mit den gewaltsamsten Anläufen zu wildem Leben menschlich nicht über sich selbst hinaus,– mit bessern Worten: nicht unter sich selbst hinab.

Die Freunde, denen er in den Sommermonaten oft sonderbar vorgekommen war, bald unwahrscheinlich leichtgestimmt, dann wieder tageweis gesellschaftsscheu, sahen mit Beruhigung sein jetziges ausgeglicheneres Wesen.

Rolmers hatte nur eine kurze Erholungsreise gemacht und arbeitete seitdem an seinem Bild. Mit dem Selbstvertrauen einer starken Natur und der Seelenruhe eines Menschen, der sich nach geduldiger, jahrelanger Übung endlich im vollen Besitz alles nötigen Könnens weiß, stand er vor seiner großen Leinwand, die auf einer morgendlich brauenden nordischen Heide einen körpergewaltigen Jäger zeigte, der seinen jungen Sohn den Bogen spannen und nach den Wandervögeln schießen lehrte. Etwas Sagenhaftes lag über dieser Darstellung zweier Menschen aus dem Urzustand, ein herber Zauber, welcher Rahde 106 und die Freunde schon von diesem ersten Werke des Norwegers einen entscheidenden Erfolg voraussehen ließ.

Holleitner war im Spätherbst, nach ausgiebiger Studienreise mit Lanz, von der holländischen Küste heimgekehrt, und der wackere Schweizer seinerseits verzeichnete einen neuen Schritt vorwärts, indem die Ausstellung seines Frühlingszuges ihm durch Vermittlung seines Gönners einen neuen, größeren Auftrag gebracht hatte, so daß er für den Winter beschäftigt und einer reichen Einnahme gewiß war. Über alles Erwarten schnell sah er mit dem glücklich vollbrachten Auftrag für Frau von Hauser den bedeutsamen ersten Schritt getan, der zum Bekanntwerden und zu weitern Bestellungen führt. Auch die Kritik hatte ihn ausgezeichnet. Er behauptete, sich in einer völlig neuen Haut zu fühlen.

Es war überhaupt in diesem Winter in ganz München ein frischer Zug zu spüren, ein Zuströmen von Künstlern und jungen Talenten von allen Seiten, ein gesteigertes Leben und Ringen, welches anregend und ermutigend auch auf alle Strebsamen unter den einheimischen Künstlern wirkte, während die alte Garde jener Sattelfesten, von denen Jeder seit Jahren sein Rezeptchen wieder und wieder malte und längst übrig genug gelernt zu haben sicher war, sich vor 107 diesem hereindringenden neuen Luftstrom mit Grollen und Fauchen, wie Eulen in ihre Höhlen, zurückzog.

Inmitten dieser frohbewegten Atmosphäre gestaltete sich das Leben der vier Freunde anregender als je zuvor. Man sah sich da und traf sich dort, und einen Augenblick schien es, als vermöchte sogar Moralt, von den innern und äußern Umständen dieses Winters unterstützt, jenen Ton wiederzufinden, welcher früher Allen den Verkehr mit ihm so lieb gemacht hatte und der dann so lange verloren gewesen war. 108

 


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